Auf dem Weg zur Routineanwendung muß Edifact noch Kinderkrankheiten ausheilen:

"Wenn Datenaustausch mit Kunden, dann über Edifact"

02.12.1988

EDIFACT

Edifact steht für Electronic Data Interchange For Administration, Commerce and Transport. Der Standard für den Austausch von Handelsdaten wurde im September 1987 als ISO-Norm 9735 verabschiedet.

"Edifact ist ein Standard der Superlative." Mit diesen Worten lobt Heiko Mehnen, Geschäftsführer der Gesellschaft für Logistik und Informationssysteme, stellvertretend für viele, die kometenhaft am ISO-Himmel aufgetauchte Norm für den Austausch von Handelsdaten. Aber die Pilotprojekte beweisen: Noch ist nicht alles Gold, was glänzt. In der Praxis ist auf dem Konto dieses Senkrechtstarters noch einiges als Lehrgeld zu verbuchen. Vier Probleme nämlich bereiten den Anwendern derzeit noch Kopfzerbrechen: die Festlegung der Message-Strukturen, die Konvertierung der internen Daten in die Edifact-Syntax, die Wahl des Netz-Protokolls und - last but not least - zu wenig Information über Edifact.

Wer sich in deutschen Landen auf die Spur von Edifact begibt, findet diesen ISO-Standard bisher fast nur in den großen Unternehmen. Mehnen schätzt, daß in der Bundesrepublik derzeit immerhin 40 bis 50 von ihnen an der Einführung dieser Norm arbeiten. Nur wenige jedoch haben bisher das Stadium eines Pilotprojektes überschritten.

Allerorten ist von Testphase die Rede, und als terminliches Damoklesschwert für den Beginn des Produktivbetriebs schwebt häufig der 1. Januar 1989 über den Köpfen der Projektleiter. Mit dieser Frist haben sich die Unternehmen ein ehrgeiziges Ziel gesteckt, denn "jetzt müssen wir die Edifact-Syntax mit Inhalten füllen", erklärt Harald Nottebohm, Leiter der Abteilung Kommunikation im Bereich I. und K. der Hoechst AG.

Damit ist eines der Probleme angesprochen, mit dem die Edifact-Willigen derzeit zu kämpfen haben. Nicht die Norm selbst bereitet Schwierigkeiten, sondern die exakte Realisierung ihrer Syntax. Edifact wurde im September 1988 als ISO-Norm 9735 verabschiedet, an der vorläufig nichts mehr verändert wird. Dazu Mehnen: "Die Norm ist fest eingefroren. Sie gibt die Struktur vor, in der Handelsnachrichten übermittelt werden. Jetzt geht es um die richtige Anwendung, denn die Norm allein ist nicht nutzbar ohne die dafür kreierten Messages, wie zum Beispiel Bestellung, Rechnung, Lieferabruf oder Lieferschein."

Für die Spezialisten in den Unternehmen heißt das, Messages zu entwickeln, die sowohl alle Handelskriterien der Branche abdecken als auch die Edifact-Syntax erfüllen. Damit nun nicht jeder sein eigenes Message-Süppchen kocht und am Ende ein heilloses Nachrichten-Tohuwabohu entsteht, haben sich einige Branchen jeweils europaweit zu Pilotprojekten zusammengeschlossen. Beispiele dafür sind die Projekte "Odette" in der Automobil-, "Cefic" in der Chemie-, "Edifice" in der Elektronikindustrie sowie "Cost 306" im Speditionswesen.

Um nun in dem branchenspezifischen Message-Salat den Überblick zu behalten, wurden außerdem Arbeitsgruppen ins Leben gerufen. Sie zeichnen verantwortlich für die Entwicklung Edifact-gerechter Nachrichten. Gefordert sind laut Mehnen alle Branchen, von den Banken bis hin zum Zoll. Derzeit, so der Experte, seien in Europa rund 50 unterschiedliche Message-Typen in der Entwicklung oder lägen zum Teil als Draft vor.

Auf die Automobilindustrie entfallen davon laut Wolfram Gallasch, zuständig für den externen Nachrichtenverbund im Bereich Informationsstrategie und -konzepte bei der Volkswagen AG, 24 abgesprochene, gültige und veröffentlichte Nachrichten. Überhaupt dürfte den Fahrzeugherstellern die Umstellung auf Edifact leichter fallen als anderen Industrien. Das bestätigt auch Gallasch: "Wir haben einen kompletten Nachrichtensatz, der für Edifact reif ist, weil wir ihn schon im VDA (Verband Deutsche Automobilindustrie) benutzt haben und durch die Just-in-Time-Produktion auf elektronische Datenübermittlung angewiesen sind. Als es mit Edifact ernst wurde, haben wir unseren Datenelementkatalog einfach an die neue Syntax angepaßt."

Doch nicht nur in der Automobilbranche, auch in anderen Industriebereichen wird fieberhaft an den Message-Strukturen gearbeitet. Der Grund liegt auf der Hand. Jede Branche hofft im weltweiten Wettlauf der Standardisierung von Edifact-Nachrichten, die Nase vorn zu haben. Das Prinzip ist denkbar einfach und lautet: Wer zuerst kommt, malt zuerst. Im Klartext heißt das für Gallasch: "Wer von Beginn an in den Kommissionen dabei ist, der kann auf die Prägung der Datenelemente Einfluß nehmen."

Aber warum einigen sich nicht alle Industriezweige auf eine einheitliche Message? Auf diese Frage antwortet der Edifact-Beauftragte von VW: "Der Traum von einer Standard-Message, die jedermann überall benutzt, ist Kokolores, weil die meisten Unternehmen nicht die gleichen Datenbasen haben". Aber, so Gallasch weiter: "lm Laufe der Jahre wird sich langsam eine Angleichung der Datenbestände ergeben."

Schwierigkeiten mit Nachrichtenelementen hat momentan auch Martin Wittauer, Organisator für Grundlagenorganisation bei der Standard Elektrik Lorenz AG (SEL). Das Unternehmen fährt zwar parallel zum Papierbetrieb eine Edifact-Routineanwendung bei der Bestellung elektronischer Komponenten, ist aber momentan in Sachen Edifact ins Stocken geraten. Zum Leidwesen des DV-Experten ist bisher nur die Nachricht "Rechnung" normiert, nicht aber "Bestellung" und "Auftragsbestätigung".

Ursprünglich sollte die Message "Rechnung" laut Wittauer im Juli verabschiedet werden, doch konnten sich die Europäer und die an ANSI X. 12 orientierten Amerikaner noch nicht endgültig einigen. Deshalb liegt die "Bestellung", die von dem Stuttgarter Werk an die Firma Cannon Electric GmbH geht, zwar innerhalb der Edifact-Vorstellung der Edifice-Arbeitsgruppe, ist aber letztlich nicht normiert.

Anders liegt das Problem bei der Nachricht "Auftragsbestätigung". "Wir wissen nicht, was wir 'mit der ,Auftragsbestätigung' machen sollen, weil wir über den Status im unklaren sind", sagt Wittauer. Er tappt im Dunkeln, da er trotz vieler Bemühungen bislang von den zuständigen Gremien keine Unterlagen erhalten hat. Bei anderen Messages sei der Informationsaustausch jedoch gut und reichlich gewesen. Solange aber die "Auftragsbestätigung" nicht verabschiedet sei, könne er in der Routineanwendung die "Rechnung" nicht einsetzen und bleibe das Projekt auf die "Bestellung" beschränkt.

Nicht ausreichend über Edifact informiert sieht sich trotz aller Holschuld des Interessenten, Hubert Kauker, Geschäftsführer der BAG Buchhändler-Abrechnungsgesellschaft mbH in Frankfurt. Kauker: "Die Öffentlichkeitsstrategie von Edifact ist unklar." Seiner Meinung nach muß in den Köpfen der Informatiker das Bewußtsein für diese Norm mehr geweckt werden. Derzeit arbeitet die BAG mit einer brancheninternen Kommunikationslösung, aber es sei, so Kauker, nicht ausgeschlossen, daß nach genauer Prüfung auch die BAG einmal auf Edifact umgestellt wird.

Für eine Sensibilisierung in Sachen Edifact werden nach Ansicht von Josef Meyer, dem Leiter Systementwicklung im Basler Stammhaus von Ciba Geigy, die Pilotprojekte sorgen. In erster Linie jedoch sei es deren Aufgabe, die Funktionalität von Edifact-Anwendungen zu prüfen.

Tatsächlich liegen die gravierendsten Probleme für den Anwender, wie die Umfrage der COMPUTERWOCHE ergeben hat, weniger bei Informationsdefiziten und mangelnden Festlegungen für die Nachrichtenelemente, sondern im Bereich der Datenkonvertierung vom Edifact-Format in die jeweiligen hausinternen Formate und umgekehrt. Alle Befragten sehen in der Übersetzungssoftware derzeit das Kernproblem. Zwar gäbe es schon Software, aber, so Meyer, "keine, die einigermaßen gut funktioniert."

Dazu auch ein DV-Experte im Speditionswesen, der anonym bleiben möchte: "Das Problem ist, daß die Syntax für Edifact so haargenau eingehalten werden muß, daß Software-Hersteller und Anwender damit gleichermaßen ihre Schwierigkeiten haben." Folge: Das Unternehmen kann momentan seine Daten noch nicht hundertprozentig an die Edifact-Norm anpassen, weil ansonsten, so der Befragte, "nur Schrott herauskommt".

Probleme beim Konvertieren sind auch bei einem anderen internationalen Speditionsunternehmen aufgetaucht, das ebenfalls nicht genannt werden möchte. Ein DV-Spezialist: "Der Konverter hat aufgehört zu arbeiten, weil beim Editor auf der Inhouse-Seite vergessen wurde, ein Segment zu liefern." Gemeinsam mit der Softwarefirma soll das Problem jetzt gelöst werden. "Solche Flüchtigkeitsfehler entdeckt man", so der Informant, "wenn die Anwendung unter Realbedingungen voll ausgenützt wird."

Da sich die Software-Anbieter in puncto Edifact noch in relativem Neuland bewegen, scheint der Erfahrungsaustausch zwischen Anwendern und Software-Entwicklern derzeit nötig. Dazu Mehnen, dessen Firma Konvertierungssoftware liefert: "Die Unternehmen geben zur Zeit noch einige Hinweise, wie man Konvertierung und Anwendung verbessern kann."

Nach Meinung von Meyer wird es jedoch noch zwei Jahre dauern, "ehe die Unternehmen die Software kaufen können, von der wir heute träumen." Aber, so führt der Projektleiter weiter aus: "Wenn der Moment erreicht ist, in dem es eine wirklich flexible, einfach zu nutzende und implementierende, sichere Übersetzungssoftware gibt, dann ist das Eis für Edifact gebrochen."

Bleibt die Frage: Kann ein Unternehmen von kleiner oder mittlerer Größe die Konvertierung selbst realisieren? Überwiegend vertreten die Experten die Ansicht, daß solche Firmen den Einstieg in Edifact mit Hilfe eines Softwarehauses vollziehen sollten. Große Unternehmen dagegen müßten, so Bernd Pletschacher, Koordinator für Edifact-Anwendungen der BASF AG, "in einem intellektuellen Prozeß ihre internen Datenkodierungen und -strukturen selbst analysieren und auf Edifact beziehen."

Dennoch vertritt Martin Wittauer von der SEL die Meinung, daß es auch für die kleineren Unternehmen ratsam sei, sich mit der Edifact-Syntax vertraut zu machen. Erstens würde das Know-how auf- oder ausgebaut, ferner die Hemmschwelle beim Anwender gegenüber Edifact sowohl gesenkt als auch dessen Vorteile klar ersichtlich. Gleicher Ansicht ist Mehnen: "Edifact von der grünen Wiese her einzuführen ist unmöglich. Man muß sich schon ein bißchen mit der Syntax vertraut machen."

Letztlich werden die Vorteile von Edifact - das ist der allgemeine Tenor - all die Mühen aufwiegen, die das Studium der ISO-Syntax erfordert. Wittauer nennt die wesentlichen Positiva: "Edifact macht den Austausch von Handelsdaten schneller, einfacher und preiswerter." Ein weiterer Vorteil, der häufig ins Feld geführt wird: Edifact ist der Schlüssel für die Just-in-Time-Logistik, die Lagerbestände und Kosten niedrig hält.

Überhaupt spielt der Kostenfaktor eine wichtige Rolle. Meyer nennt ein Beispiel: Derzeit beläuft sich der Aufwand für eine Rechnung bei Ciba-Geigy auf zwölf Franken. Nach Schätzung von Meyer würden durch Edifact die Ausgaben für Papier und Druck erheblich gesenkt und die Kosten pro Rechnung um rund ein Drittel gedrosselt.

Bedeckt geben sich dagegen die Befragten bei dem Stichwort Arbeitsplatzreduzierung. Mehnen diplomatisch: "Wo auf der einen Seite Arbeitsplätze wegfallen, werden auf der anderen neue geschaffen." Einzig Meyer räumt ausweichend ein, "es wäre falsch zu sagen, Arbeitsplätze würden nicht reduziert." Angesichts der laufenden Pilotprojekte scheint es glaubhaft, daß Gedanken an Einsparungen von Arbeitsplätzen bislang noch von untergeordneter Relevanz sind.

Nicht zu leugnen ist jedoch das Problem der Protokoll- und Netzwahl. Als Übermittlungswege bieten sich Datex-P, Datex-L oder die Telefonleitung an. Laut Mehnen ist Datex-P in der Welt am weitesten verbreitet und deshalb am besten geeignet. Unklarheiten gibt es dagegen noch bei den Protokollen. Im Raum stehen das vorhandene Teletex-Protokoll sowie X.400 und FTAM.

Auch wenn momentan in Sachen Edifact noch nicht alles rund läuft, so besteht doch für keinen der Befragten ein Zweifel, daß diesem Standard die Zukunft gehört. Einzig über den Zeitraum bis zur flächendeckenden Verbreitung in der Bundesrepublik gehen die Annahmen auseinander. Am optimistischsten ist Mehnen, der bereits in drei Jahren mit der "Flächendeckung" rechnet.

Eines steht fest: Wer auf der Basis von Edifact Handelsdaten austauscht, wird, sobald die Kinderkrankheiten abgestellt sind, Wettbewerbsvorteile haben. Noch weiter geht einer der beiden DV-Experten aus der Speditionsbranche in seiner Prognose: "Wer nicht innerhalb der nächsten drei Jahre voll mit Edifact arbeitet der verliert den Anschluß."

Also scheint es ratsam, sich schon einmal mit Edifact vertraut zu machen. Denn es leuchtet ein, daß Unternehmen, die viel Geld in die Entwicklung von Edifact-Messages und Konvertierungsprogrammen investiert haben, auf Dauer wenig Neigung verspüren, nicht auf Edifact basierende Strukturen anderer Handelspartner in ihrem Programm zu berücksichtigen. Deshalb lautet die Strategie bei BASF: "Wenn Datenaustausch mit Kunden und Lieferanten, dann über Edifact."

Von CW-Mitarbeiter Peter Gruber