Die Chance, sich persönlich weiterentwickeln zu können, ist wichtig

Weiterbildung: Das lernende Unternehmen ist eine Attraktion

12.01.1990

Die Weiterbildungsetats der Unternehmen für die 90er Jahre sind verabschiedet. Die Seminarkataloge der Anbieter sind versandt. Der fröhliche Seminartourismus kann beginnen.

Noch immer herrscht in vielen Unternehmen bei der Weiterbildung die reine Konsumentenhaltung. Zehn Tage oder (in guten Unternehmen) fünfzehn stehen dem Mitarbeiter zum "Seminarverbrauch" zu. In Abstimmung mit dem Fachvorgesetzten und mit der Personalabteilung werden diese nach dem Katalogangebot der Seminarveranstalter verplant und besucht.

Lernbedarf - wer kennt den schon

Einige Unternehmen führen relativ exakte Erfolgskontrollen durch. Andere holen sich Seminarveranstalter in ihr Unternehmen und führen individuelle Inhouse-Seminare durch. Das Schlagwort von der bedarfsorientierten Weiterbildung macht die Runde. Für manchen Personalentwickler wurde es geradezu zu einem Ausdruck höchster Qualität.

Gerne bieten sich selbsternannte Weiterbildungsberater an, um diesen Bedarf (möglichst

hoch) 91 "neutral" zu ermitteln und dann möglichst selbst noch gewinnbringend zu decken. Doch Mitarbeitern und Unternehmen ist damit zuallerletzt geholfen.

Der Weiterbildungsbedarf eines Unternehmens und seine Mitarbeiter kann nur aus der strategischen Ausrichtung realistisch abgeleitet werden (siehe Grafik 1). Die neuen Schlagworte von einer "just in time"- oder "up to date"-Qualifikation bringen nicht weiter. In den Unternehmen und für die Mitarbeiter brauchen wir eine neue Lernkultur. Nicht wer über den höchsten durchschnittlichen Verbrauch an Seminartagen verfügt, ist Vorbild, sondern vielmehr, wer im Alltagsverhalten das "lernende" Unternehmen vorlebt. Die Mitarbeiter müssen von ihren Vorgesetzten her diese Atmosphäre des "Sich-Verändern-Wollens" spüren. Anstatt zehn Tage Seminar zu verbrauchen, müssen die Weiterbildungsteilnehmer die Chance erkennen, sich fachlich und - aus der Sicht des Mitarbeiters besonders wichtig -persönlich weiterentwickeln zu können.

Schneller lernen als die Umwelt

Nur Unternehmen, in denen die Lerngeschwindigkeit höher ist als die Änderungsgeschwindigkeit der Umwelt, werden überleben (siehe Grafik rechts). Was wir brauchen, ist die Verabschiedung von alten Methoden und Verfahren und das Ablegen von Verhaltensweisen, die nicht mehr gefragt sind.

Was wir lernen müssen, ist das Verlernen oder Entlernen. Doch je professioneller einmal erlernte Verfahren ausgeübt wurden, desto schwerer tut sich der Einzelne, diese fest eingeprägten Verhaltensweisen wieder abzulegen. Der Profi muß dabei am meisten abgeben. Die Bereitschaft, neu zu lernen (= Verhalten zu ändern), ist meist nur in "Notsituationen" vorhanden. Dies gilt für Unternehmen wie Mitarbeiter. Unternehmen dürfen nicht wissende, sondern müssen lernende Organisationen werden.

"Verhalten trainieren - Bewußtsein erweitern". Nichts drückt besser aus, was Unternehmen brauchen und Mitarbeiter wollen. Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Mitarbeiter halten auch ein Unternehmen wettbewerbsfähig. Doch in dozentenzentrierten Seminaren, die immer noch das Weiterbildungsangebot dominieren, werden genau diese Eigenschaften nicht gefördert.

Rolf Th. Stiefel, einer der wenigen wirklichen Profis im Weiterbildungsmarkt, beschreibt die Situation noch drastischer: "Die meisten Institute sind auf einer Entwicklungsstufe der 60er Jahre stehengebliebene... es haben sich lediglich die Referenten und die Themen geändert. Das strategische Selbstverständnis ist nahezu gleichgeblieben." Ergo: Wir brauchen den Dozenten als Coach.

Für Unternehmen, die ihre Weiterbildungsaktivitäten strategisch ausrichten und im beschriebenen Sinne in umfassende Personalentwicklungskonzepte integrieren wollen, kann der folgende Zehn-Punkte-Katalog als Richtschnur dienen:

1. Eigener Lernweg

Jedes Unternehmen muß den zu seiner gelebten Unternehmenskultur passenden Lernweg gehen. Von außen aufgepfropfte, fertige Schulungs- und Trainingskonzepte führen eher zur Lernbehinderung.

2. Ganzheitliches Lernen

Wenn wir tatsächlich Mitarbeiter haben wollen, die über berufsfachliche Kompetenz verfügen und diese mit humanen und sozialen Fähigkeiten verknüpfen können, müssen sich die Schulungsinhalte sowohl auf Fach- als auch auf Schlüsselqualifikationen erstrecken.

3. Lernende Führung

Lernen, also Verhalten ändern, kann nur unter einem Führungsstil stattfinden, der Mitarbeiter die Bereitschaft zur Veränderung auch tatsächlich erlaubt.

4. Breitere Beteiligung

Es ist bekannt, daß die Weiterbildungsbeteiligung in den oberen Hierarchiestufen und bei Angestellten am höchsten ist. Durch aktivierende Lernformen muß es gelingen, die Bereitschaft zur Weiterbildung auch bei bisher "weiterbildungsfernen" Mitarbeitern zu erhöhen.

5. Ältere Teilnehmer

Aufgrund der demographischen Entwicklung zeichnet sich ab, daß immer mehr Mitarbeiter in höherem Alter zur Weiterbildung finden müssen. Gerade bei diesen ist die Fähigkeit des Lernens nicht mehr aktiv vorhanden. An Methodik und Didaktik der Weiterbildung werden höhere Anforderungen gestellt.

6. Lernen braucht Zeit

Der Besuch von Seminaren führt noch nicht zur Verhaltensänderung. Mitarbeitern muß genügend Zeit eingeräumt werden, um sich auf neue Methoden und Verfahren einstellen zu können, diese zu akzeptieren und schließlich auch anzuwenden.

7. Über die Hierarchie hinweg

Es bestehen immer noch sehr viele Ängste, wenn Weiterbildungsveranstaltungen sich über zwei bis drei Hierarchieebenen eines Unternehmens erstrecken. Die Angst vor Bloßstellung vor Untergebenen ist weit verbreitet. Verhaltensänderung ist aber am leichtesten zu erzielen, wenn dieser Prozeß von Vorgesetzten und Mitarbeitern gemeinsam gegangen wird. Bei den üblichen Leistungsspannen von 1:7 bis 1:10 steht diesem hierarchieübergreifenden Lernen in Unternehmen bis zu 1000 Mitarbeitern auch kein organisatorisches Hindernis im Weg.

8. In Gruppen lernen

Es geht häufig darum, in kompletten Arbeitsgruppen neue Methoden und Verfahren (Tools) einzufahren. In der Praxis hat es sich dadurch bewährt, nicht nur einzelne Mitarbeiter, sondern ganze Teams mit den neuen Methoden vertraut zu machen. Hier liegt insbesondere der Ansatz der inzwischen verbreiteten Inhouse-Seminare.

9. Multiplikatoren aufbauen

Einige Unternehmen sind dazu übergegangen, Mitarbeiter als "Lernmultiplikatoren" aufzubauen. Für dieses gezielte arbeitsplatzorientierte Training werden gerne methodische und didaktische Mängel in Kauf genommen.

10. Lernen u n d Arbeiten

Bei der Form des arbeitsplatz- und projektbezogenen Trainings wird je nach Bedarf zwischen Lernen und Arbeiten abgewechselt. Der Dozent tritt hier als klassischer Trainer, aber auch als "Coach" auf, der lernhemmende Faktoren und demotivierende Verhaltensweisen erkennen, aufzeigen und bewußt machen kann. Anschließend kann er auch dazu beitragen, diese abzustellen. Bei dieser Form der Weiterbildung werden an den "Coach" die höchsten Anforderungen gestellt. Nur wenige Institute sind in der Lage, geeignete Trainer abzustellen. +