Der Wall-Street-Crash ist - besonders für DV-Firmen - noch nicht überstanden:

Weiche Landung an der Börse unwahrscheinlich

06.11.1987

Wann reißt der Faden beim Börsen-Jojo? Die US-Amerikaner verloren innerhalb kürzester Zeit rund ein Viertel ihres Jahreseinkommens durch Buchverluste am Aktienmarkt. Der Kursrückgang des Dow-Jones-Indexes seit Ende August um knapp 1000 Punkte reduzierte den Wert aller amerikanischen Aktien von zirka 3000 auf zirka 2000 Milliarden Dollar. In der anschließenden Erholung wurden bis zu 20 Prozent des Verlustes wieder aufgeholt. Ähnlich dramatisch sah es an allen großen Weltbörsen aus. Durch aggressive Finanzierung anfällig gewordene Nebenmärkte, wie Hongkong, mußten tagelang geschlossen werden. Nach Wiedereröffnung verloren die Aktiendurchschnitte dort mit einem Schlag 30 Prozent; am nächsten Tag wurde ein Drittel der Wertpapierhandelsfirmen wegen Insolvenz liquidiert.

Das Ausmaß des Börsenkrachs 1987 hat den berühmten Schwarzen Freitag 1929 (der eigentlich ein Montag war) bei weitem übertroffen. Damals fiel der Dow-Jones-Aktien-Durchschnitt (kein Index, da nicht gewichtet!) um 12,8 Prozent. Vorletzte Woche betrug der Tagesverlust 22,6 Prozent.

Der Grund des internationalen Börseneinbruchs wird viel diskutiert. Zumeist werden Anlässe mit Ursachen verwechselt. Die extreme Verschuldungssituation und das vor diesem Hintergrund nur schwer nachvollziehbare Zurückfahren des US-Geldmengenzuwachstums sind die Ursachen für den Einbruch der Aktienmärkte.

Vergleichbare Abschwächungen des Geldmengenwachstums führten 1966, 1969 und 1981 zu Börsenbaissen von bis zu 40 Prozent. Damals war die Verschuldungssituation mit der heute herrschenden Überschuldung jedoch nicht zu vergleichen.

Die bis ins zweite Quartal 1987 großzügige Geldmengenversorgung sollte in den USA helfen, die Verschuldungsproblematik zu überlagern. Zum einen war die Liquiditätsschwemme notwendig, um das durch die Schuldenkrise der Dritten Welt, die notleidenden Energiekredite und die Pharmakrise in den USA überstrapazierte Bankensystem in Gang zu halten. Zum anderen sollte über die reichliche Versorgung mit Liquidität die US-Volkswirtschaft auf Touren gebracht werden. Größeres Wachstum des Bruttosozialprodukts wurde erst recht nach der Steuerreform in den USA notwendig, die sich nur über höhere Steuereinnahmen durch mehr Mengenwachstum rechnet. Es genügten schon wenige Monate größerer Geldmengenwachstumsdisziplin, um das Kartenhaus ins Wanken zu bringen. Warum das Geldmengenwachstum zurückgenommen wurde, ist schwer nachvollziehbar. Eines der dadurch angestrebten Ziele dürfte der Versuch einer Dollarstabilisierung gewesen sein. Mit der Rückkehr zu mehr Geldmengenwachstum zur Rettung der Finanzmärkte (in der vergangenen Woche stieg die US-Geldmenge M 1 um 5,6 Milliarden US-Dollar) wird als Nebeneffekt in den kommenden Monaten für weiter rückläufige Dollarnotierungen gesorgt. Geldmengenwachstum einerseits, und nicht in gleichem Tempo standhaltendes Wirtschaftswachstum auf der anderen Seite führen zu Bonitätsverschlechterung jeder Währung.

Wird es gelingen, die US-Wirtschaft trotz des Börsenschocks auf

Wachstumskurs zu halten? Diese Frage stellt sich nicht nur für Börsianer - als besonders konjunkturzyklische Branche werden Datenverarbeitungs-Unternehmen dieses Thema in den nächsten Monaten zur Existenzfrage machen. Bezeichnenderweise waren die Aktien der DV-Branche als letzte Gruppe während des Kursaufschwungs im Dow-Jones auf 2700

Punkte am stärksten gestiegen. Der Einbruch war entsprechend heftig. Es scheint durchaus möglich, daß es der US-Regierung gelingt, durch massive Kapitalspritzen den Baisse-Trend zu stoppen. An der Ursache der Börsenkatastrophe - den bestehenden Verschuldungsproblemen ändert dies jedoch nichts. In der modernen Wirtschaftsgeschichte wurden vergleichbare Verschuldungssituationen niemals durch Verzicht und Sparsamkeit, sondern durch wirtschaftliche oder politische Katastrophen bereinigt. Selbst wenn es den Regierungen gelingen sollte, mittels neuer Kredite die beginnende Lawine zu stoppen, führt diese Rettungsaktion zu noch höherer Verschuldung und wird am Schluß wahrscheinlich noch stärkere Wirtschaftseinbrüche zur Folge haben. Daß jene Wirtschaftspolitiker, die für die Verschuldung allein verantwortlich sind, die Dinge verharmlosen, ist zwangsläufig.

Bedenkt man, daß durch den scharfen Rückschlag der Aktienkurse das Konsumentenvertrauen in den USA (Anteil des Konsums am Bruttosozialprodukt zur Zeit über 60 Prozent) stark beeinträchtigt sein wird, so kann man sich die Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung in den nächsten Monaten gut vorstellen. Hinzu kommt, daß der Aktienmarkt seine Funktion als Refinanzierungsinstrument weitgehend eingebüßt hat. Neu-Emissionen und Kapitalerhöhungen werden, wenn überhaupt, in nächster Zeit nur zu deutlich verschlechterten Bedingungen möglich sein. Eine zusätzliche Inanspruchnahme des schon jetzt über Gebühr geforderten Bankensystems wird die Folge sein.

In Deutschland ist der Einfluß des Aktienmarkts auf Konjunktur und Wirtschaft unmittelbar geringer. Die Baisse des deutschen Aktienmarktes seit Frühjahr 1986 - damals standen deutsche Dividendenpapiere noch fast 50 Prozent höher - hatte zur Folge, daß der Wert aller Aktien bei nur noch gut 20 Prozent des Bruttosozialprodukts liegt. Der Wertrückgang am deutschen Aktienmarkt dürfte insgesamt "nur" 100 Milliarden Mark ausgemacht haben. Zum Vergleich: Allein die Börsenkapitalisierung von IBM verminderte sich von 99 Milliarden in der Spitze um 38,173 Milliarden Dollar = zum damaligen Dollarkurs knapp 70 Milliarden Mark. Der Börsenkrach in den USA seit Mitte August hat also alleine bei IBM 70 Prozent dessen an Börsenwert vernichtet, was am gesamten deutschen Aktienmarkt seit der Baisse im Frühjahr 1986 verlorenging.

Ein Abschwung trifft auch Deutschland

Der Zusammenhang mit früheren internationalen Konjunktureinbrüchen beweist jedoch, daß ein eventuell durch die Börsenbaisse ausgelöster internationaler Wirtschaftsabschwung via deutscher Exportwirtschaft mit Sicherheit stark auf die

deutsche Wirtschaft ausstrahlen wird. Ende der 20er Jahre, als die reichsdeutsche Volkswirtschaft völlig entschuldet war (Goldmarkstandard aufgrund des Vertrages von Versailles), wurde sie trotzdem in die Krise der stark verschuldeten Industrieländer mit hineingerissen.

Interessant bleibt, daß die Baisse an der deutschen Börse eineinviertel Jahre vor der Wall-Street-Baisse begann. Die Weichwährungsbörsen gingen folgerichtig auf den Kurs der Hartwährungsbörsen. Währungsbereinigt ist heute (in Mark gerechnet) der gesamte Kursgewinn bei US-Aktien; für den deutschen Anleger ausgelöscht. Die Titel der Datenverarbeitungsindustrie sind weit von ihren Höchstkursen entfernt. So reagierten Amdahl von 40 auf 24 Dollar, Commodore von 15 auf 6? Dollar, Control Data von 36 auf 18 Dollar, Digital Equipment von 180 auf 96 Dollar, Hewlett-Packard von 66 auf 38 Dollar, IBM von 165 auf 102 Dollar, NCR von 79 auf 43 Dollar, Unisys von 44 auf 24 Dollar. Auch die Softwarehäuser mußten heftige Kurseinbußen hinnehmen, Ashton-Tate fiel von 30 auf 16 Dollar, Lotus von 36 auf 24 Dollar und Microsoft von 79 auf 47 Dollar.

Wie wird es weitergehen? Genau beobachtet werden muß in Zukunft die Entwicklung der Geldmenge. Gelingt es den Amerikanern, im nächsten halben Jahr die Geldmenge erheblich zu vergrößern, besteht eine Chance, die Konjunktur zu retten mit der Folge, daß sich die Aktienmärkte erholen. Die Kursanstiege von US-Staatsanleihen und US-Schatzwechseln in den letzten Tagen zeigen, daß im Moment Liquidität ins amerikanische Bankensystem gepumpt wird. Allerdings wird eine solche Geldschwemme den Dollar kurzfristig weiter belasten. Betrachtet man Märkte wie Japan, die immer noch bei einem rechnerischen Kurs/Gewinn-Verhältnis von deutlich über 70 (Durchschnitt) notieren, fällt es allerdings schwer, an ein Soft-Landing, also ein kontrolliertes Herabgleiten zu vernünftigen Bewertungen, zu glauben.

Gelingt es nicht, die Konjunktur zu retten (die wahrscheinlichere Alternative), so steht das eigentliche Kursdebakel erst bevor. Der Vergleich mit der Börsenentwicklung zwischen 1928 und 1932 zeigt, daß der erste Rückschlag im Dow-Jones von 400 auf 200 Punkte Anfang 1930 teilweise wieder - aufgeholt wurde. Die 50prozentige Erholung reichte bis 300 Dow-Jones-Punkte. Danach fiel der amerikanische Aktienmarkt um 90 Prozent auf 40 Punkte in 1932. Die aktuelle Parallele sähe wie folgt aus: Top im Dow Jones bei 2700. Anschließender Sturz auf zunächst 1700, Teilerholungen und weitere Rückgänge mit Basis 1400. Danach Markterholung bis 2200. Mitte 1988 beginnende endgültige Börsenbaisse bis zum Ende der Depression. Als Wirtschaftsteilnehmer und Börsenbeobachter kann man nur hoffen, daß die Auswirkungen des "Schwarzen Montags" weniger dramatisch sein werden. Auf die internationale Zusammenarbeit als Garantie für eine mögliche Verhinderung der Katastrophe hinzuweisen, hilft allein nicht. Zusammenarbeit heißt auch größere Abhängigkeit. Außerdem machen sich erste Anzeichen einer Erosion bemerkbar. Trotz gegenteiliger Bitte der westlichen Partner besteht die britische Regierung auf Reprivatisierung ihrer British-Petrol-Aktien. Die Marktbelastung (Emissionsvolumen sieben Milliarden Pfund), die auf das internationale Bankenkonsortium zukommt, wird enorm sein. Wäre die vielzitierte internationale Zusammenarbeit ernst genommen worden, so hätte man zu diesem Zeitpunkt die Emission verschoben. Setzt sich dieser Trend fort, wird sich die "Zusammenarbeit" als Bumerang erweisen.