Wege aus der Stressfalle

30.08.2006
Von 
Michael Schweizer ist freier Autor in München.
IT-Arbeit kann krank machen. Es gibt Möglichkeiten, sich dagegen zu schützen.

Emil programmiert Bankensoftware für ein Unternehmen, das die meisten Leser der computerwoche kennen dürften. Am Telefon wirkt er angespannt. Er will sich nicht in dem schick gewordenen Münchner Altbaustadtteil verabreden, in dem er wohnt, sondern heimlich in einem Vorstadtcafe, hinter dessen schweren Vorhängen vorzüglicher Zwetschgenkuchen mit viel Sahne gereicht wird. Dort redet Emil wie ein Wasserfall. "Dass jede Abteilung und jedes Projektteam geglaubt hat, in allen anderen säßen nur Idioten, war bei uns schon immer so. Eine goldene Zeit, in der wir uns gegenseitig respektiert haben, hat es nie gegeben. Neu ist aber, dass jedes Team sagt: ,Wir machen selbst auch nur noch Mist.’ Mit den Leuten, die wir noch haben, kann man die Arbeit nicht mehr vernünftig erledigen. Die Geschäftsführung hält die Kunden offenbar für sehr geduldig."

Wann Sie zum Arzt sollten

Folgende Stresssymptome sollten medizinisch abgeklärt werden:

• Bluthochdruck;

• Schlafstörungen (länger als zwei Wochen);

• Herzrhythmusstörungen;

• Schwindel (länger/öfter);

• Angstgefühle (wiederholt);

• Niedergeschlagenheit;

• Hörsturz;

• Ohrgeräusche;

• Infektionsanfälligkeit;

• unbestimmte Schmerzen;

• Magen- und Darmprobleme;

• starke Schmerzen im Rücken- und Schulterbereich;

• Hautprobleme und Wundheilungsstörungen;

• Gewichtsprobleme (starke Zu- oder Abnahme).

Quelle: Sabine Schonert-Hirz, Meine Stressbalance

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555657: Burnout;

579889: Urlaub;

580236: Neue Arbeitswelt.

Zu viel Arbeit ist der gemeinsame Nenner, auf den sich die sonst sehr unterschiedlichen Erzählungen von IT-Experten, die unter Stress leiden, bringen lassen. Urlaube verfallen, Abende unter der Woche sind dem beruflichen Mail-Verkehr gewidmet, Wochenenden werden erst improvisatorisch, dann fest für die Arbeit eingeplant. Ein guter IT-Analyst könne "im Prinzip nie ausschalten", sagt Rüdiger Spies, Executive Advisor bei der Experton Group. Man laufe Gefahr, "die Lebenskerze von zwei Seiten abzubrennen".

Was IT-Experten stresst

Hohe Ziele: Was für Emil die Arbeit in immer mehr Projekten gleichzeitig ist, das sind für Vertriebsleute die Umsatzziele. Wer sie erreicht, wird nicht selten damit bestraft, dass ihm die Latte für das nächste Jahr oder Vierteljahr noch höher gelegt wird. Manfred Schimmel betreut beim CRM-Spezialisten Saratoga Systems aus München-Unterföhring die Ciba Spezialitätenchemie und das Schweizer Bankhaus UBS. Anders als so manche Vertriebler, die für Auslandsniederlassungen amerikanischer Firmen arbeiten, erhält er Vorgaben, die sich erreichen lassen. Dazu braucht er aber Arbeitszeiten von 6.30 Uhr bis 20 Uhr, dienstliche Telefonate im Auto und ein auch zu Hause laufendes Notebook. Schimmel schimpft über einen "schwachsinnigen Preisdruck", der dadurch entstehe, dass andere CRM-Software-Anbieter das Consulting im Vorfeld der Installation einfach verschenkten.

Unklare Ziele: Wenn geleistete Arbeit entwertet wird, indem Vorgesetzte oder Kunden plötzlich das Ziel ändern, widersprüchliche Aufträge erteilen oder überhaupt keine, so mag dies in anderen Branchen an situativen Zufällen liegen. In IT-Projekten dagegen ist es strukturell. Auskunft darüber gibt der IAT-Report 2006-04 "Zwischen Innovation und alltäglichem Kleinkrieg. Zur Belastungssituation von IT-Beschäftigten" des vom Land Nordrhein-Westfalen betriebenen Instituts Arbeit und Technik in Gelsenkirchen. Die Autoren Erich Latniak und Anja Gerlmaier haben insgesamt sieben Projektgruppen aus zwei großen IT-Unternehmen und zwei Multimedia-Startups untersucht. Ein Jahr lang füllten die Teilnehmer alle vier Wochen ein standardisiertes "Befindenstagebuch" aus. Alle Projektteams fühlten sich überlastet, weil immer wieder "neue Anforderungen und Änderungswünsche" an sie herangetragen wurden, Termine und Budgets aber trotzdem eingehalten werden sollten. Viele Teilnehmer litten an Müdigkeit (72 Prozent), Nervosität (58 Prozent), Schlafstörungen (25 Prozent) und anderen psychosomatischen Beschwerden.

Ahnungslose Weisungsbefugte

Gerlmaiers und Latniaks Auskunftgeber schätzen es andererseits, dass sie sich relativ autonom organisieren können. Allerdings betrifft das nur die Arbeit im engen Sinn. Auf deren Ziele, Termine, die personelle und materielle Ausstattung hat in der Regel höchstens der Projektleiter Einfluss. Der Druck geht oft von Weisungsbefugten aus, die von IT nichts verstehen.

Stress im Sandwich:

Projektleiter und andere untere und mittlere Führungskräfte geraten leicht in eine Doppelrolle als Fürsorger und ausbeutender Manipulator. "Was habe ich Blumensträuße für Freundinnen gekauft", erinnert sich Andrea an die Zeit vor ihrem Erziehungsurlaub, als die Marketing-Managerin eines großen Hightech-Konzerns Personalverantwortung über 18 Leute hatte. Die Aufmerksamkeiten waren für die Partnerinnen von Mitarbeitern bestimmt, die von Andrea samstags zur Arbeit einbestellt wurden, nachdem sie schon werktags wochenlang bis 23 Uhr im Unternehmen waren. (Andrea wurde auch von der Psychologin und Soziologin Anja Weiß interviewt: Franz Schultheis, Kristina Schulz (Hg.): "Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag", UVK, Konstanz 2005, 591 Seiten, 29 Euro).

Unerfüllbare Ziele/Mobbing: Es gibt Stress ohne Mobbing und, zumindest theoretisch, Mobbing ohne Stress. Wenn IT-Experten aber Aufgaben bekommen, die nicht schwierig, sondern schlicht unlösbar sind, dann kann der Stress ein Mittel des Mobbings sein. Die Münchner Karriereberaterin und Therapeutin Madeleine Leitner glaubt, dass sich der zwischenmenschliche Umgang in der schnelllebigen IT-Welt noch katastrophaler verschlechtert hat als in anderen Branchen. Besonders die Anständigen, Qualitätsorientierten, die nicht wahrhaben wollten, dass sie "von Haifischen umgeben sind", verlören ihre Jobs. Vor allem in großen Konzernen sieht Leitner das Mobbing-Problem. Dort arbeiten, anders als bei knapp besetzten Mittelständlern, Tausende Leute, die mit der Produktion nichts zu tun haben und sich auf Machtspiele konzentrieren können. Wer nicht selbst politisch agiere, habe hier "geringe Überlebenschancen" - es sei denn, er finde einen "Haifisch, der ihn seine Arbeit machen lassen will".

Geht es Freiberuflern besser? Je erfolgreicher sie sind, desto überlastungsgefährdeter sind sie auch. Aber sie strahlen oft einen Enthusiasmus aus, den Festangestellte allenfalls vortäuschen. Alain Fischer (24) hat nach dem Informatikstudium die Ein-Mann-GmbH Deetune in Dortmund gegründet. Der Web-Hoster betreut für überwiegend berufliche Anwender mehr als 4200 Domains auf 45 Rechnern. Weil er sich eine solide technische Infrastruktur aufgebaut hat und die meisten Kunden einen professionellen internen Support betreiben, läuft sein Tagesgeschäft normalerweise "entspannt". Das ändert sich, wenn zum Beispiel eine Festplatte den Geist aufgibt oder im Rechenzentrum der Strom ausfällt. Ein solches Malheur zieht eine Kette von Folgeproblemen nach sich, die zu drei bis vier Nachtschichten hintereinander und zu durchgearbeiteten Wochenenden führen kann. Stressbedingte Panikattacken und eine Gastritis hat der junge Unternehmer schon hinter sich.

Fischer ist selbstkritisch: Er könnte sein Zeit-Management verbessern und konsequenter zwischen Beruf und Privatem trennen. Eine Festanstellung will er nicht, dafür gefällt ihm seine jetzige Tätigkeit zu sehr. In "Kompetenzteams aus Freiberuflern", die sich ad hoc bilden, fühlt er sich wohler als in einer Firmenhierarchie. Außerdem mag er seinen Rhythmus: Denken und Programmieren kann er am besten morgens sowie von 21 bis 23 Uhr. Nachmittags ist er kommunikativ. Gegen den Stress kämpft er mit Wochenenden an der Nordsee und zweimal wöchentlich abends viel Bewegung - wenn er dazukommt.

Die IT als Vorreiter

Wissenschaftler und Krankenkassen sehen die IT als "Leitbranche" (IAT-Report). Sie stellt die Mittel bereit, mit denen man "jetzt überall und immer arbeiten" kann (Studie "Moderne IT-Arbeitswelt gestalten" der Techniker Krankenkasse) und wendet sie gleich exzessiv an. Was dort an Arbeits- und Entlohnungsformen und eben auch an Stress üblich ist, wird sich auch in anderen Berufen verbreiten.

Eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Definition des Begriffs "Stress" gibt es nicht. Zu unterschiedlich sind die Blickwinkel, aus denen Forscher sich dem Phänomen nähern. Das "Weißbuch Prävention 2005/ 2006 Stress?" der KKH Kaufmännische Krankenkasse (Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2006, 194 Seiten, 39,95 Euro) nennt die biologische, soziologische, psychologische und gesundheitsfördernde Perspektive, aus deren jeder sich mehrere Definitionen ableiten lassen. Eine überzeugende Schnittmenge bildet die Formulierung des Psychologieprofessors Engelbert Fuchtmann von der Fachhochschule München: Stress versteht er als einen "psycho-physischen Spannungszustand, der aus verschiedenen seelischen, körperlichen und sozialen Belastungszuständen herrührt und mit der Befürchtung verbunden ist, sehr wahrscheinlich diese (langandauernde) Situation nicht vollständig kontrollieren zu können. Die Vermeidung dieses unangenehmen Belastungszustandes erscheint aber subjektiv wichtig."

Von kurzfristigem Stress ist bekannt, dass er kreativ macht, belebt und unter Umständen das Leben rettet. Schwer erträglich wird Stress durch eine - eventuell unabsehbar - lange Dauer. Die IAT-Studie legt sich auf acht Wochen fest: Wer so lange gestresst ist, hat ein erhöhtes Burnout-Risiko. Stress kann auch Herz-, Magen-, Darm- und Hautkrankheiten begünstigen, ferner Angstzustände, Schlaflosigkeit und Depressionen. Das Wort "Mortalität" ist in Stressstudien nicht selten. Eine Gallup-Studie kommt für 2003 in Deutschland auf einen Schaden von 250 Milliarden Euro durch innere Kündigung, Alkohol, Fluktuation, Mobbing, Psychopharmaka und Fehlzeiten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO führt 50 bis 60 Prozent der Fehlzeiten auf "stressassoziierte" Gesundheitsprobleme zurück.

Was können Unternehmen tun?

Nicht in allen Firmen regiert der Schrecken. Otmar Fahrion, Gründer und Chef von Fahrion Engineering aus Kornwestheim, kann lange darüber reden, für welche Aufgaben sich seine vielen älteren Ingenieure besser eignen und wofür die Jungen. Arbeit, die man beherrscht, stresst weniger. Uwe May, Geschäftsführer der IT-Beratung Maihiro in Ismaning, erinnert seine Leute regelmäßig daran, ihren Urlaub zu nehmen. Bei der Schweizer Bank UBS werden auch Führungskräfte dazu gezwungen. Natalie Lotzmann, die bei SAP den Bereich Gesundheitswesen leitet, räumt ein, dass die Arbeit in einem börsennotierten IT-Unternehmen zu Erschöpfung, Burnout und psychosomatischen Beschwerden führen kann. SAP helfe den Betroffenen aber durch anonyme externe wie persönliche interne Beratung, Coaching, Workshops, eine "hoch frequentierte Mitarbeiterambulanz" und ein breites Sportangebot.

Was kann der Einzelne tun?

Zahlreiche Ratgeberbücher versprechen Hilfe auf dem Weg zur guten Work-Life-Balance. Dem Leser geht es mit ihnen und mit den Ankündigungen von Anti-Stress-Kursen bald wie Mark Twain mit den Bergen der Alpen: Kennst du einen, kennst du alle. Manche Tipps sind so offensichtlich richtig, dass sie praktisch jedem einschlägigen Autor oder Coach einfallen.

Wer sich in einer anstrengenden, aber geklärten Situation befindet, dem hilft eine verhaltenstherapeutisch grundierte Selbstpflege. Im Wesentlichen geht es darum, für wohltuende Tätigkeiten oder auch Untätigkeiten Zeiten zu reservieren und eisern zu verteidigen. Zusätzlich verhindern einfache Alltagstricks, dass zum unvermeidlichen Stress auch noch vermeidlicher kommt. Das liegt auf der Ebene: Frühstücke in Ruhe und brich so auf, dass du nicht in den Stau gerätst.

Wer hingegen seine Lage noch nicht gut genug verstanden hat, um sich solche Regeln geben zu können, sollte sich Fragen stellen wie: Was genau stresst mich eigentlich? Was liegt an mir, was an anderen? Was kann ich ändern, was kann ich umgehen, was muss ich hinnehmen? Was ist mir wichtig? Für solche Analysen hat die Medizinerin Sabine Schonert-Hirz ausgefeilte Fragebögen erarbeitet ("Meine Stressbalance", Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006, 247 Seiten, 19,90 Euro).

Hat jemand sich derlei Fragen ehrlich beantwortet, wird er vielleicht wissen, dass er, um seine Gesundheit zu retten, an seiner Arbeit mehr ändern muss, als auf den ersten Blick möglich scheint. "Dies umgreift im Ernstfall die ganze Berufs- und Lebensexistenz", schreibt Engelbert Fuchtmann. "Manch einer kommt erst nach einem ersten Herzinfarkt im Klinikbett darauf."

Karin Schmidt schaffte es auch so. In der Universitätsklinik Freiburg war sie bis vor zwei Jahren für SAP HR zuständig, und zwar vom Customizing bis zum Support. Das konnte Arbeit am 24., 25. und 31. Dezember bedeuten. Die heute 52-Jährige bekam das Gefühl, "dass man IT nur eine begrenzte Zeit machen kann", und wechselte intern auf eine Position, auf der sie mit Software nur als Anwenderin zu tun hat. Nebenberuflich begann sie, Menschen "in persönlichen Krisen" zu coachen.

Auch außerberufliche Träume können nicht schaden. Emil wollte für diesen Artikel so heißen, weil er, der schon in Prag, New York und Berlin über die Marathonstrecke gegangen ist, Material für ein Buch über berühmte Läufer sammelt: "Über Zatopek habe ich schon zwei Ordner. Das schreibe ich, wenn sie mich hinausgeschmissen haben. Dann habe ich endlich Zeit."