Chromdioxidband im Zwielicht - Lebensdauer des Beschichtungsmaterials nicht bekannt:

Warnung vor Datenverlust bei 3480-Kassetten

04.07.1986

MÜNCHEN(ch) - IBM-3480-Kassetten halten die Daten möglicherweise nur aber den relativ kurzen Zeitraum von weniger als fünf Jahren. Außerdem sollen sie beim Vermodern auf Mülldeponien, bei Beschädigung oder durch Abrieb im Alltagsgebrauch giftige Stoffe freisetzen. Diese Thesen stellte der US-amerikanische Physike William Manly in der CW-Schwesterzeitschrift "Computerworld" auf.

Manly betonte angesichts der Bri(...)z seiner Behauptungen, daß er lediglich seine Meinung als unabhängiger Berater äußere. "Ich befinde mich nicht in den Diensten von irgend jemandem im Eisenoxidgeschäft noch von sonstigen Personen, die ein finanzielles Interesse an Eisenoxid haben", stellte er klar.

"Ich spucke gegen den Wind eines Millionengeschäfts", fährt der Physiker fort, "aber ich denke, daß jemand seine Stimme erheben sollte, bevor der Schaden angerichtet ist. "

Manly zufolge zerfällt das in den Kassetten verwendete Chromdioxid unter Einwirkung von Feuchtigkeit und Sauerstoff in sechswertige Chrombestandteile. Diese seien in hohem Maße giftig. Außerdem kenne niemand die genaue Lebensdauer des Materials. Bekannt sei lediglich, daß es über eine ziemlich kurze (Daten-)Halbwertzeit verfüge und wahrscheinlich nicht für Archivzwecke in Betracht komme.

Als Mitarbeiter der Ampex Corporation war der Physiker in den sechziger Jahren Mitglied eines Forschungsteams, das die Möglichkeiten von Chromdioxidbeschichtung für die Verwendung mit Magnetbändern geprüft hatte und zu einem negativen Ergebnis gekommen war. Das Team fand heraus, daß das Material hinsichtlich seiner Eigenmagnetisierung nur einen geringen Vorteil gegenüber den beiden anderen verbreiteten Beschichtungsarten biete, daß der Preis hingegen ein Vielfaches dessen von Eisenoxid betrage. Damals hätten die Magnetbandhersteller, die das von dem amerikanischen Chemieunternehmen Du Pont hergestellte Material getestet hatten, Chromdioxid fast einmütig zurückgewiesen, erinnert sich Manly.

In der Folgezeit entdeckten dann Manly zufolge die Ingenieure, daß das Material zwar ideal für Audiobänder, jedoch nicht geeignet für Langzeit- und Datenspeicherung war. Er kommt dann in minutiöser Detaildarstellung auf den wesentlichen Punkt: Bei der Herstellung der Magnetbänder seien so viele Zusätze erforderlich, um der Giftigkeit des Materials zu begegnen, daß die Lebensdauer der Substanz darunter leide.

Aus diesem Grund befinde sich die DV-Industrie gegenwärtig in der Situation, daß sie massenweise Daten auf einem chemisch und magnetisch instabilen Material archiviere, welches in hochgradig giftige Bestandteile zerfalle. Das Problem sei gegenwärtig noch nicht so akut. Aber, so Manlys Vorhersage, in etwa drei bis fünf Jahren würden Anwender von 3480-Cartridges Erfahrungen mit "völlig unerklärlichen Datenerrors" machen müssen.

Damit fingen die Probleme aber erst an: Bei der Beseitigung der Bänder stehe der Anwender vor der Wahl, für eine ordnungsgemäße Behandlung als Giftmüll hohe Gebühren zu zahlen oder sich eben auf ungesetzliche Weise ihrer zu entledigen.

Während IBM bisher zu den Vorwürfen noch nicht Stellung genommen hat, dementierte BASF als Zweithersteller der fraglichen Datenträger diese Behauptungen sofort. In diesem Zusammenhang sprach Horst Dönicke, der Pressesprecher des Unternehmens, von einer "gezielten Kampagne der Eisenoxid-Lobby". In seinem Dementi stellt Dönicke fest, daß Chromdioxidbänder eine geringere Anfälligkeit gegen Entmagnetisierung infolge mechanischer Verbiegung aufweisen als Eisenoxidbänder. Weiter heißt es: "Laboruntersuchungen an künstlich gealterten Bändern und die 15jährigen Erfahrungen mit Audiobändern zeigen, daß der erfolgreiche Signalrauschabstand immer gewahrt bleibt. "

Hinsichtlich einer eventuellen Gesundheitsgefährdung führt der BASF-Sprecher an, daß Chromdioxid nicht in der Liste der gefährlichen Arbeitsstoffe des Bundesarbeitsministeriums geführt werde. Lediglich im Falle eines Brandes entstünden unter Einwirkung von Löschwasser geringe Mengen sechswertigen Chroms. Bei ordnungsgemäßer Behandlung der Bänder überschreite die Konzentration von Chromdioxidstaub auch nicht die maximale Arbeitsplatzkonzentration von 0,05 Milligramm je Kubikmeter Luft. Die Entsorgung ist nach Dönicke ebenfalls problemlos: Da Chromdioxidbänder keine Sonderabfälle im Sinne des deutschen Abfallbeseitigungsgesetzes darstellten, könnten sie wie Hausmüll behandelt werden.

Zumindest in diesem Punkt gibt es Zweifel. Auf Anfrage der COMPUTERWOCHE teilte Dr. Mysit Bahadir von der Gesellschaft für Strahlenund Umweltforschung in Neuherberg mit, daß sämtliche Chromlösungen stark toxisch und teilweise ätzend seien. Bei der Müllverbrennung, gerate Chrom als sehr giftiges Schwermetall in die Asche oder in die Luft. Dadurch entstände ein Problem, ähnlich dem, "wie wir es beim Cadmium schon haben". Aus diesem Grund hält Bahadir eine Einordnung des Materials als Sondermüll für durchaus gerechtfertigt. Diesbezügliche gesetzliche Vorschriften gibt es allerdings nicht.

3480-Anwender zeigten sich bei einer telefonischen Umfrage der COMPUTERWOCHE überrascht, aber vorsichtig. Bis jetzt hat noch niemand Erfahrungen mit Manlys "völlig unerklärlichen Datenerrors" machen müssen. Der Tenor war, erst einmal abzuwarten, was an den Behauptungen sich als zutreffend erweise. Günter Glessmann, RZ-Leiter bei INA Wälzlager, bringt die Stimmung auf den Punkt: "Wir müssen abwarten."

Im täglichen Betrieb sei ein möglicherweise existierendes derartiges Problem ohnehin nicht so gravierend. Sollte sich allerdings heraus stellen, daß die für Archivzwecke verwendeten 3480-Kassetten tatsächlich derartige Ausfallerscheinungen mit sich bringen, so müsse man eventuell "Anschaffungsentscheidungen noch einmal überdenken".