Warehouse gegen Versicherungsbetrüger

28.09.2006
Zu einer scharfen Waffe im Kampf gegen überhöhte Abrechnungen hat der Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK) sein "InfoNet" entwickelt.
Die Systemarchitektur des BKK-Warehouse
Die Systemarchitektur des BKK-Warehouse

Von CW-Redakteurin Karin Quack

Projektsteckbrief

Projektart: Einführung und Ausbau eines Data Warehouse ("InfoNet")

Umfang: Für derzeit 1275 Nutzer; 10 TB Kapazität, die größte Tabelle umfasst 760 GB mit knapp 3 Milliarden Datensätzen.

Branchen: Versicherungen, Gesundheitswesen, öffentliche Körperschaft.

Zeitrahmen: von 1996 bis zur Gegenwart.

Stand heute: Der Umstieg auf die 2002 in Angriff genommene Web-Version ist auch in der Breite nahezu vollzogen.

Produkte: Teradata V2R6.1, Cognos ReportNet, BI Query von Hummingbird (Auslaufmodell).

Dienstleister: für die Einführung hauptsächlich Teradata, der Betrieb erfolgt inhouse.

Aufwand: internes Team aus zehn bis zwölf Mitarbeitern plus sechs bis acht externe Projektmitglieder.

Herausforderungen: Schwierigkeiten mit dem Web-Frontend-Werkzeug; problematische Datenqualität.

Der Bundesverband in Zahlen

• Der in Essen ansässige BKK Bundesverband beschäftigt rund 350 Mitarbeiter.

• Er fungiert als Dachverband und Dienstleister für die acht Landesverbände, in denen die knapp 200 Betriebskrankenkassen in Deutschland zusammengefasst sind.

• Deren Spannbreite reicht von der streng firmenbezogenen Kasse bis zu einer für alle Arbeitnehmer offenen Versicherung und von 1000 bis zu einer Million Mitglieder.

• Insgesamt steht der Verband für zirka 14 Millionen Versicherte, von denen rund fünf Millionen erst in den vergangenen zehn Jahren - also seit der Marktöffnung - hinzugekommen sind.

• Im selben Zeitraum konnten die Betriebskrankenkassen ihren Marktanteil bei den gesetzlichen Versicherungen von zehn auf 20 Prozent verdoppeln.

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581531: Steigende Datenflut erhöht unternehmerische Risiken;

573303: Data Warehouse analysiert RFID- Daten;

573382: Einführung der Gesundheitskarte wird sich verzögern.

Best Practice

• Die Ausschreibungsbewerber wurden neben vorgefertigten Queries auch mit spontanen Abfragen konfrontiert.

• Die Tool-Entscheidung ist nicht in Stein gemeißelt. Wenn Schwierigkeiten auftauchen, wird sie zur Disposition gestellt.

• Da das System von vorneherein mandantenfähig ausgelegt ist, lassen sich mit wenig Aufwand auch Dritte anschließen.

• Aufgrund der flexiblen Architektur ist im Fusionsfall nur ein Eintrag in der Berechtigungstabelle zu ändern.

• Ein internes Reporting-System soll die Qualität der eingehenden Daten trans- parent machen.

Die gesetzlichen Krankenkassen stehen nicht unbedingt im Verdacht, besonders innovativ zu sein. Und doch hat der BKK Bundesverband eine Data-Warehouse-Lösung geschaffen, die auch den privaten Versicherungen als Vorbild dienen könnte. Sie dürfte sich schon allein dadurch auszahlen, dass sie hilft, den allgegenwärtigen Versicherungsbetrug einzudämmen, so Hartmut Scholz, CIO des Verbands.

Über Nacht im Wettbewerb

Vor knapp zehn Jahren initiierte die damalige Bundesregierung ein Gesetz, das den gesetzlich Versicherten die Möglichkeit eröffnete, ihre Kasse frei zu wählen. Damit war die Organisation der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) quasi von einem Tag auf den anderen dem Wettbewerb unterworfen.

Der BKK-Bundesverband sah die neuen Spielregeln als Chance, die es schnell zu nutzen galt: Als Kopfstelle für die von den Leistungserbringern - Ärzten, Kliniken etc. - übermittelten Daten beschloss der Verband, diese auszuwerten, um seinen Mitgliedsversicherungen einen Informationsvorsprung gegenüber den Mitbewerbern im GKV-Markt zu verschaffen. Das bot sich auch deshalb an, weil die Abrechnungen - aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahr 1993 - nun elektronisch geliefert wurden und Standardvorgaben gehorchen sollten.

Langwierige Abstimmung

Von der Idee bis zur Umsetzung waren allerdings noch einige Hindernisse zu überwinden: Der Bundesverband wird von den Betriebskrankenkassen finanziert und untersteht der Aufsicht des Bundesministeriums für Gesundheit. Insofern durchlaufen alle seine Entscheidungen einen langwierigen Abstimmungsprozess. "Den Vertrag hinzukriegen hat zwei Jahre gedauert", berichtet Scholz. Offenbar ist es aber gelungen, die Krankenkassen von den Vorteilen des Datensammelns und -analysierens zu überzeugen.

Das ist umso bemerkenswerter, als damals noch unklar war, worauf diese Bemühungen hinauslaufen würden. Das Gesetz schrieb dem Bundesverband einige Aufgaben vor, die er hinsichtlich Datenzusammenführung und -aufbereitung für die Betriebskrankenkassen wahrnehmen musste; das war quasi der Grundstein des Data Warehouse. Doch welche Daten darüber hinaus wofür von Nutzen sein würden, stand keineswegs fest.

"Unter den Versicherungen herrschte große Verunsicherung", erinnert sich Scholz. "Wenn niemand weiß, wie sich die Situation entwickeln wird, ist es schwierig, proaktiv zu werden." Doch es zeichnete sich bereits ab, dass das Geheimnis des Wettbewerbsvorsprungs in der intelligenten Nutzung der verfügbaren Informationen liegen würde. Deshalb hielt es der Verband für wichtig, die 300000 Input-Dateien, die er monatlich erhält, auf die ihnen innewohnenden Informationen abzuklopfen.

Ad-hoc-Abfragen entscheidend

Die notwendige Technik schrieb der BKK Bundesverband europaweit aus, denn es war klar, dass die Kosten sicher die 400000-Mark-Grenze übersteigen würden. Wie hoch sie tatsächlich ausfielen, verrät Scholz allerdings nicht. Neben dem "Hauslieferanten" Siemens bewarben sich seinerzeit auch SAS Institute auf DEC-Hardware sowie Teradata auf NCR um den Auftrag. Warum sich Teradata schließlich durchsetzte, begründet Scholz mit dem besseren Abschneiden bei den Ad-hoc-Auswertungen: Neben vorgefertigten Queries konfrontierte der Bundesverband die Bewerber auch mit spontanen Abfragen, die innerhalb einer festgelegten Zeit zu einer Antwort führen mussten.

Risikoselektion verboten

1997 begann ein Team, das sich aus Analysespezialisten der Fachabteilung und Datenbankexperten aus der IT sowie einer Handvoll Teradata-Mitarbeiter und Freelancer zusammensetzte, eine Data-Warehouse-Architektur aufzubauen. (Den heutigen Stand der Technik zeigt die Grafik "Die Systemarchitektur".) Damit wurden die Grundlagen geschaffen, um die Forderung des Gesetzgebers nach mehr Transparenz im Gesundheitswesen zu erfüllen und den Krankenkassen ein Mittel an die Hand zu geben, mit dem Ärzte, Krankenhäuser, Heilpraktiker, Therapeuten und Pflegedienste besser kontrollierbar wurden.

"Unser Fokus liegt primär auf den Leistungserbringern, nicht auf den Patienten", konstatiert Scholz, "denn den gesetzlichen Krankenkassen ist die Risikoselektion verboten". Es gibt allerdings einen Fall, wo individuelle Patientendaten für Potenzial- anaysen herangezogen werden: bei der Entwicklung von "Disease-Management-Programmen" (DMP) für chronisch Kranke.

Empfehlungen und Beratung

Mit Hilfe des Data Warehouse wäre es auch möglich, die potenziellen Auswirkungen geplanter Gesundheitsreformen schon im Vorfeld zu untersuchen. Im Fall eines weit verbreiteten Vorurteils konnte der Verband auf diese Weise auch schon Klarheit schaffen: Die Hypothese, dass die "Doctor Hopper" die Gesundheitskosten in die Höhe treiben würden, ließ sich anhand einer genauen Analyse der Daten entkräften. Wie die Zahlen auswiesen, fällt der Anteil der Patienten, die fünf oder mehr Ärzte in einem Quartal konsultierten, kaum ins Gewicht.

Häufiger als für solche politischen Fragestellungen wird das System allerdings genutzt, um die Angebote der Leistungserbringer zu evaluieren und "Empfehlungen" an die Adresse der Versicherten zusammenzustellen beziehungsweise um die Ärzte mit "Arzneimittelberatungen" zu versorgen.

Vier Ebenen der Auswertung

Die Auswertungen geschehen auf vier Ebenen:

• Die Verbandsinformatiker ermitteln Routine-Auswertungen in Batch-Läufen und stellen sie den Kassen standardisiert zur Verfügung.

• Daneben können die Sachbearbeiter des Verbands selbst Standard-Reports erstellen.

• Dasselbe gilt für die Sachbearbeiter der Mitgliedskassen.

• Zu guter Letzt lassen sich mit Hilfe von Front-end-Tools freie Auswertungen vornehmen, wozu die Kassen ein jeweils aktuelles Abbild des Datenmodells benötigen.

Die Übermittlung des Datenmodells stellte sich in der Vergangenheit als ein sehr aufwändiger Vorgang dar: Bei jeder Aktualisierung waren zwei- bis dreimal pro Jahr rund 900 CDs zu verschicken. Deshalb entschied der Verband vor etwa vier Jahren bereits, das System Web-fähig zu machen.

Ein wenig abenteuerlich gestaltete sich die Suche nach dem geeigneten Abfragewerkzeug für die Web-Version. Die Wahl war ursprünglich auf "Impromptu" von Cognos gefallen, das der Anbieter aber ziemlich bald durch die Nachfolgelösung "ReportNet" ersetzte. Davon wollte der Verband die Komponenten "Query Studio" und "Report Studio" nutzen. Doch die Performance des Systems ließ zu wünschen übrig. Die Wartezeiten lagen mit vier Sekunden "deutlich" über den Werten der Client-Server-Version, beteuert Wolfgang Peters, ein freiberuflicher Informatiker, der das Projekt von Anfang an begleitet hat. Darüber hinaus hätten sich die mit Impromptu entwickelten Lösungen nicht mit ReportNet vertragen.

Kurzerhand wollte der BKK Bundesverband das Cognos-Produkt hinauswerfen und den Markt neu sondieren. Aber "durch die Hintertür", so Scholz, sei das Werkzeug wieder hineingekommen: Bei der Evaluation habe es besser abgeschnitten als die Konkurrenz, zudem sei der Anbieter dem verärgerten Kunden auch in preislicher Hinsicht entgegen gekommen.

Allerdings drohen schon wieder dunkle Wolken am Horizont. Laut Peters möchte der Verband gern auf "Cognos 8" umsteigen - vor allem, um dessen Analysefunktionen zu nutzen. Aber die jüngste Version der Cognos-Werkzeuge erfordere wiederum einen "immensen" Migrationsaufwand.

Benchmarks gegen Gesamtheit

Es gibt einige Mitgliedskassen, die sich bislang noch nicht mit der Web-Lösung anfreunden können. Aber der überwiegende Teil ist bereits umgestiegen. So können sie ihre eigenen Daten selbst auswerten und Benchmark-Untersuchungen gegen die Gesamtheit der Mitglieder fahren. Eins-zu-eins-Vergleiche mit anderen BKKs sind allerdings nicht möglich - aus gutem Grund, wie Scholz erläutert: "Wir möchten unseren Marktanteil insgesamt erweitern, haben aber kein Interesse daran, dass sich die Mitglieder gegenseitig die Versicherten abwerben".

Die Leistungsdaten werden drei Jahre rückwirkend gespeichert. Bei rund 100 Millionen Fällen pro Jahr sind ungefähr zwei Milliarden Datensätze gleichzeitig aktiv im Einsatz. Die meisten der 1275 namentlich bekannten Nutzer arbeiten bei einer der BKKs. Da das System von vornherein mandantenfähig ausgelegt ist, lassen sich aber auch fremde Kassen anschließen. Von dieser Möglichkeit hat auch schon eine verbandsfremde Versicherung Gebrauch gemacht: die HKK Bremen.

Besonders stolz ist Scholz darauf, dass er für den relativ häufig eintretenden Fusionsfall vorgesorgt hat. Aufgrund der flexiblen Architektur müsse lediglich ein Eintrag in der Berechtigungstabelle geändert werden, wenn sich wieder einmal zwei Kassen miteinander verheiraten.

Eine "Herausforderung" ist laut Scholz aber immer noch die mangelhafte Datenqualität. Den Ärzten sei nur schwer Disziplin beizubringen. Deshalb arbeiten der CIO und sein zehn- bis zwölfköpfiges Data-Warehouse-Team derzeit an einem internen Reporting-System, mit dem die Qualität der eingehenden Daten zumindest transparent gemacht werden kann.

Ein anderes - mittlerweile gelöstes - Problem betraf den Datenschutz. Drei Jahre habe es gedauert, bis alle Aufsichtsbehörden ihr Plazet gegeben hätten, berichtet Scholz. Dabei sei die Zustimmung der Bundesebene erheblich schneller erfolgt als die der Länder.

Die Frage nach dem Return on Investment weist Scholz genauso zurück wie die nach der Investitionshöhe. Die BKKs hätten sich darüber sicher Gedanken gemacht, behielten das Ergebnis aber für sich. Allerdings lasse sich der Investitionsaufwand aus seiner Sicht schon allein dadurch rechtfertigen, dass es nun endlich möglich sei, Versicherungsbetrüger zu entlarven.