Supply-Chain-Management/Die Vorteile und Fußangeln der Radio Frequency Identification

Vorsicht vor zu viel RFID-Euphorie

18.04.2003
Konsumartikelhersteller wie Procter & Gamble oder Gillette und Handelskonzerne wie Walmart oder Metro haben die ersten Projekte gestartet; das Thema Radio Frequency Identification (RFID) nimmt allmählich Fahrt auf. Die Vorteile für das Supply-Chain-Management liegen auf der Hand; die notwendigen Voraussetzungen sind weniger bekannt. Doch über die sollte Bescheid wissen, wer nicht einer weiteren Technikeuphorie anheim fallen will. Von Bruce Hudson*

Die Industriebeobachter spüren wieder einmal das gewisse Kribbeln: Sobald die Kosten der elektronischen Etiketten erst die magische Grenze von fünf Eurocent unterschreiten, so sagen sie, wird das Thema RFID seine Breitenwirkung entfalten. Klingt ganz so, als stünde uns ein alter Bekannter ins Haus: der Techno-Hype.

RFID-Pioniere wie Procter & Gamble oder Gillette hoffen, mit Hilfe der neuen Technologie ihre Kosten zu drücken und ihre Umsätze zu heben. Die erträumten Vorteile lassen sich tatsächlich erzielen, weshalb der Technik eine glänzende Zukunft beschieden sein könnte. Aber es gibt viele offene Fragen rund um Hardware, Software, Standards, Einsatz, Anbieter, ja sogar die physische Beschaffenheit der RFID-Lösungen. Für ein Unternehmen, das den Einsatz der Technik in Erwägung zielt, zahlt es sich aus, über diese Dinge nachzudenken. So wird es immun gegen jeden Anflug von Überschwang.

Was ist eigentlich RFID? Zuallererst: Es handelt sich dabei eher um ein komplettes System als um eine einzelne Komponente. Dieses System dient der Identifikation physischer Objekte, die mit einem Radiowellen entsendenden "Transponder" ausgestattet sind. Dazu muss die Lösung drei Basiselemente aufweisen:

1. Der Transponder besteht aus einem Speicherchip und einer kleinen Antenne. Er sendet permanent die auf dem Miniprozessor gespeicherten Daten aus, die Art und Herkunft des jeweiligen Objekts bezeichnen. Die dafür notwendige elektrische Energie bezieht er entweder aus einer Batterie oder aus den Radiowellen selbst.

2. Ein Scanner oder Lesegerät tastet die Etiketten ab und saugt die übermittelten Informationen auf.

3. Ein Softwarewerkzeug bereitet diese Daten so auf, dass sie beispielsweise für das Supply-Chain-Management nutzbar werden.

RFID-Systeme gehören zur Familie der Auto-ID-Techniken. Ihren Geschwistern Barcode und Magnetstreifenkarte haben sie vor allem eines voraus: Sie identifizieren ein Objekt auch ohne Sichtkontakt. Ein Barcode-Scanner erkennt die schwarzen und weißen Streifen nur dann, wenn er sie frontal vor der Linse hat. RFID-Etiketten dürfen ruhig kreuz und quer liegen; sie können sich sogar aus dem Innern eines Kartons heraus bemerkbar machen.

Darüber hinaus punkten die Tags auf zwei Feldern: Sie sind relativ unempfindlich gegen Wasser und Schmutz, was sie für den Gebrauch in rauen Umgebungen prädestiniert. Und sie lassen sich während der Einsatzzeit umprogrammieren. So können sie jeweils die Informationen übermitteln, die für Ort oder Zeitpunkt des Scannens relevant sind.

Für eine Menge Begeisterung sorgt derzeit das Thema Supply Chain Event Management (SCEM). Mit Recht - handelt es sich hier doch um nichts weniger als die Möglichkeit, aus der Interpretation bestimmter Vorkommnisse heraus automatisch einen Geschäftsprozess anzustoßen, wodurch die Supply Chain nicht nur insgesamt schneller ablaufen, sondern auch wesentlich direkter als bisher auf die jeweilige Situation reagieren kann. (Mehr Informationen zu diesem Thema hat der Artikel auf Seite 38 zu bieten, Anm. d. Red.)

Über all der Aufregung werden jedoch einige Schlüsselfaktoren vernachlässigt, wenn nicht völlig außer Acht gelassen. Zum einen beruht das Event-Management auf einer wirklichen Transparenz der Wertschöpfungskette. Davon sind wir derzeit aber weit entfernt: Die vorhandenen Instrumente zeichnen statische Bilder von den "Einheiten auf Lager" (der Fachbegriff lautet Stock Keeping Units, kurz SKUs).

Wie zeitnah und verlässlich diese Information ist, hängt zweitens davon ab, auf welche Weise sie zustande gekommen ist. Entscheidet beispielsweise ein Lagerarbeiter, den lästigen Papierkram mit der Empfangsbestätigung erst nach dem Mittagessen zu erledigen, dann beeinträchtigt er den Prozess durch eine Verzögerung, deren Auswirkungen nicht überschaubar sind. Zudem treten Fehler auf, wenn er die Quantitäten einfach vom Frachtbrief übernimmt, anstatt selbst nachzuzählen. Eine schmerzhafte Transparenzlücke entsteht darüber hinaus, wenn die Waren von einer Third-Party-Spedition transportiert werden, die nicht in die Supply-Chain-Software integriert ist.

Weniger Lager, mehr Sicherheit

Genau so ist es derzeit um die Informationen bestellt, die in eine SCEM-Software eingespeist werden. RFID schafft hier Abhilfe: Die Ware - oder wohl eher der Karton beziehungsweise die Palette - wird durch einen Tag gekennzeichnet und mit Hilfe eines auf der Laderampe installierten Lesegeräts identifiziert. Auf diese Weise lässt sich der Empfang automatisch, eindeutig und zeitnah verbuchen.

Auf ein Warenlager oder auch ein Kaufhaus übertragen, eröffnet dieses kleine Szenario die Möglichkeit eines Echtzeitblicks auf die vorhandenen Mengen und den jeweiligen Lagerort eines Produkts. Werden andere Sensordaten einbezogen, beispielsweise von einem Thermometer, so lässt sich der tatsächliche Zustand jedes Objekts beobachten und bewerten. Auf dieser Detaillierungsebene erlaubt das System dem Hersteller, Distributor oder Händler, alle Warenströme (die ein- und ausgehenden sowie die zurückgewiesenen) weniger fehleranfällig und effizienter zu managen. Dadurch verringert er seinen Lagerbedarf und ist gleichzeitig besser gewappnet gegen Nachschubmangel (Stockouts) oder Verlust durch Diebstahl, Überschreitung des Verfallsdatums und Schäden durch Umweltfaktoren.

Open-Source-Middleware

SAP arbeitet seit einigen Jahren daran, die Datenströme aus der RFID-Technik in den eigenen "Supply Chain Event Manager" einfließen zu lassen. Das Softwareunternehmen hat dabei sicher Fortschritte gemacht und stellt - Ehre, wem Ehre gebührt - die Avantgarde der Standardsoftware-Anbieter. Allerdings bleibt SAP stets abhängig von der Software, die die Datenströme direkt am Lesegerät verwaltet. Diese Softwareschicht ist wichtig für die Koordination der Daten, die von unterschiedlichen Lesegeräten oder "intelligenten Regalen" übermittelt werden. Sie soll sicherstellen, dass die SAP-Software nur gültige und relevante Informationen verarbeiten muss.

Eine solche Anwendung gibt es derzeit aber nicht - jedenfalls nicht als fertiges Paket. Allerdings arbeitet das Auto-ID Center derzeit an einer solchen Middleware, die es auf den Namen "Savant" getauft hat. Nach dem Willen dieses nicht kommerziellen Konsortiums, das sich der Definition von Industriestandards und der Entwicklung entsprechender Lösungen verschrieben hat, soll der Quellcode der Lösung offen verfügbar sein und als Standard für die RFID-Industrie fungieren. (Eigenen Angaben zufolge hat SAP eine selbst entwickelte Alternative in petto, Anm. d. Red.)

Fallstricke und Stolpersteine

Keine Technologie ohne Nachteile - das gilt auch für RFID. Zwar zieht die Hardware die meiste Aufmerksamkeit auf sich, doch im Grunde ist sie der Teil der Lösung, der den höchsten Reifegrad erreicht hat. Die Kosten sinken unaufhörlich, und mit der Verbesserung der Fertigungsprozesse rücken Preisregionen in greifbare Nähe, die einen hohen RoI ermöglichen. Eine größere Herausforderung stellt da schon die reine Physik dar: Weil unterschiedliche Materialien auch ein unterschiedliches Absorptionsverhalten an den Tag legen, gibt es keine "One-Tag-fits-all"-Lösung.

Noch problematischer ist jedoch der Mangel an Standards für die zu nutzenden Frequenzen, die Übertragungsleistung der Lesegeräte und die Datenprotokolle. Die Zuteilung des Radiowellen-Spektrums steht normalerweise unter staatlicher Kontrolle - mit dem Ergebnis, dass die Frequenz, die in einem Teil der Welt verwendet wird, in einem anderen vielleicht gar nicht zur Verfügung steht. Die Übertragungsleistung ist in ähnlicher Weise reguliert. Folglich müssen sowohl die Etikettenauswahl als auch die physische Scanner-Auslegung diese Unterschiede über die gesamte Supply Chain hinweg berücksichtigen.

Keine Standards für Datenformate

Sind die Daten schließlich gescannt, stellt sich die Frage, was damit anzufangen ist. Derzeit gibt es für die Datenformate - im Gegensatz zu den Barcodes - keinerlei Standards. Ein Etikett aus Unternehmen A mag sich genauso leicht lesen lassen wie eines aus Unternehmen B; trotzdem sind die Datenformate möglicherweise inkompatibel zum System. Schließlich und endlich existieren auch keine vorgefertigten Softwarepakete für die Handhabung der Datenströme sowie die Verwaltung der Datenbank. Das allein lässt die für Einsatz und Maintenance zu veranschlagenden Kosten in die Höhe schnellen.

Fünf goldene Regeln

Die Unternehmen, deren RFID-Einführung im Rahmen der Supply Chain von Erfolg gekrönt war, haben fünf "goldene Regeln" beachtet:

1. Implementieren Sie RFID als Ergänzung zu anderen Auto-ID-Techniken - nicht als Ersatz dafür. Sicher kann RFID den Barcode ersetzen, aber in vielen Fällen ist das wirtschaftlicher Unsinn. Die Händler wissen längst, dass sie keinen Vorteil davon haben, wenn sie geringwertige und wenig risikoträchtige Artikel mit Etiketten ausstatten, die möglicherweise mehr kosten als der Gegenstand selbst. Anders verhält es sich mit Kisten und Paletten. Hier angebrachte Tags vereinfachen die Lagerbestandsführung.

2. Identifizieren Sie das tatsächliche Problem, bevor Sie die Technik in Betrieb nehmen: Im Lager eines Fertigungsunternehmens gab es wiederholt Ärger wegen fehlender Bestände und inkorrekter Zählergebnisse. RFID-Technik schien hierfür eine Lösung zu bieten - doch die Probleme blieben nach wie vor dieselben. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass die eigentliche Ursache auf Seiten der Arbeiter lag. Erst als die damit zusammenhängenden Fragen geklärt waren, konnte die RFID-Technik ihre Vorteile ausspielen.

3. Legen Sie den Schwerpunkt auf Software und Datenbank-Management: Der Aufwand hierfür übersteigt die Hardwarekosten eines RFID-Projekts erheblich. Unternehmen, die sich mit regulierten oder sicherheitssensitiven Produkten befassen, also zum Beispiel mit Arzneimitteln oder Flugzeugteilen, müssen bei der Systemgestaltung die Zertifizierungsanforderungen der jeweiligen Industrie beachten. Anderenfalls kommt Sie das wesentlich teurer zu stehen als das gesamte Projekt.

4. Betreiben Sie Erwartungs-Management: Ein RFID-Projekt ist Maßarbeit. Von der Auswahl der Tags über die Platzierung der Lesegeräte bis zur Integration mit dem Supply-Chain-Management-System erfordert jede Implementierung eine detaillierte Analyse der Lösungsmöglichkeiten. Experimentieren gehört zum Prozess; es ist unerlässlich für die Abstimmung des Systems.

5. Statten Sie das Projekt mit genügend Mitarbeitern aus: Der Markt für die Integration von RFID-Systemen ist erheblich größer als die Anzahl von RFID-erfahrenen Systemintegratoren. Das führt nicht nur zu einem ständigen Kommen und Gehen von Anbietern, sondern auch zu einem stetigen Wechsel von Know-how-Trägern. Um das Implementierungsrisiko zu verringern, sollten sie deshalb genug eigene Ressourcen für das Projekt aufwenden.

*Bruce Hudson ist Program Director bei der Meta Group Inc. Die Übersetzung besorgte CW-Redakteurin Karin Quack.

Angeklickt

Radio Frequency Identification, kurz: RFID, ist derzeit in aller Munde. Der vorliegende Beitrag soll klären, was die neue Technik für das Supply-Chain-Management leisten kann. Unter anderem erläutert er:

- Wie sich ein RFID-System zusammensetzt,

- wo die Vorteile gegenüber anderen Auto-ID-Techniken liegen,

- woran das Supply-Chain-Event- Management gemeinhin krankt,

- weshalb auch SAP den Stein der Weisen noch nicht gefunden hat,

- was das Auto-ID Center hieran ändern kann und

- welche Herausforderungen auf Anbieter wie Anwender zukommen.

Links

Standardisierungsgremium:

Auto-ID Center:

http://www.autoidcenter.org

Tag-Hersteller:

Texas Instruments:

http://www.ti.com/tiris

Philips:

http://www.semiconductors.philips.com/markets/identification/products/icode

Alien Technology:

http://www.alientechnology.com

Rafsec:

http://www.rafsec.com

X-ident:

http://www.x-ident.de

Tagsys:

http://www.tagsys.net

Matrics:

http://www.matricsrfid.com

ASK:

http://www.ask.fr

Systemintegratoren:

Moba:

http://www.moba.de

Lab ID:

http://www.lab-id.com