Verfahren zur Stabilisierung von Anwendungssystemen, oder

Vorhandene Systeme werden ständig renoviert und umgebaut

21.09.1990

Das Warenwirtschaftssystem der Rewe Bad Homburg, einem der größten deutschen Einzelhandelsunternehmen der Bundesrepublik, wird ständig entsprechend dem Größenwachstum fortentwickelt und gleichzeitig konsolidiert. Der Autor schildert in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Kontroll- und Abstimmverfahren für die Stabilisierung von Anwendungs-Systemen.

Vorhandene kommerzielle DV-Anwendungssysteme sind über Jahre oder sogar Jahrzehnte gewachsen. Was bei Baubeginn ein Einfamilienhaus werden sollte, ist inzwischen ein in sich mehrfach verschachteltes Hochhaus geworden. Würde man heute bauen, würde man vieles anders und besser machen. Die Hardware, und Softwaretechnologie hat erhebliche (wenn auch häufig überschätzte) Fortschritte gemacht. Vor allem wurden aufgrund der Erfahrung Lösungswege (teils über Umwege) gefunden, die man jetzt gradlinig ansteuern würde. Auch würde man heute zum Beispiel für Dokumentation von Anfang an mehr Aufwand vorsehen, um die Wartbarkeit solcher Systeme zu optimieren.

Ein vollständiger Neubau eines Anwendungssystems, wäre er Oberhaupt nötig, verbietet sich aus Wirtschaftlichkeits- wie auch aus Praktikabilitätsgründen. Standardsoftware steht für den Lebensmittelhandel in dem erforderlichen Leistungsumfang zur Zeit nicht zur Verfügung.

Die vorhandenen Systeme sind Dauerbaustellen. Einerseits wird fortentwickelt, um neuen Anforderungen gerecht zu werden (zum Beispiel Marktinformationssysteme), andererseits wird beständig renoviert und umgebaut. Über permanente Konsolidierungen werden teilweise vollständige Anwendungszweige erneuert, unter Umständen verbunden mit einem Wechsel der eingesetzten Hardware.

Somit verfolgt das Unternehmen für die eigenerstellte Software analog zu marktgängigen Standardsoftwaresystemen ein Versions- und Releasekonzept. Eine solche " Migrationsstrategie" kann man natürlich nur verfolgend wenn die Grundkonzeption des Systems einen Ausbau und einen sukzessiven Umbau Oberhaupt zuläßt.

So werden auf bewährten Grundstrukturen des Warenwirtschaftssystems Anpassungen an ständig steigende Anforderungen vorgenommen.

Alle Anwendungssysteme, besonders wenn sie einem ständigen Wandel unterzogen werden, sind fehleranfällig. Mit dem Komplexitätsgrad dieser Systeme nimmt die Fehleranfälligkeit zu. Empirisch nachweisbar ist, daß Fehler in der Softwareproduktion grundsätzlich nicht auszuschließen sind. Mit Hilfe geeigneter Methoden und Werkzeuge (Testverfahren, Qualitätskontrollen und andere) geht es ja darum, die Fehlerrate zu minimieren.

Die Anforderungen an ein Warenwirtschaftssystem

Das Warenwirtschaftssystem der Rewe hat inzwischen einen hohen Komplexitätsgrad erreicht. Zentralverfahren auf Hostrechnern (IBM/MVS) kommunizieren mit verschiedenartigen Subsystemen. Die Betriebsdaten der Märkte (Bestelldaten) werden über Verfahren der mobilen Datenerfassung gesammelt und versandt; umgekehrt werden zum Beispiel Scanner-Kassen mit zentralen Stammdaten versorgt. Das Warenwirtschaftssystem wiederum steht im Verbund zu anderen Systemen wie der Finanzbuchhaltung, Unternehmensdatenbank, Kostenrechnung etc.

Die Verarbeitung muß tage- und teilweise stundengenau erfolgen. Längere Unterbrechungen der Abläufe hätten fatale Folgen (zum Beispiel keine Belieferung der Märkte). Es müssen alle Geschäftsvorfälle verarbeitet werden - und zwar vollständig, richtig und termintreu. Falls Fehler auftreten, müssen diese möglichst sofort erkannt werden, um ihre Beseitigung zu veranlassen.

Ausgesprochene Zielsetzung der Verantwortlichen für die Informationsverarbeitung des Hauses war daraus folgend die präventive Gewährleistung der Verarbeitungssicherheit im Sinne einer aktiven Sicherheit, das heißt einer Bestätigung, daß in einem gegebenen Zeitraum nichts passierte, und wenn Fehlersituation auftreten, einer Bewertung, Lokalisation und Ursachenfindung der Fehler zwangsläufig erfolgt. Das vitale Unternehmensinteresse, die Sicherheit, daß alle Geschäftsvorfälle störungsfrei, lückenlos und periodengerecht verarbeitet wurden, deckt sich zudem mit den Anforderungen des Gesetzgebers und der Finanzbehörden hinsichtlich der Einhaltung der Grundsätze ordnungsmäßiger (DV-gestützter) Buchführung.

Eine qualitative Verbesserung des internen Kontrollsystems dieses Anwendungskomplexes läßt sich am wirkungsvollsten durch ein Abstimmungssystem erreichen. Ein Projekt unter Mitarbeit der Anwendungsentwicklung, des Rechenzentrums und der EDV-Revision war für das Konzept, die Entwicklung eines Prototypen und dessen Einführung in die Produktion verantwortlich.

Konkrete Zielsetzung war, über Abstimmverfahren den Nachweis der Vollständigkeit der Verarbeitung aller Geschäftsvorfälle entsprechend den Verarbeitungsregeln zu erbringen. Alle Bestellungen müssen im System weitergereicht werden, zur Kommissionierung führen, falls die Ware vorhanden ist, die Fuhren müssen fakturiert und gebucht werden, die Bezieher (Markt/Kunde) müssen be- oder entlastet werden, schließlich müssen alle warenwirtschaftlichen Vorgänge in die Finanz- und Betriebsbuchhaltung gelangen.

In der Buchhaltung übliche Kontrollen werden mittels des Vergleichs von Summen addierter Geschäftsvorgänge durchgeführt, die sachlich analogen Verarbeitungsregeln unterliegen (Soll-und-Haben-Gleichheit). Dies auf dem Abgleich von Abstimmsummen beruhende Kontrollverfahren läßt sich auf alle Informationssysteme übertragen. In einem Warenwirtschaftssystem müssen alle bestellten Waren mit aktuellen Preisen bewertet werden, es sei denn, die Waren sind nicht bestellfähig und daher nicht bewertbar. In einem Abstimmverfahren (Menge der bestellten Waren = Menge der bewerteten Warenbewegungen) müßte unter Umständen die Menge nicht bewertbarer Waren in Abzug gebracht werden. Die bewerteten Warenbewegungen müssen zu Belastungsanzeigen für die Beziehenden (Markt/Kunde) und zu einer Entlastung zum Beispiel des Lagers führen und schließlich periodengerecht verbucht werden.

Nach sachlogischen wie nach ablauforientierten Gesichtspunkten lassen sich Abstimmkreise bilden, deren Summenidentität Nachweis der richtigen Verarbeitung ist.

Die Analyse des bestehenden Anwendungssystems ergab, daß es häufig zwischen einzelnen Programmschritten Abstimmungen gibt, entweder organisatorisch durch manuellen Vergleich der Abschlußsummen auf Listen oder sogar Listenausgabe von Abstimmergebnissen. Was fehlte, war ein Abstimmsystem über die gesamte Anwendung hinweg.

Im Fachkonzept wurde ein Abstimmnetz entworfen. Es wäre unwirtschaftlich alles mit allem abzustimmen. Die einzelnen Abstimmkreise wurden unter folgenden Gesichtspunkten gebildet, wobei das Netz zur Minimierung des Abstimmaufwandes möglichst grobmaschig, aber fein genug, um Fehler zu entdecken, entworfen werden sollte:

- sachlogische Zusammenhänge (Bewerten = Verbuchen)

- DV-technische Zusammenhänge

- bekannte Schwachstellen (zum Beispiel im Jobablauf).

Die einzelnen Abstimmsegmente sind in sich geschlossen, ihre Verknüpfung ergibt die Gesamtabstimmstruktur in Gestalt eines Netzes. Dieses Vorgehen ermöglicht neben konzeptionellen Vorteilen eine schrittweise Einführung eines solchen Systems.

Die Anforderungen ein die Abstimmsoftware

Für die DV-technische Realisierung wurde eine Abstimmsoftware vorgesehen die gemäß eines zu diesem Zwecke erstellten Pflichtenheftes folgendes leisten muß:

- Monitoring, das heißt definierte Abstimmprozesse nach festgelegten Abstimmalgorithmen überwachen (Frühwarnsystem)

- Fehlerdiagnose, das heißt, es muß Hinweise auf Fehlerquellen liefern, um gezielte Fehlerkorrekturen einleiten zu können.

- Steuerung des RZ-Betriebsablaufs, das heißt, daß die Möglichkeit gegeben sein muß, aufgrund erkannter Fehler Konsequenzen hinsichtlich der weiteren Verarbeitung ziehen zu können (zum Beispiel Jobabbruch)

- Bestätigung der Ordnungsmäßigkeit durch eine aussagefähige Berichterstattung

- Nachvollziehbarkeit der Abstimmverfahren selbst durch eigene Dokumentation und Möglichkeit, die installierten Verfahren nachvollziehbar zu dokumentieren

- Re-Start unterbrochener Prozesse unterstützen.

Aufwandsschätzungen für die Eigenentwicklung einer Software, die anwendungsunabhängig Abstimmungen unterstützt, hatten ergeben, daß ein solches Vorgehen wirtschaftlich nicht vertretbar ist. Das Produkt BETA91 (Automated Balancing & Quality Management System) der BETA-Systems Berlin erfüllte unsere Anforderungen als Baustein im internen Kontrollsystem.

In Tests wurde ein Prototyp entwickelt für eine "Masche" des Abstimmnetzes.

Die Abstimmverfahren werden nach üblichen Softwareerstellungsmethoden produziert. Das Rechenzentrum überwacht die Abstimmverfahren.

Strukturierte Abstimmverfahren sind ein geeignetes Mittel, Anwendungssystemen Stabilität zu verleihen. Fehler sind nicht auszuschließen, sie müssen aber erkannt werden, um auf Konsequenzen reagieren und Ursachen beseitigen zu können.

2500 Jobs und 800 Programme

Die Einheitliche Warenwirtschaft (EIWW) der Rewe Bad Homburg ist ein im wesentlichen selbsterstelltes DV-gestütztes Anwendungssystem, das nahezu alle warenwirtschaftlichen Geschäftsvorfälle von der Warenbestellung bis zur Marktbelastung bearbeitet. Die Zentralverfahren sind als Großrechneranwendungen integriert (zirka 2500 Jobs und 800 Programme), Teilfunktionen (zum Beispiel Lager) werden in teilautonomen Subsystemen verarbeitet und sind über definierte Schnittstellen mit den zentralen Verfahren verbunden. Vier der sechs Verkaufsregionen sind in das Warenwirtschaftssystem integriert, die beiden letzten werden demnächst folgen. Der Umsatz des Unternehmens von knapp 20 Milliarden Mark (1989) wird im Lebensmitteleinzel- und großhandel sowie im Bereich Unterhaltungselektronik erzielt. Zu den vorhandenen 3500 Lebensmittelfilialen kommen zur Zeit 400 COOP-Märkte hinzu.