"Von Jessi-Förderung profitiert Europas ganze Industrie"

09.12.1988

Mit Dr. Hans Friedrich, Jessi-Projektleiter der Siemens AG, sprachen Dr. Gerhard Vilsmeier und Klaus Westermeier

* Das Jessi-Projekt (= Joint European Submicron Silicon Semiconductor Initiative, d. Red.) wird Milliarden öffentlicher Gelder verschlingen. Wie ist Jessi in einen größeren wirtschaftspolitischen Kontext einzuordnen?

Die europäische Industrie erlebt zur Zeit einen Strukturwandel. Die Elektronik steht dabei im Mittelpunkt: Sie wird zum wichtigsten Industriezweig werden. Die Zukunft dieser Industrie hängt sehr stark davon ab, ob wir in Europa eine hinreichende Position in der Mikroelektronik erreichen. Obwohl der Anteil der Mikroelektronik an den elektronischen Endgeräten nur rund zehn Prozent beträgt, werden in der Mikroelektronik die Weichen über Erfolg und Mißerfolg gestellt.

Jessi nun hat die Aufgabe, die europäischen Anwender mit leistungsfähigster Mikroelektronik zum frühesten Zeitpunkt und in hinreichender Menge zu versorgen. Konkret: Jessi soll mit der Entwicklung des 16- und 64-Megabit-Chips die technologische Basis hierfür schaffen.

* Sie sagen "zum frühesten Zeitpunkt". Aber die japanischen und amerikanischen Firmen haben im Chipmarkt die Nase sehr weit vorn: Während die Europäer mit Jessi noch in der Planungsphase stecken, behaupten japanische Firmen, sie hätten bereits Labormuster der nächsten Chipgeneration!

Das Problem Zeit spielt für uns eine große Rolle, weil die Entwicklung der Mikroelektronik unerhört rasche Fortschritte macht. Alle drei Jahre kommt eine neue Chipgeneration auf den Markt - das bedeutet eine Verbesserung im Preis-Leistungs-Verhältnis um das Drei- bis Vierfache. Diesen Wettbewerbsvorteil müssen die Hersteller nutzen: Wer ein halbes Jahr früher die neue Generation anbieten kann, hat einen kaum mehr aufholbaren Vorteil. In der Tat befinden wir uns in einer Nachlaufsituation gegenüber den Japanern, was die Fertigungstechnik der Chips betrifft. Die Amerikaner sind uns in der Anwendung überlegen. Es ist für uns in Europa höchste Eile geboten, diesen Nachholbedarf zu bewältigen.

Daß die Japaner bereits ein Labormuster des 64-Megabit-Chip hätten, kann ich allerdings in dieser Form nicht bestätigen. Drei japanische Firmen haben in diesem Jahr Muster des 4-Megabit-Chips an ihre Kunden gegeben. Wir haben dies auch getan. Dennoch: Die Japaner stecken bereits sehr stark in der Entwicklung der nächsten Generation.

* Die Europäer müssen aufholen und leiden gleichzeitig unter hohen Entwicklungs- und Fertigungskosten. Daher kam es ja zu der Überlegung, es im europäischen Verbund zu versuchen - in einer Kooperation von Siemens mit Philips, SGS Thomson, Plessey und rund 40 kleineren Partnern. Aber führt das Motto "Größe macht stark" auf den richtigen Weg?

Natürlich ist es am schönsten und einfachsten, wenn man alles alleine macht. Insbesondere dann, wenn es darum geht, in der Entwicklung ein hohes Tempo vorzulegen. Wir müssen aber erkennen, daß die drei großen IC-Hersteller in Europa - Philips, SGS Thomson und Siemens - zusammen immer noch kleiner sind als jeder der vier größten japanischen Hersteller alleine. Hier steht uns in Japan eine Wettbewerbsmacht gegenüber, mit der wir zu konkurrieren haben. Und es gibt nur einen Weg, wenn wir weltweit wettbewerbsfähig sein wollen: Wir müssen die begrenzten Mittel in Europa zusammennehmen. Auf den Gebieten, wo wir ohnehin gleiche Entwicklungen machen müßten, werden wir die Ressourcen gemeinsam einsetzen um eine stärkere Kraft darzustellen.

* Ist nicht dieser europäische Verbund lediglich ein Instrument für die Jagd nach Steuermitteln, das sich in der praktischen Arbeit als wenig förderlich für die Sache erweist?

Die Kooperation zwischen so vielen europäischen Partnern wird häufig als sehr schwierig angesehen. Nun ist ja Jessi nicht die erste Kooperation innerhalb Europas. Es gibt eine Vielzahl von Kooperationen zwischen Halbleiterherstellern, Geräteherstellern und Anwendern.

Die Mittel, die notwendig sind, um die Herausforderung über die nächsten sechs bis acht Jahre zu bestehen, bewegen sich in einer Größenordnung, daß sie von der europäischen Mikroelektronik-Industrie schlichtweg nicht alleine aufgebracht werden können. Das Programm ist für die europäische Industrie als Ganzes gedacht.

Auch in Japan und USA ist die Mikroelektronik ein allgemeines Industriethema und wird vom Staat entsprechend unterstützt. Die europaweite Koordinierung ist insgesamt positiv.

* Wenn der europäische Verbund so wichtig ist, um konkurrenzfähig zu bleiben, warum kam er dann erst jetzt zustande?

Hier müssen Dinge reifen und Voraussetzungen geschaffen werden. Die Erkenntnis der Wichtigkeit der Mikroelektronik für die europäische Industrie war nicht beliebig früh vorhanden ...

* ... sie wurde also nicht erkannt!

Ja, man kann auch sagen, sie wurde nicht erkannt - anders als in Japan!

* Wer hat da nicht reagiert - der Staat oder die Industrieunternehmen?

Es ist schwierig, hier den Schuldigen zu finden. Das ist die Frage nach Huhn oder Ei. Tatsache ist, daß Japan über das MITI eine Industriepolitik betrieben hat, die nicht gleichzusetzen ist mit einer Forschungs- und Entwicklungspolitik, wie sie in Deutschland oder Europa existiert.

* Wenn Sie an das Superministerium MITI denken, blicken Sie da mit Neid nach Japan?

In gewissem Sinn ja.

* Sie müssen jetzt erst einmal die verschiedenen Interessen der Jessi Partner unter einen Hut bringen. Wie soll das aussehen?

Wir stecken in der Diskussion mit den Geräteherstellern zum Teil noch in einer Brainstorming-Phase. Wir sind noch nicht so weit, die Mechanismen der Kooperation benennen zu können.

* Wie sehen denn Ihre Wünsche bezüglich der Aufgabenteilung aus?

Im technologischen Komplex er gibt sich die Verteilung der Aufgaben schon aus der Historie: Siemens hat Erfahrung bei den dynamischen Speichern, Philips auf dem Gebiet der statischen Speicher, SGS Thomson auf dem der Eproms. Gleichzeitig müssen wir als Halbleiterhersteller uns mit den Geräteherstellern zu gemeinsamen Programmen durchringen. Hier geht es beispielsweise darum, über einheitliche Definitionen auf dem CAD-Gebiet zu diskutieren.

* Besonders weit scheinen Sie ja noch nicht zu sein...

In diesem Jahr ist vieles geschehen. Man muß hier aber Schritt für Schritt vorgehen. Ich kann an diese Stelle nicht über all die Einzelheiten sprechen, die diskutiert werden, aber noch nicht festgeschrieben sind. Auf jeden Fall wird in unserem Planungsstab in Itzehoe hart gearbeitet.

* Philips und Siemens haben im Megaprojekt bereits erfolgreich zusammengearbeitet. Von dem italienisch-französischen Konzern SGS Thomson hat man konkrete Vorstellungen. Was erwarten Sie nun von der britischen Plessey, die Siemens zu übernehmen trachtet?

Als Jessi-Verantwortliche stellen wir uns nicht die Frage, wer an der Kooperation teilnehmen oder wer welche Vorteile aus ihr ziehen kann. Für uns lautet die Frage: Wer kann welchen Beitrag für die Zielsetzung von Jessi leisten? Wir sind natürlich überzeugt, daß auch in England eine ganze Menge an Fähigkeiten existiert, die für die Ziele von Jessi wesentlich sein können. Dieser Beitrag liegt aber eher im Bereich der Anwendung.

* Das Bundesministerium für Forschung und Technologie befürwortet den europäischen Verbund. Etwa 50 Prozent der Kosten von schätzungsweise 7,3 Milliarden Mark sollen von der öffentlichen Hand beigesteuert werden. Woher rührt diese Großzügigkeit?

In der Mikroelektronik repräsentiert der europäische Markt rund 20 Prozent des Weltmarktes. Aber in Europa liegt der Anteil, der von europäischen Firmen gefertigt wird, bei deutlich weniger als der Hälfte. Wir unterscheiden uns da deutlich von USA und Japan, wo jeweils mehr Mikroelektronik produziert als verbraucht wird.

* Daher auch die Angst vor der internationalen Abhängigkeit ...

Das ist nicht nur eine Angst. Die Abhängigkeit ist auf manchen Gebieten bereits gegeben. Unsere Anwender spüren dies sehr deutlich. Die Mikroelektronik ist, und ich wiederhole mich hier noch einmal, die Basistechnologie für weite Bereiche der Industrie.