Hypermedia - Hilfe gegen die Informationsflut oder chaotisches Labyrinth?

Von der Veränderung des Denkens zur veränderten Welt

25.10.1991

Was ist Hypermedia?

Hypermedia-Systeme integrieren verschiedenste Arten von Daten (Text, grafische Daten, digitalisierte Bilder, Audio- und Videoclips etc.) in einem Computersystem. Sie sind also computergestützte Multimedia-Systeme. Ihr charakteristisches Merkmal besteht darin, daß sie die Informationen nicht linear, also nicht wie in einem Buch Seite für Seite, sondern durch Verweise (Links) vernetzt anbieten. Es bleibt dem Benutzer überlassen, welches Informationsstück er als nächstes durcharbeiten will. Er erforscht assoziativ ein bestimmtes Wissensgebiet, beziehungsweise tastet sich assoziativ über die Verweise an die gewünschten Informationen heran. Der Medienmix und das Wissensnetz führen dazu, daß Anhänger von HM oft enthusiastisch von Wissensverarbeitung wie im menschlichen Hirn sprechen, Gegner es dagegen als alten Hut bezeichnen, als einfaches und daher bei großen Datenbeständen wohl auch umständliches, mit Bildern und Ton aufgemöbeltes Informationssystem, das für Laien zwar reizvoll, für ernsthafte Arbeit aber ungeeignet ist... Wer hat recht?

"Hypertext/Hypermedia '91", eine gemeinsamen Veranstaltung der Gesellschaft für Informatik (GI), der Schweizerischen Gesellschaft für Informatik (SI) und der Österreichischen Computer Gesellschaft (OCG), fand im Juni in Graz statt. Den Auftakt der Tagung bildete das folgende Streitgespräch der beiden Informatik-Professoren Hermann Maurer* und Wolf Rauch** über Sinn und Unsinn von Hypermedia-Systemen.

Wer von den Kontrahenten welche Position vertreten sollte, bestimmten die zirka 180 Teilnehmer der Tagung in einer Abstimmung unmittelbar vor Beginn des Streitgesprächs. Rauch wurde die Pro- und Maurer die Contra-Rolle zugewiesen.

Maurer ist an sich ein überzeugter Verfechter von Hypermedia und arbeitet mit seinem Team an einem großen Hypermedia-System namens "Hyper-G". Rauch erstellt und evaluiert Hypermedia-Anwendungen auf Hypercard-Basis.

In der folgenden Aufzeichnung dieses Gesprächs wird Hypertext/Hypermedia stets mit HM abgekürzt.

Rauch: Jeder, der mit HM gearbeitet hat, wird bestätigen, daß dieses Medium eine angenehme und sehr effiziente Art der Informationssuche darstellt. Während viele konventionelle Informationsmedien den Benutzer vor die problematische Entscheidung stellen, entweder blind oder taub nach Informationen zu suchen, verbindet HM in angenehmer Weise alle Informationskanäle.

Die Möglichkeiten des "Browsing" gestatten außerdem ein geradezu spielerisches Erforschen des Informationsraumes, wobei es immer wieder zu Überraschungs- und Schmökereffekten kommt, die bei herkömmlichem Suchen unterbleiben. Informationssuche in HM gleicht dem lustvollen Stöbern in einer Bibliothek, während traditionelle Informationssysteme uns an das oft frustrierende Durchblättern von Katalogen erinnern.

Das sind quälende Fragen, wenn man einem Problem ernst und nicht nur spielerisch gegenübertreten muß.

HM neigt dazu, ein belangloses System zu werden. Statt eines Suchverfahrens ist es eher ein Versuchsverfahren.

Bis zu einem gewissen Grad gleicht HM damit einem Schweizer Messer. Es ist eine nette Spielerei, ein Profi greift aber gleich zum richtigen Werkzeug. Auch in der Literatur sind 90 Prozent der genannten Anwendungsbeispiele bloße Spielerei, kleine "Hypercard-Stacks", in denen die wahre Problematik des durch schöne visuelle und akustische Effekte zunächst attraktiv erscheinenden HM gar nicht zum Tragen kommt. Bei diesen kleinen Systemen, Spielzeugsystemen, wird der Laie durch den noch ungewohnten Einsatz eines Medienmix geblendet, betört - mit großen Systemen kommt man nicht zu Rande. Benest sagte schon 1989 anläßlich der Tagung Hypertext II: "Hypertext systems have complemented the window managed display to provide a chaotic work environment... interfering with tasks one has to perform."

Das Arbeiten mit HM erinnert oft an ein unstrukturiertes Diskutieren. Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste, verzettelt sich in Details und verliert damit den Gesamtüberblick. Die Nelsonsche Vision von HM als dem (einzigen) globalen Publikationsmedium wird - ich möchte fast meinen, Gott sei Dank - auch aus juristischen und Wettbewerbsgründen nie Realität werden. Abgesehen davon liest man vom Papier noch immer bequemer als von einem Schirm und nachgewiesenermaßen fast 30 Prozent schneller.

HM wird oft als "neue Art eines besonders benutzerfreundlichen Informationssystems" gepriesen. Für ernsthafte Recherchen ist mir aber ein richtiges Informationssystem mit guter Abfragesprache jederzeit lieber. Es gibt dazu folgende Geschichte:

Es geht ein HM-System auf einer Wiese spazieren und trifft auf einen Kuhfladen. Fragt dieser: "Was bist denn Du?" Das HM-System antwortet: "Ein Informationssystem!" Da lacht und lacht der Kuhfladen und meint schließlich: "Also, wenn Du ein Informationssystem bist, dann bin ich eine Pizza!"

Kurz - HM-Systeme bleiben oberflächlich; sie gaukeln Informiertheit vor, können aber nie die Vollständigkeit vermitteln, die eine solide Informationssuche bringt.

Rauch: Bis zu einem gewissen Grad sind diese Argumente sicher richtig. Aber schon Ted Nelson schrieb: "If this all seems like a wild idea, that means, you understand it".

Wir haben es bei HM zweifellos mit sehr komplexen Systemen zu tun, die allerdings noch sehr jung sind. An der Lösung der genannten Probleme wird intensiv gearbeitet, und es spricht nichts dagegen, daß sie bald gelöst werden, und viele sind ja bereits gelöst: Beispielsweise können HM-Systeme durchaus mächtige Abfragemechanismen als Teil ihrer "Navigationshilfen" beinhalten.

Aber es geht bei HM ja um wesentlich mehr als bloß um neue Informationssysteme. HM ist eine echte Chance zur Entlinearisierung unseres Denkens. Marshall McLuhan hat eindrucksvoll darauf hingewiesen, wie sehr die "Gutenberg-Galaxis", die Dominanz des Informationsträgers Schrift, zu einer Einengung unserer Weltsicht geführt hat.

Sobald etwas komplexere Probleme (beispielsweise ein Rechtsfall oder eine Krankheit) in der klassischen Schriftform wiedergegeben werden sollen, scheitern wir: Es werden Exkurse notwendig, grafische Darstellungen, Rückverweise und Fußnoten: Dinge, die traditionelle Informationssysteme so belasten.

HM-Systeme hingegen ermöglichen eine Entlinearisierung des Denkens. Damit wird ein besseres Weltverständnis möglich, da die Welt zweifellos nichtlinear aufgebaut ist, sozusagen hyper. HM ermöglicht damit eine Reintegration des Denkens, in gewissem Sinne einen hermeneutischen Ansatz des Verstehens.

HM macht Informationssuche aber nicht nur besser, sondern auch objektiver: Durch Hinweise anderer werden Gedankengänge relativiert. Durch ein automatisches Verweissystem werden selbst ohne menschliches Zutun unterschiedliche Aussagen aufgedeckt. Der Nutzer kann in einem HM-System damit die Fesseln des Autors sprengen. Ein "neues Denken" und eine Objektivierung von Informationen wird möglich. Ein Beispiel mag dies erläutern:

Liest man heute in einer Tageszeitung einen Bericht über ein allgemeines Thema (eine Diät, die Bedeutung der Atomkraft, die Gefahr einer Klimaänderung etc.), so ist es ohne große Schwierigkeiten kaum möglich, den tatsächlichen Wahrheitsgehalt der Aussagen zu prüfen. Anders in einem HM-System: Durch die Anmerkungen anderer Leser einerseits und durch das Verfolgen von Querverweisen zu einschlägig anerkannter Literatur andererseits ist eine unmittelbare Einstufung des Gelesenen möglich.

Schließlich bieten HM-Systeme über Benutzerprofile die Möglichkeit, maßgeschneiderte Informationen - bis hin zu täglichen Multimedia-Nachrichten - zur Verfügung zu stellen. Dies ist eine Anwendung, der von führenden Vertretern im Multimedia-Bereich, wie etwa von Negroponte, dem Leiter des MIT Media-Lab, ein besonders hoher Stellenwert zugeteilt wird.

Kurz - HM-Systeme machen eine Bewältigung der Informationsflut leichter und einfacher vielleicht überhaupt erst möglich!

Maurer: "Simplicity almost never happens by itself, it must be designed", dieser Satz stammt auch von Ted Nelson. Ein Sammelsurium von Informationsstücken ohne Querverweise funktioniert einfach nicht. Es führt vielmehr zur totalen Verwirrung, zu einem modernen Turm von Babel.

Verstehen und Orientierung sind ein Problem der Reduktion, nicht der Informationsfülle. Diese Reduktion kann nur ein Mensch leisten, denn sie ist ein zutiefst kreativer Vorgang. Damit sind HM-Systeme, zumindest wenn sie eine gewisse Größe überschreiten, zum Scheitern verurteilt - oder es werden starre lineare Pfade durch das System gelegt: Aber dann könnte man gleich ein Buch schreiben.

Suchen wird mit HM auch zu einem kreativen Vorgang: Selbstverwirklichung, Engagement und vor allem das Hinterlassen von Spuren zeichnen es aus, da der Suchende Kommentare hinterlasse, spezielle Verweise betonen oder Suchpfade auszeichnen kann.

Diese Möglichkeiten machen den Suchvorgang zu einem sozialen Erlebnis: Das Anlegen von Kommentaren für andere, der Hinweis auf mögliche Sackgassen beziehungsweise interessante Bereiche oder einfach die Statistik besonders beliebter Informationspunkte löst den Informationssuchenden aus seiner traditionellen Isolation. Schon Ted Nelson, Ahnherr des HM, schlägt vor, daß ein HM-Arbeitsplatz mehrere Sessel vor einem Bildschirm vorsehen sollte, damit der Informationssuchende bei der Recherche nicht allein sein muß.

HM führt auch zu einer neuen Art des Publizierens, sei es auf CD ROMs oder sei es - wie im geplanten Xanadu-System Nelsons - in einem weltweit erreichbaren vernetzten HM System, in dem sich "all published information a mouse-click away" befindet.

Kurz - HM ist eine effiziente, angenehme und vor allem soziale Methode der Informationsgewinnung und eine neue Dimension des Electronic publishing. Kann es da ein kontra geben?

Maurer: Zuerst: Was ist HM eigentlich? Befragt man hundert Personen, erhält man hundert verschiedene Antworten! Handelt es sich bei HM wirklich um mehr als bloß um ein neues Schlagwort? Schon Raskins hat auf der Hypertext '87-Konferenz formuliert: "Hypertext sounds like a good idea. It tends to evaporate when looked at closely."

Außerdem: Wenn man HM wirklich ernsthaft verwendet, stellt sich heraus, daß HM nicht Fun, sondern Frust bedeutet. Das Schlagwort "Lost in hyperspace" wird in vielfacher Hinsicht Realität:

- Allzu leicht kann man sich in Hypertext verirren und einfach nicht mehr zum Ausgang zurückfinden.

Maurer: "Für ernsthafte Recherchen ist mir ein richtiges Informationssystem mit einer guten Abfragesprache jederzeit lieber."

- Jeder Benutzer kennt den Effekt, daß man immer wieder zu einigen besonders beliebten, aber oft gar nicht besonders wichtigen Stellen hingeführt wird.

- Man weiß eigentlich nie, wieviel man zu einem bestimmten Thema schon gesehen hat, und schließlich:

- Man weiß nicht, wieviel Wichtiges es zu einem Thema noch zu sehen gibt.

Durch ihre vernetzte, assoziative Natur erlauben HM-Systeme auch keine didaktische Aufbereitung eines Gebietes. Das Heranführen an ein Stoffgebiet wird unmöglich.

Der Grund dafür liegt letztlich darin, daß das menschliche Denken selbst linear ist, da unsere Sprache (aufgrund der speziellen Ausbildung unseres Sprechorgans) linear ist. Würden wir ein dem menschlichen Auge korrespondierendes Kommunikationsorgan haben, dann wäre (vielleicht) HM möglich. So wird es immer eine Täuschung bleiben.

Rauch: Daß ein völlig amorphes HM-System nur Verwirrung stiftet, stimmt sicherlich. Allerdings sehen alle modernen HM-Systeme gewisse Strukturierungen vor.

Der Einwand, daß unser Denken stark linear strukturiert ist, stimmt natürlich auch. Das soll aber nicht heißen, daß wir solche Strukturen nicht überwinden können. Ich glaube, daß nicht-lineare Denkstrukturen zumindest latent vorhanden sind.

Das führt zum Kern der Problematik: HM ist der erste ernsthafte Versuch, diese Linearität des Gedankenaustausches zu überwinden. HM könnte eine Revolution einleiten, wie sie die Schrift im fünften und vierten Jahrhundert vor Christus bei den Griechen gebracht hat. Die negativen Auswirkungen der Schrift, auf die schon Sokrates hingewiesen hat - und die in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden auch alle eingetreten sind -, könnten durch HM überwunden werden. HM führt zu einer neuen Art der Kommunikation, zu einem neuen Denken: HM ändert unser Denken, damit ändert es unser Tun, damit ändert es die Welt.

Die Informations- und Kommunikationssysteme einer Gesellschaft und die Gesellschaftsstruktur selbst stehen in einem engen wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis: Der Aufstieg des Buches und des Bürgertums in der Neuzeit unserer Kultur verlief keineswegs zufällig parallel; Demokratien der heutigen Prägung wären ohne Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen undenkbar.

Auch die modernen elektronischen Informations- und Kommunikationssysteme werden unsere Gesellschaftsform nicht unberührt lassen.

HM-Systeme bieten die Möglichkeit, derartige Entwicklungen, die im Keim schon vorhanden sind, technisch zu realisieren. HM könnte die Hyperpoesie bringen, auf die schon Ted Nelson hinweist (und erste Ansätze wie "Afternoon" von M. Joyce gibt es ja schon), oder eine Hyperdemokratie, die die Vorteile der Basisdemokratie mit denen der repräsentativen Demokratie verbinden könnte. HM kann vor allem zu ganz neuen Arten der Zusammenarbeit führen, Stichwort: "Computer Supported Cooperative Works". Kurz, HM könnte unsere Welt ändern.

Maurer: Ja, HM könnte die Welt ändern. Aber wird sie dann besser sein? Die Gefahr ist groß, daß HM eine neue Zweiklassengesellschaft schafft: einerseits diejenigen, die HM nur oberflächlich nutzen und (ähnlich wie dies beim Fernsehen geschieht) immer wieder die gleichen kleinen Informationsstücke konsumieren, ohne in die Tiefe und Komplexität des Systems vorzudringen; andererseits diejenigen, die HM-Systeme souverän beherrschen und daneben noch über die Kompetenz verfügen, die traditionellen Informationssysteme zu ihrem Nutzen anzuwenden.

Außerdem möchte ich auf meinen ersten Einwand zurückkommen, der noch immer unbeantwortet ist: HM ist nichts Neues. Letztlich hatte Ted Nelson gegen Ende der 60er Jahre die gleiche Idee, die auch Sam Fedida, der Vordenker für Bildschirmtext (Btx) in England hatte. Bildschirmtext ist in seiner Konzeption der Verbindung vieler Nutzer über ein Informationssystem sehr ähnlich zu HM. Bildschirmtext ist - trotz der zirka sechs Millionen Teilnehmer, die es bisher gefunden hat - kein Erfolg geworden, weil es technisch nicht ausgereift genug war. Es birgt aber alle Elemente, die HM propagiert.

Während also einerseits HM in Europa zu Btx degenerierte, degenerierte es in Amerika zu einem Präsentationssystem ohne Netz, Stichwort: Hypercard.

Für viele Menschen ist Hypercard inzwischen das typische HM-System geworden, obwohl ein System wie dieses - ohne Annotationen und ohne Vernetzung - die Bezeichnung HM gar nicht verdient.

Kurz - HM hat sich weder in Amerika noch in Europa bisher erfolgreich bewährt.

Rauch: Der Vergleich HM mit Btx ist recht interessant. HM sollte gleichsam ein Bildschirmtextsystem auf der Grundlage moderner Hard- und Softwaretechnologie werden - dann könnten sich die Visionen eines Ted Nelson genauso wie die eines Sam Fedida erfüllen. Wir sind am Weg dahin: Viel Aufregendes gilt es zu tun.

Aber ich glaube, wir können uns auf ein letztes Zitat einigen, das allerdings nicht ins Deutsche übersetzt werden kann: "Lets work on and improve Hypertext - and lets talk about it: but without Hype."