Von der programm- zur daten-orientierten DV

07.11.1975

BAD HOMBURG - Etwa hundert Vertreter der Informatik-Wissenschaft versammelten sich zum diesjährigen Informatik-Symposium der IBM Deutschland für drei Tage in Bad Homburg. Im Mittelpunkt stand eines der aktuellsten Themen der Datenverarbeitung: Entwicklung und Betrieb von Datenbanksystemen.

Die Datenverarbeitung macht gegenwärtig eine umwälzende Erneuerung durch. Nachdem über viele Jahre der Ersatz der "Handarbeit" bei der Erfassung, Speicherung und Verarbeitung großer Datenmengen wichtigstes Ziel des Computer-Einsatzes war und der Rationalisierungsnutzen schnellerer und kostengünstigerer Verarbeitungsformen im Vordergrund stand, vollzieht sich gegenwärtig eine Wendung im Verhältnis zum "Datenmaterial".

Daten nicht mehr Programm-Anhang

Während der "Stoff" der Verarbeitung bisher in der Regel lediglich als "Daten-Anhang" der jeweiligen spezifischen Anwendungsprogramme erschien, rückt jetzt der Aufbau universell strukturierter, vielen verschiedenen Anwendungen zugänglicher Datenbestände in den Mittelpunkt Aufmerksamkeit - Bestände, aus der Information, wie aus einer Bank Zahlungsmittel, "konvertierbar", für beliebige Zwecke bezogen werden kann.

Die Bedeutung der Konzentration des Informationspotentials, das in den Unternehmen und Organisationen ständig entsteht, kann kaum überschätzt werden. Mit Recht wurde während des Symposiums insbesondere von Praktikern immer wieder darauf hingewiesen, daß sich eine Neuordnung des gesamten Datenstoffs anbahnt, auf dessen Grundlage sich fast alle betriebswirtschaftlichen Funktionen der Unternehmen vollziehen. Eine funktionstüchtige Datenbank kann ein unschätzbares Vermögen, einen Millionen- und Milliardenwert verkörpern; Störungen würden zu unübersehbaren Folgen führen.

Neue Datenstrukturierungs-Probleme

Die Übernahme eines neuen Arbeitsgebietes auf den Computer war bisher stets gleichbedeutend mit dem Entwerfen und Schreiben des entsprechenden Anwendungsprogramms. Stillschweigend wurde vorausgesetzt, daß die Daten jeweils in der für das Anwendungsprogramm erforderlichen Form erfaßt oder daß sie in diese Form gebracht werden. Datenstrukturierungsprobleme größeren Umfangs traten damit. gar nicht erst auf. Zugleich bedeutete dies aber, daß jedes Anwendungsprogramm den Daten, die ihm zugeführt wurden, von vornherein seine spezifischen Forderungen aufprägte und damit Datenstrukturen voraussetzte, die für andere Anwendungsprogramme und andere Zwecke keineswegs geeignet sind. Statt allgemeiner Zugänglichkeit also ein Höchstmaß an Spezifizierung und damit ein Minimum an Verallgemeinerungs- und augemeiner- Nutzungsfähigkeit. So universell sich die Datenverarbeitung darstellte, so stark schränkte sie selbst mit dieser Form der Implementierung ihren eigenen Anspruch wieder ein - die scheinbare Problemlosigkeit des Dateiaufbaus verschleierte nur den Verlust der Verallgemeinerungsfähigkeit gegenüber dem Informationspotential: Aussagefähigkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit der einmal erfaßten Daten unterlagen der Selbstbeschränkung auf den jeweiligen Anwendungsfall.

Einheitliche Aktualität gefordert

Gewisse Probleme des Realitätsbezugs der gespeicherten und zu verarbeitenden Daten werden dabei erst auf dieser Stufe der Datenorganisation sichtbar. Bei programm-abhängigen Datenbeständen erscheint es beispielsweise selbstverständlich, daß die Daten jeweils auf einem der spezifischen Anwendung entsprechenden Aktualitätsstand bearbeitet werden. Die Erfordernisse der jeweiligen Anwendung- etwa der Buchungsstand einer Kontenklasse oder die Termingrenze für Arbeitszeitrückmeldungen bei einer Lohnabrechnung - definieren stillschweigend auch den Aktualitäts- oder Änderungsstand "ihrer" Daten.

Ganz anders stellt sich dieses Problem dar, wenn aus einem Datenbestand unterschiedliche und zum Teil noch nicht einmal vorhersehbare Anwendungsbedürfnisse zu befriedigen sind. Es ergeben sich dann mehrfache Probleme: sowohl die des jeweiligen Änderungs- oder Wartungsstandes wie auch das Problem sich gegenseitiger blockierender Zugriffe - etwa wenn ein Datensatz gleichzeitig geändert und gelesen werden soll. Es folgt daraus die Forderung, daß der Status der jeweiligen Information unabhängig von spezifischen Anwendungen definiert werden muß, so daß er sich jederzeit verfolgen und rekonstruieren läßt. Das System muß überdies die gegenseitige Blockierung verschiedener Programme und Benutzer ausschließen. Das Problem der Datenintegrität", das hier auftaucht, war bisher zwar nicht unbekannt, wird jedoch erst nach dieser Verallgemeinerung und Zuspitzung zu einem spezifischen Forschungsgegenstand der Informatik; es spielte während des Symposiums eine beträchtliche Rolle.

Datenbasis mit 5 Milliarden Bytes

Die Diskussion um Informationssysteme und Datenbanken dauert seit Jahren an. Daß sich mittlerweile im stillen Datenbanksystemie bereits bis zu einem Niveau entwickelt haben, auf dem die diskutierten Grundsatz-Probleme relevant werden, zeigte in Bad Homburg die Diskussion praktischer Anwendungsfälle, so der umfassenden Datenbankorganisation der Hoechst AG: Derzeit stehen Benutzer über ca. 140 Datenstationen mit einer die wesentlichsten Bestände umfassenden Datenbank in Verbindung; über 50 verschiedene Programme konkurrieren miteinander um den unabhängig strukturierten Datenbestand. Von den 88 insgesamt verfügbaren Plattenspeicher-Laufwerken mit einer Kapazität von je 100 Millionen Bytes dienen gegenwärtig 50 der Datenbank-Organisation, für die als steuerndes und verwaltendes Programmsystem IMS (Information Management System) benutzt wird.

Welch umfangreiche Organisationsprobleme sich ergeben, zeigte sich bei derart praktischen Exkursen eindrucksvoll. Die neue Funktion des "Datenbankadministrators" - darin waren sich die Diskussionsteilnehmer in Bad Homburg einig dürfte eine der gewichtigsten in der Unternehmensorganisation werden. Organisation und Sicherung des Datenbestandes eines Unternehmens wird in Zukunft kaum weniger bedeutsam sein als Einsatz und Sicherung des Produktvermögens in Gestalt von Maschinen, Gebäuden oder Verfahren.

Siegfried Gläss ist leitender Berater bei der IBM Deutschland, Bereich Umternehmensverbindungen, Stuttgart