Hartmut von Hentig: "Unsere Weit ist, wie Kafka sie beschreibt"

Vom Hilfsknecht zum allmächtigen System

17.10.1986

Wer wird Herr sein und wer Knecht? Und: Werden wir die Sprache der Computer sprechen? Diese Fragestellungen beschäftigten ein Internationales Symposium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, im Mai dieses Jahres in München. Referent Hartmut von Heutig sieht die alte, durch das Gespräch zu Erkenntnis führende Kultur abgelöst von dem Streben, über die Information hin zum Wissen zu gelangen.

Wenn wir etwas von der Computerisierung zu befürchten haben, wird es uns nicht über die Sprache befallen. (Folgen wird es freilich für diese auch haben!) In bisherigen Überlegungen hat sich gezeigt, wo die Gefahr liegt: In der Verwischung der Grenzen von - nicht Mensch und Maschine, sondern von - Herr und Knecht.

Um dies zu erklären, knüpfe ich bei dem Verhältnis von natürlicher und künstlicher Sprache an. "Die künstliche Sprache (ist) rein abstrakt, ohne Bezug zur Realität", sagt Joseph Weizenbaum. Er meint damit gleichermaßen die mathematische Sprache der Physik und die Computer-Sprache. Sie verbindet das Prinzip der Eindeutigkeit. Diesem genügen sie durch das Abstreifen aller Subjektivität, aller Unschärfe, aller Vergänglichkeit. Sie verbindet sodann ein Wahrheitsideal - das Wahrheitsideal des Instrumentalismus. Sie verbindet darum auch die Hoffnung, es werde eines Tages möglich sein, die menschliche, natürliche Sprache so zu disziplinieren, daß sie von Geräten gelernt werden kann.

Wissenschaft, unser Knecht, und ihre Verfahren, also unsere Hilfsknechte, erhalten mit dem Computer einen Universalknecht, der viel Geld kostet, Personen überdauert, geistig ubiquitär ist - und schon aus diesen Gründen beherrschend. Da er keine Einsicht hat, man ihn nicht überzeugen kann, muß und wird man ihm folgen: der überwältigenden Masse der ihm verfügbaren Daten, der Unbeirrmarkeit seiner Operationen, der Gleichgültigkeit - und also Unparteilichkeit - des Geräts gegenüber widerstreitenden menschlichen Zwecken. Wir werden unsere Fragen so einrichten, daß sie zu diesem Imperien Erkenntnisinstrument passen. Andere als mit seiner Hilfe gewonnene und überprüfte Erkenntnisse werden nur begrenzte Wirksamkeit haben - eine um so geringere, je mehr sich die Demokratie durchsetzt, deren Regierungen im Auftrag von Mehrheiten handeln. Wir werden Verhältnisse schaffen, die objektiveren und standardisierten Vorgaben folgen (wie wir es beispielsweise in der Pädagogik oder in der Sozialhilfe längst und mit unentrinnbarer Gründlichkeit getan haben); es werden sich menschliche Schicksale mit den Verhältnissen verbinden; die Menschen werden sich an die damit verbundenen und die ihnen bekannten Chancen klammern; aus einer Entlastungsmaßnahme wird ein allmächtiges System.

Rechtfertigt dies die Befürchtung, die Menschen würden dereinst wie ihre Computer denken und also wie ihre Computer sein?

Man kann hierzu drei unterschiedliche Positionen vertreten:

- Das tun wir (leider) schon längst: Wir denken jetzt schon wie Computer.

Wer sich über den Computer beklagt, weil er unsere Beziehungen mechanisiere, materialisiere, mediatisiere (beispielsweise aus Anlaß einer vom Computer ausgestellten Abrechnung des Gaswerks oder der Bank), klagt an der falschen Stelle: Nur weil unsere Beziehungen schon so sind, kann der Computer zu ihrer Verwaltung eingesetzt werden. Unsere Welt ist, wie Kafka sie beschreibt. Der Computer vollendet in seiner Weise das Prinzip der gewollten technischen Zivilisation: Versachlichung, Verfügbarkeit, Vernetzung von allem mit allem. Er ist die Folge, nicht die Ursache.

- Der Computer und der Mensch "denken" notwendig gleich.

Dieser Satz zwingt zu einer operationalen Definition von Denken. Legt man diese zugrunde, hat der Computer klare Vorteile: Er leistet reines, von Gefühlen, Ereignissen, Schwankungen ungetrübtes Denken.

Was der Mensch sei, erkenne man an der Geschichte, sagt Hegel. Der junge Marx radikalisiert dies und sagt: Es werde der Mensch durch die Geschichte; die Geschichte sei die Geschichte der Entäußerungen des Menschen; an den Maschinen (an der Industrie) und an unserer Wissenschaft (an der Naturwissenschaft) würden unsere Möglichkeiten offenbar. Hat man den Gedanken einmal gehört und gedacht kommt er einem selbstverständlich vor: Denkmaschinen denken wie Menschen, die ihnen die Gesetze ihres Denkens eingegeben haben. Aber ist die Umkehrung "Menschen denken wie ihre Denkmaschinen (nur weniger rein)" zulässig?

- Menschliches Denken überschreitet prinzipiell die dem Computer eingeschriebenen Operationen, ist nicht isolierbar von den physiologischen, psychischen und existentiellen Zuständen der Person.

Das Gesagte macht es wichtig, daß wir uns ein klares Bild von der Eigentümlichkeit menschlichen Denkens machen. Gewiß ist es zunächst eine Tätigkeit des Individuums und damit subjektiv. Aber jahrtausendelange Übung hat zu Regeln der Objektivierung geführt. Dieses sich durch Selbstkritik reinigende Denken sollte man nicht einer vorgängig gereinigten künstlichen Intelligenz opfern; Michael Ottes Einwand: "Wenn das Subjekt nur durch seine Besonderheit definiert ist, dann ist es kein Subjekt mehr, denn es läßt sich. .. nicht mehr von der Maschine unterscheiden" ist richtig, aber irrelevant, weil niemand dies behauptet. Das Subjekt, von dem hier die Rede ist und das erstens eine natürliche Sprache spricht und zweitens die Herrschaft über die künstliche Intelligenz beansprucht, ist nicht durch "Besonderheit" definiert, sondern durch das Bewußtsein seiner Besonderheit. In dem Maß, in dem die Ratio sich zur Herrschaft über das Leben aufschwingt, in dem Maß mobilisiert sie den Widerstand, die Selbstbehauptung des Willens.

Eben das macht die Gefahr der Stunde aus.

Ich möchte drei Erscheinungen hervorheben, vor denen wir besonders auf der Hut sein sollten:

- Die Überwältigung durch den Vorrat an Wißbarem, den man mit Hilfe der Computer anhäufen kann und dessen Berücksichtigung man für notwendig erklären wird.

Dies entspricht der menschlichen Neigung, aus dem Denken in das Wissen zu fliehen - Entscheidungen auf die Autorität des Sachverhalts abzuschieben. Nichts ist uns so verpaßt wie Verantwortung, ja, wie kann man sie tragen wollen, wenn sie grenzenlos ist, weil nachweislich alles mit allem zusammenhängt (und die Medien uns allabendlich die Unrechts- und Unratsbescherung des Tages in die weltbürgerliche Wohnstube kippen!).. Die Fülle des Wissens, das wir jetzt nicht brauchen, mit dem wir jetzt nichts anfangen können, bereitet uns ein Hamlet-Problem.

- Die Kapitulation vor dem System der Mittel - zumal vor der Kombination von elektronischer Datenverarbeitung, Telekommunikation und Verwaltung. Wir sind zunehmend unfähig, das System der Mittel zu kritisieren und zu kontrollieren, deren jedes einzelne rational konstruiert ist, so, daß es seine Zwecke erfüllt, die aber, zueinander addiert, buchstäblich herrenlos sind: In Rüstung und Abschreckung, in Produktion und Konsum, in Wissenschaft und Bildung, in Verwaltung und Gesundheitswesen haben sich die Mittel weitgehend verselbständigt. Die Computer geben ihnen den Schein der Rationalität zurück. Aber deren größere Systeme sind selber undurchschaubar. Als 1980 Joseph Weizenbaum diese Behauptung vor den zu Ehren von Konrad Zuse versammelten Computer-Experten aufstellte und fragte, ob jemand im Saal dies bestreiten wolle, erhob sich keine einzige Hand. Die Geschwindigkeit, mit der ein Computer ungeheure Mengen von Daten zu Entscheidungen von ungeheurer Tragweite verarbeitet, erzeugt Situationen, die ihrerseits zu eiligen Entscheidungen nötigen - nicht nur in der Militärstrategie und nicht nur im Großen. Der Computer erzeugt auf allen Gebieten neue Zeitzwänge. Die Gelegenheit, das Ergebnis zu prüfen, und vollends die Gelegenheit, zu kontrollieren, ob der Apparat auch richtig gearbeitet habe, nimmt man angesichts solcher Zwänge immer weniger wahr. Weil man die Fehler, die der Computer macht, nicht mehr versteht, behandelt man sie wie die Macke einer Person: "Es tut uns leid, unser Computer versagt den Dienst." Man versucht folglich auch nicht, die Ursachen des Fehlers zu beheben, sondern überwindet die Schwierigkeit dadurch, "daß man ein neues Programmstückchen einschreibt", so Weizenbaum.

Dieses wuchernde System der Mittel bereitet uns ein Zauberlehrlings-Problem.

- Die Herrschaft derer, die die Programme einfüttern, eine Herrschaft, die sich als Sachwaltung tarnt: Auch die Experten beugen sich der Unfehlbarkeit ihres Systems und ihrer Geräte; nur Menschen irren, weil sie Emotionen haben; was der Computer kann, kann er mit Notwendigkeit; wozu er sich entwickelt, ist unvermeidlich; womit er sich befaßt, damit herrscht er auch - so reden sie. Nicht weniger gefährlich reden diejenigen, die den Computer zu einem bloßen Aufzeichnungsgerät mit ungeheurem Gedächtnis verharmlosen, und vollends diejenigen, die die computergesteuerten Vorgänge in einer Produktions- und Verwaltungsmaschine als deren Intelligenzleistung hinstellen. Wer diese Beschwichtigungen oder Dämonisierungen verbreitet, zieht immer auch sich selbst Herrschaft zu, er bereitet uns ein Priester-Problem.

Der Gesamtabdruck der Beiträge des Symposiums der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom 13. bis 16. Mai 1986 in München - die COMPUTERWOCHE bringt einen Auszug aus dem Referat Hartmut von Hentigs - wird in der "Neuen Sammlung" erscheinen ebenso wie im Frühjahr 1987 bei dem S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main sowie im Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.