Vom Enthusiasmus zur Skepsis in Technik und Wissenschaft

07.11.1986

Jahrhundertelang sind Wissenschaftler trainiert worden, das Nachdenken über die Folgen ihres Tuns aus dem Forschungsprozeß selber auszublenden. Die Wahrheitsfindung als oberstes Ziel wissenschaftlichen Handelns duldete weder äußere Einschränkungen der Forschungspraxis

noch den Zweifel des Wissenschaftlers an der Legitimität seines Handelns. Totalitäre Regime haben Wissenschaftler nicht deshalb in Dienst nehmen können, weil diese Anhänger ihrer verbrecherischen Doktrinen waren: Sie haben die moralische Kurzsichtigkeit von Gelehrten ausgenutzt, die glaubten, die reine Wissenschaft als einen politik- und ideologiefreien Raum definieren zu können.

Die Hemmungen, diesen Tatbestand zur Kenntnis zu nehmen, mehr noch: daraus Konsequenzen zu ziehen, sind groß. Dabei ist es eine Illusion, zu glauben, daß der überlieferte Typus wissenschaftlicher Rationalität menschlich-politische Moralität gleichsam naturwüchsig erzeugt.

Eine Korrektur dieser Illusion kann durch die klassischen Orientierungsdisziplinen schwerlich erfolgen. Theologie und Philosophie werden diese Funktion nicht wiedergewinnen, und die Soziologie hat sie, von kurzen Episoden der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung abgesehen, nie eingenommen Bedeutsamer wird der Beitrag derjenigen Fächer werden, die ich als sekundäre Orientierungsdisziplinen bezeichne, ,weil sie Wissen über die Prozesse der Wissensproduktion und Wissensverwertung vermitteln.

Schon heute läßt sich sagen, daß ihre Ergebnisse das Selbst- und Fremdbild der modernen Wissenschaft nicht unberührt gelassen haben. Die Wissenschaftssoziologie hat die Vorstellung von der reibungslosen Selbststeuerung des Wissenschaftssystems durch den Nachweis seiner externen Steuerbarkeit bis in Grundannahmen der Wissensproduktion korrigiert; die Wissenschaftsgeschichte hat das Bild eines kontinuierlichen und kumulativen Wissensfortschritts durch die Abfolge wissenschaftlicher Revolutionen ersetzt; die Wissenschaftstheorie schließlich hat in ihrer radikalsten Ausprägung den Monopolanspruch der westlichen Rationalität und ihrer erkenntnisleitenden Kraft relativiert.

Die Vermittlung derartiger Einsichten an jeden Wissenschaftler in einem möglichst frühen Stadium seiner Ausbildung halte ich nicht nur für wünschenswert, sondern für dringend geboten. Historisierung, Relativierung und Verfremdung gehören zu den Merkmalen wissenschaftlichen Handelns - nur wurde die Wissenschaft selbst nie zu deren Objekt. Nun wird es höchste Zeit, die "Technik der Verfremdung des Vertrauten" (Brecht)auch auf die vertraute Wissenschaft selber anzuwenden.

Einüben ließe sich so eine neue Mentalität, die zum Verständnis der Kulturbedingtheit wissenschaftlichen Handelns fähig ist und die Einsicht zu ertragen vermag, daß die Wissenschaftsentwicklung nicht nur Fortschritt, sondern auch eine Geschichte langlebiger Irrtümer, eine Reihung von Revolten und Revolutionen, und daher auch eine Geschichte des Vergessens und der Unterdrückung ist. Gefragt wären nicht tragisches Selbstbewußtsein und Prinzipienstarre, sondern kognitive Beweglichkeit, Ironie, Selbstkritik und die Fähigkeit, das eigene wissenschaftliche Tun wie von außen, zu sehen, es zu verfremden. Aus dieser gleichsam ethnographischen Einsicht mag ein neuer Begriff von Aufklärung hervorgehen: Einer, der den von Kant so emphatisch beschworenen Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht mit einem von jeder Selbstkritik freien Wissenschaftsenthusiasmus, sondern mit der Fähigkeit verknüpft, die Produktion von Wissen erfolgreich - und dennoch skeptisch zu betreiben. Es muß selbstverständlich werden, daß Aufklärung über Wissenschaft und ihre Folgen zur Wissenschaft selber gehört.

Wissenschaftsskepsis und Kritik der Technik sind kein Abschied von der Aufklärung - im Gegenteil. Heute sind sie notwendig, um deren Fortbestand zu sichern. Gegen das moderne Maschinenstürmertum hilft keine Maschinenverklärung, und die gefährliche Illusion, die Industriegesellschaft sei nichts als eine Option, welche die Menschheit des 20. Jahrhunderts annehmen oder abwählen könne, wird nicht dadurch zerstört, daß man die wachsenden Struktur- und Legimitationsprobleme dieses Sozialarrangements leugnet. Skepsis heißt, gegen den blinden Enthusiasmus auf die Kehr- und Kostenseite der modernen Wissenschafts- und Technikentwicklung aufmerksam zu machen; Skepsis heißt aber auch, daran zu erinnern, daß die Aufklärung mit Hilfe des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, und nicht gegen ihn, zur bestimmenden geistig-moralischen Kraft des neuzeitlichen Europas wurde.

Auszug aus einem Vortrag, gehalten bei der Gedenkfeier für Peter von Siemens in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München am 9. Oktober 1986.

Professor Dr. Wolf Lepenies - Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin