TK-Trends/Der Staat hat große Ohren

Vom Ende der Vertraulichkeit

16.01.2004
Der Staat schützt - sich selbst, seine Organe, die freiheitlich demokratische Grundordnung und nicht zuletzt die Bürger. Doch auch Staaten können über die Stränge schlagen, wenn gemacht wird, was technisch machbar ist. Gerade im Bereich der Telekommunikation (TK) ist vieles möglich, so dass sich ein klarer Trend ableiten lässt: Die staatliche TK-Überwachung ist ein Wachstumsmarkt.Von Rolf Gössner*

Das von der Verfassung garantierte Recht des Einzelnen, unkontrolliert zu kommunizieren, ist Grundvoraussetzung einer offenen, demokratischen Gesellschaft. "Die Befürchtung einer Überwachung mit der Gefahr einer Aufzeichnung, späteren Auswertung, etwaigen Übermittlung und weiteren Verwendung durch andere Behörden kann schon im Vorfeld zu einer Befangenheit in der Kommunikation, zu Kommunikationsstörungen und zu Verhaltensanpassungen ... führen", fasste einst das Bundesverfassungsgericht mögliche Auswirkungen einer ausufernden Kommunikationsüberwachung zusammen.

Inzwischen hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling das Fernmelde- und Telekommunikationsgeheimnis, wie es mit Artikel 10 Grundgesetz geschützt werden soll, als "Totalverlust" abgeschrieben. Was ist passiert? Die moderne Telekommunikation (TK), auf die niemand verzichten kann und niemand verzichten will, birgt ein enormes Überwachungspotenzial, das sich der Staat zunutze macht. Er nutzt es jedoch derart exzessiv, dass es grundrechtssprengend wirkt. Die digitalen Netze mutieren mehr und mehr zu einem weitverzweigten Fahndungsnetzwerk.

Ob Telefon, Handy, Fax, SMS, E-Mail oder Internet - jedes weitere Kommunikationsmedium gibt dem Staat neue Möglichkeiten, die Nutzer zu überwachen. Denn jedes Telefonat, jede Mail, jeder Ausflug ins Internet, jede Info-Suche, Online-Bestellung oder Kreditkartennutzung hinterlässt "verräterische" Datenspuren, die nach bestimmten Kriterien durchforstet und personengenau ausgewertet werden können. Aus diesen Daten lässt sich das Kommunikationsverhalten von TK-Nutzern destillieren, lassen sich Persönlichkeitsprofile und Bewegungsbilder zeichnen. Wer sich hiergegen mit Anonymisierungsdiensten zu schützen sucht, macht sich bereits verdächtig.

Zur Teilnahme gezwungen

Diensteanbieter, Internet-Provider und Administratoren im Netz sind gesetzlich zur Mitwirkung bei staatlichen Überwachungsmaßnahmen verpflichtet. Sie müssen die Überwachungstechnik auf ihre Kosten installieren und betriebsbereit halten sowie - sicherheitsüberprüftes - Personal abstellen. Alle geschäftsmäßigen TK-Diensteanbieter sind nach dem Telekommunikationsgesetz (TKG) darüber hinaus verpflichtet, Kundendateien mit Rufnummern, Namen und Anschrift der Anschlussinhaber zu führen und die Personendaten jederzeit den Sicherheitsbehörden - Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichten und Geheimdiensten - online zu übermitteln, wobei deren Zugriff auch unbemerkt erfolgen kann. Das Recht auf freie und anonyme Kommunikation ohne Angst vor Überwachung und Repressalien ist längst nicht mehr gewährleistet - weder für Privatpersonen und Geschäftsleute noch für Verbände und Wirtschaftsunternehmen.

Die Praxis der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) zur Strafverfolgung, also zur Aufklärung einer Straftat und zur Ermittlung der Täter, kann seit Anfang der 90er Jahre exorbitante Steigerungsraten aufweisen. Seit 1995 hat sich die Anzahl der richterlichen Anordnungen pro Jahr von 3800 auf über 26000 (2002) fast versiebenfacht. Die Bundesrepublik gehört damit weltweit zu den Spitzenreitern im Abhören. Die Dimension dieser Abhörpraxis ist skandalös - immerhin kann eine einzige Anordnung mehrere Anschlüsse umfassen und Tausende von Gesprächen betreffen. Nicht nur Tatverdächtige werden oft monatelang abgehört - auch Millionen von vertraulichen Gesprächen unverdächtiger Kommunikationspartner werden dabei aufgenommen, abgespeichert, ausgewertet. Dies ist ein gravierender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen. Die als "Ultima-ratio"-Maßnahme gedachte TKÜ hat sich mittlerweile zum Standardinstrument entwickelt.

In Thüringen und Niedersachsen ist bereits die präventive TKÜ legalisiert worden - also das vorsorgliche Abhören von Telefonen und Handys sowie das vorsorgliche Mitlesen von Faxen, SMS und E-Mails, ohne dass eine Straftat oder ein konkreter Anfangsverdacht vorliegen muss. Beim Reinhören könnte sich ja der Verdacht auf eine schwer wiegende Straftat ergeben, so die Logik der Gesetzesmacher, der auch andere Bundesländer folgen wollen. Im Zuge solcher polizeilichen Lauschaktionen werden zwangsläufig auch Verwandte, Nachbarn, Arbeitskollegen und sonstige Bekannte der "vorverdächtigen" Personen unmittelbar involviert.

Den Sicherheitsbehörden ist es zudem gestattet, die näheren Umstände der Telekommunikation zu erforschen und die TK-Verbindungsdaten bei den TK-Dienstleistern anzufordern und abzuspeichern. Also: Wer hat mit wem, wann, wie oft und wie lange von wo nach wo fernmündlich oder schriftlich kommuniziert, welche SMS- oder Internet-Verbindungen genutzt, welche Suchmaschinen mit welchen Begriffen benutzt, welche Homepages besucht und mit welchen E-Mail-Empfängern kommuniziert? Zu diesem Zweck müssen von allen TK-Anbietern Unmengen von Überwachungsdaten auf Verdacht und Vorrat erfasst und gespeichert werden.

Diese Vorratsdatenspeicherung soll sogar noch ausgeweitet werden. Geht es nach dem neuen TKG-Entwurf der Bundesregierung, sind Diensteanbieter künftig berechtigt, alle Verkehrsdaten nach Versendung ihrer Gebührenrechnung bis zu sechs Monate zu speichern. Der Bundesrat will gar eine Verpflichtung zur Vorratsspeicherung für polizeiliche und geheimdienstliche Zwecke verankern.

Die Datenschutzbeauftragten befürchten eine "gravierende Verschlechterung des Datenschutzes" und sehen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. Schon heute beklagt etwa die Deutsche Telekom eine "Entwertung des Fernmeldegeheimnisses" durch die Ermittlungsbehörden. Im Bereich der Strafverfolgung habe ihr Hunger nach Verbindungsdaten längst verfassungswidrige Ausmaße angenommen. Alle drei Monate müssten alle 50 Millionen Kunden der Telekom komplett nach Verdächtigen durchgerastert werden. Hinzu kämen täglich Tausende Abfragen von Verbindungsdaten, selbst wenn es nur um Straftaten mittlerer Schwere gehe. Weigere sich die Telekom im Einzelfall, die Daten herauszugeben, werde sie mit dem Vorwurf der Strafvereitelung unter Druck gesetzt.

Bewegungsmuster aufzeichnen

Zur Strafverfolgung dürfen die Ermittlungsbehörden die individuellen Kennungen und zur Festnahme eines Täters auch den Standort eines aktiv geschalteten Handys ermitteln. Mit Hilfe von so genannten IMSI-Catchern können einerseits die individuellen Karten- und Gerätenummern von Handys ausgeforscht werden; andererseits lassen sich damit Handys zur genauen Standortbestimmung elektronisch orten, auch wenn diese nur Stand-by-geschaltet sind. Dadurch wird den Sicherheitsorganen die Möglichkeit eröffnet, Bewegungsbilder zu erstellen - inzwischen selbst von Personen, denen nur künftige Straftaten zugetraut werden.

Die Sicherheitsbehörden können mit richterlicher Anordnung das Internet zur Strafverfolgung gezielt nach Verdächtigen durchstöbern. Aber die Polizei geht auch ohne konkreten Verdacht auf Netzpatrouille, um mögliche strafbare Inhalte herauszufiltern und mutmaßliche Täter zu verfolgen. Mit solchen Präventivkontrollen, die keiner richterlichen Anordnung bedürfen, sollen die Verbreitung extremistischen Gedankenguts, gewaltverherrlichender Schriften sowie kinderpornographischer Bilder eingedämmt werden; aber auch Urheberrechtsverletzungen, der Handel mit Diebesgut, Drogen und Waffen sollen damit unterbunden werden.

So notwendig solche Netzpatrouillen zur Gefahrenabwehr erscheinen mögen, wenn es um menschenverachtende, kinderschändende und rassistische Taten und Umtriebe geht - problematisch können verdachtsunabhängige Kontrollen dann werden, wenn die gesamte Individualkommunikation per Internet, der Chat-Foren- und E-Mail-Verkehr polizeilich durchgecheckt oder gar geheimpolizeilich infiltriert werden und die Kontrollen zur Gesinnungsschnüffelei ausarten.

Nicht nur Polizei und Staatsanwaltschaften sind zu TKÜ-Maßnahmen berechtigt. Auch die Geheimdienste - Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) - dürfen nach dem G-10-Abhörgesetz Telefone und Handys heimlich abhören, Faxe und E-Mails mitlesen, Verbindungsdaten anfordern und Handys orten - und zwar bereits weit im Vorfeld möglicher Gefahren. Der BND kontrolliert darüber hinaus systematisch den gesamten drahtlosen, satellitengestützten sowie glasfasergeleiteten TK-Verkehr vom und ins Ausland - ohne jeglichen Verdacht. Computergesteuert durchkämmt er Millionen Gespräche, Faxe und Fernschreiben nach verdächtig klingenden "Suchbegriffen" oder Wort-Kombinationen aus wechselnden Wortbanken, die aus den Bereichen des internationalen Terrorismus, Waffenhandels und militanten Extremismus stammen sowie der Proliferation, Drogenkriminalität und Geldwäsche.

Nachrichtendienstlich relevant?

Dieses automatische Fischen im Trüben des verallgemeinerten Verdachts nennt sich "strategische Kontrolle" oder auch "Schleppnetzfahndung im Äther". Ordert etwa jemand per Telefax in Ungarn zehn Kisten "Roten", so würde ein solcher Auftrag automatisch ausgesiebt - auch wenn nur Rotwein gemeint war. Schließlich könnte es sich auch um die illegale Droge "Roter Libanese" handeln. Der literarische Austausch über Fräulein Smillas Gespür für "Schnee" würde wegen des Verdachts auf Kokainhandel Komplikationen auslösen; ebenso Berichte über "Bombenwetter" oder volle "Strandhaubitzen" an Mallorcas Gestaden, die den Geheimdienstlern internationale Waffengeschäfte signalisieren. Im Laufe der automatischen Durchforstung nach bestimmten Suchbegriffen und Anschlussnummern bleiben pro Jahr etliche tausend "verdächtige" Auslandsgespräche oder Faxe als "nachrichtendienstlich relevant" hängen, woraufhin dann auf traditionelle Weise weiterermittelt wird.

Mit der Entwicklung der Telekommunikation erleben wir in zunehmendem Maße die präventive Verdächtigung von TK-Teil-nehmern, die so zu gläsernen Bürgern werden - ohne es selbst zu registrieren, ohne sich wirksam dagegen zur Wehr setzen zu können. Eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, nämlich die Unschuldsvermutung, verliert mit dieser ausufernden Entwicklung ihre machtbegrenzende Funktion. Der Mensch mutiert zum Sicherheitsrisiko. (ajf)

*Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater, Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte", Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky" sowie Mitglied der Jury zur jährlichen Verleihung des Negativpreises "Big Brother Award" an Institutionen, die in besonderem Maße gegen den Datenschutz verstoßen (www.rolf-goessner.de).

Der große Bruder wächst

Der Big Brother Award wird seit dem Jahr 2000 auch in Deutschland verliehen. Initiator ist hierzulande der Bielefelder Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (Foebud; www.foebud.org). Die Auszeichnung geht an "Firmen, Organisationen und Personen, die in besonderer Weise und nachhaltig die Privatsphäre von Menschen beeinträchtigen oder persönliche Daten Dritten zugänglich machen".

Zu den Preisträgern des Jahres 2003 zählen unter anderem die Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen. Sie würden im Windschatten der Terrorismusbekämpfung die Verschärfung ihrer Landespolizeigesetze betreiben und damit drastische Einschnitte in elementare Grund- und Freiheitsrechte einer Vielzahl unverdächtiger Personen einkalkulieren, hieß es in der Begründung.

Weitere Informationen:

www.bigbrotherawards.de