MAN Nutzfahrzeuge: Vendor Managed Inventory auf der Basis von Supply-Chain-Monitoring

Volle Versorgung - geringe Bestände

19.03.2004
Einen siebenstelligen Euro-Betrag gab die MAN Nutzfahrzeuge AG, München, im Jahr 2002 für ihre produktionsinternen Bestände aus. Trotzdem war die Versorgung nicht immer gesichert. Einen Ausweg aus diesem Dilemma fand der LKW-Hersteller mit einem Vendor Managed Inventory (VMI) auf der Basis einer Supply-Chain-Monitoring-Lösung. Von Michael Kobriger*

Das bestimmende Charakteristikum bei der Produktion und Endmontage von Lastkraftwagen sind weder Serien noch Stückzahlen - es ist die Variantenvielfalt. Die zugelieferten Teile sind oft Systemprodukte, die auf der Basis von komplexen Stücklisten produziert werden. Auch die Lieferkette der MAN Nutzfahrzeuge AG weist eine ganze Reihe von Stufen auf. Das reibungslose Funktionieren der Produktion hängt also nicht nur von den direkten Lieferanten, sondern auch von deren Zulieferern und Unterzulieferern ab. Rund 800 Unternehmen, meist Mittelständler, zählen zur Supply Chain des LKW-Herstellers. Von ihnen bezieht er zirka 25000 verschiedene Teile.

Nur 150 der Lieferanten spielen eine Rolle in den Just-in-Time-Prozessen der Produktion. Um die Gefahr von Produktionsausfällen zu verringern, werden viele Lieferungen auf Lager genommen, wodurch sie dem Hersteller einen Zeitpuffer verschaffen. Das ist allerdings kostspielig: 2002 schlugen diese Bestände bei MAN Nutzfahrzeuge mit einem siebenstelligen Euro-Betrag zu Buche.

Trotzdem garantierte das Lager nicht in allen Fällen die Versorgung; punktuell kam es immer wieder zu Fehlteilen. Die Versorgungssicherheit sollte aber 100 Prozent betragen. Um dieses Ziel betriebswirtschaftlich sinnvoll erreichen zu können, suchte MAN Nutzfahrzeuge nach einer Alternative zu einer weiteren Erhöhung der Bestände.

Eine interne Kosten-Nutzen-Analyse in der ersten Jahreshälfte 2002 kürte das Konzept des Vendor Managed Inventory (VMI) zum Favoriten. Es hat unter anderem den Vorteil, dass die Lieferanten es ohne Zwang zur Systemintegration nutzen können.

Die Realität widerspricht dem Ideal

Die Realität komplexer Lieferketten sieht völlig anders aus als das Ideal, das Supply-Chain-Management-Experten zeichnen: Die Durchdringung mit Systemen für die Produktionsplanung und -steuerung (PPS) ist unvollständig; vielfach existiert die Versandplanung nur auf Papier. Deshalb ist der automatisierte Datenaustausch zwischen den Backend-Systemen entlang der gesamten Supply Chain kaum realisierbar.

Nur eine derart tief gehende Integration der Systeme wäre in der Lage, alle Planungsprozesse entlang der Lieferkette automatisch zu koordinieren und zusammenzuführen. Doch was hätte MAN Nutzfahrzeuge eigentlich davon? Die Evaluierung der am Markt verfügbaren Supply-Chain-Management- oder kurz: SCM-Systeme verlief ernüchternd. Einige der für das Unternehmen wichtigen Parameter ließen sich nicht berücksichtigen, so dass auch ein vollautomatisch gewonnenes Planungsergebnis keineswegs die Realität widergespiegelt hätte.

Die SCM-Lösungen als solche wissen nicht, mit welchen Maßnahmen welche Planzeit-Verkürzungen erzielbar sind. Deshalb reicht ihr Einsatz auch nicht, um Versorgungsengpässen entgegenzuwirken und Lieferterminzusagen gegenüber den Endkunden einzuhalten. Und selbst wenn sich der Maßnahmenkatalog im System hinterlegen lässt, muss am Ende doch wieder der Mensch eingreifen und beispielsweise die Mitarbeiter und Betriebsräte davon überzeugen, dass Sonderschichten notwendig sind.

Das Optimum bestand für MAN Nutzfahrzeuge also darin, die im eigenen PPS-System erstellten Produktionspläne manuell zu ändern und anzupassen - auf der Grundlage aktueller, von den Lieferanten gespeister Bestands- und Verfügbarkeitsdaten. Die Zulieferer verpflichten sich ihrerseits, den erforderlichen Nachschub selbständig und ohne vorherige Lieferabrufe des LKW-Herstellers zu planen und auszuführen - jeweils abhängig vom aktuellen Lagerbestand und dem prognostizierten Bedarf für die folgenden Tage. Indem sie die geplanten Lieferungen dokumentieren, ermöglichen sie zudem eine Voraussage über die Lagerbestands-Entwicklung. Dabei bewegen sich die einzelnen Produktbestände in einem gemeinsam definierten Reichweitenkorridor.

Das System sollte ohne großen Schulungsaufwand und mit Hilfe eines Web-Browsers zu bedienen sein. Deshalb war es notwendig, die einzelnen Business-Objekte über das Internet bereitzustellen. Der Datenabgleich musste durch ein benutzerbezogenes Berechtigungssystem bewerkstelligt werden. Schließlich darf ein Lieferant nur auf die von ihm selbst stammenden Teile und Bestände zugreifen können.

Als technische Basis wählte MAN Nutzfahrzeuge die Supply-Chain-Monitoring- oder kurz: SCMo-Lösung von Mapics, die auf der .NET-Technik von Microsoft aufsetzt. Aufgabe des Softwarewerkzeugs ist es, die Bedarfs-, Bestands- und Liefersituation auf allen Stufen des Supply-Netzes sichtbar zu machen. Als Datenbanksystem dient ein SQL Server 2000; er beherbergt die zugehörige Business-Logik in Form von Stored Procedures.

In sechs Monaten rentabel

Eine interne RoI-Berechnung fiel ermutigend aus: Mit der Anbindung von 150 Lieferanten würde sich aufgrund geringerer Lagerbestände bereits nach sechs Monaten ein Return on Investment erwirtschaften lassen.

Der Prototyp wurde in nur dreieinhalb Monaten realisiert, der Echtbetrieb begann im März 2003. Beteiligt waren insgesamt vier interne Mitarbeiter - einschließlich des Projektleiters, der etwa die Hälfte seiner Arbeitszeit dafür aufwendete. Hinzu kamen zwei Experten von Mapics. Sie übernahmen die kundenspezifischen Anpassungen und die Implementierung.

Derzeit sind zwölf Lieferanten an das System angebunden. Es handelt sich um Unternehmen, auf die in der Vergangenheit eines dieser Kriterien zutraf: Entweder wurde für ihre Produkte ein überproportional hoher Lagerbestand vorgehalten, oder es kam häufig zu kritischen Situationen.

Bedarf auf Tagesbasis eingespeist

MAN Nutzfahrzeuge speist die Bedarfsdaten auf Tagesbasis in das System ein, von wo die Lieferanten sie jederzeit abrufen können. Auf der Grundlage der hinterlegten Stücklisten wird der Teilebedarf auf die Einzelkomponenten heruntergebrochen. Bei mehrstufigen Lieferketten sind die Liefer- und Produktionszeiten für jede Einzelkomponente berücksichtigt. Ein Bedarf des LKW-Herstellers für Teil X in 30 Tagen kann für den Unterlieferanten auf Stufe 4 bedeuten, dass er schon in zwei Tagen an den Unterlieferanten der Stufe 3 schicken muss.

In der Praxis werden für alle Bestands-Kontrollpunkte entlang der Supply Chain bestimmte Reichweitenkorridore definiert, so dass die Lieferanten auf den unteren Stufen die Bedarfe meistens zu Wochen- oder sogar Monatslieferungen zusammenfassen können - auch wenn die Anlieferung bei MAN Nutzfahrzeuge in der Regel täglich erfolgt. Verantwortlich für die Einhaltung des vorgegebenen Bestandskorridors ist der Lieferant.

Durch die Bedarfs- und Bestandstransparenz war es möglich, die Bestände aller aktuell im VMI-System erfassten Teile zu senken - in Einzelfällen um bis zu 30 Prozent. Hochgerechnet auf die zur Anbindung vorgesehenen 150 Lieferanten erwies sich die RoI-Berechnung als korrekt.

Noch wichtiger aber ist die Verbesserung in Sachen Versorgungssicherheit. Sie liegt jetzt tatsächlich bei 100 Prozent. Im Laufe des Jahres sollen deshalb mindestens 50 weitere Lieferanten an das System angebunden werden. (qua)

*Michael Kobriger ist Leiter Disposition bei der MAN Nutzfahrzeuge AG in München.

Steckbrief

Projektart: Einführung eines Vendor-Managed-Inventory-Systems.

Branche: Maschinenbau, Fahrzeughersteller.

Zeitrahmen: Evaluierung seit Anfang 2002, Prototyp

Stand heute: seit März 2003 im Echtbetrieb.

Produkte: Supply-Chain-Monitoring-Lösung von Mapics auf Basis von .NET, Datenbanksystem SQL Server 2000.

Umfang: mit vorerst zwölf ausgewählten Lieferanten.

Ergebnis: Senkung der Bestände um bis zu 30 Prozent, Versorgungssicherheit bei nahezu 100 Prozent.

Nächster Schritt: Anbindung von 50 weiteren Lieferanten im Laufe dieses Jahres.

Von LKW bis Reisebus

Die MAN Nutzfahrzeuge AG ist das größte Unternehmen innerhalb des MAN Konzerns. Im Geschäftsjahr 2002 verkaufte es insgesamt 61600 Nutzfahrzeuge, darunter LKW im Bereich von sechs bis 60 Tonnen Nutzlast, Sonderfahrzeuge bis 300 Tonnen sowie Linien- und Reisebusse. Der Umsatz lag bei 6,6 Milliarden Euro, das operative Ergebnis bei 102 Millionen. Weltweit beschäftigt MAN Nutzfahrzeuge 34000 Mitarbeiter.