VoIP zwischen Mythos und Realität

13.02.2004
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 

Diese Einschätzung deckt sich mit den Beobachtungen der European Computer Telecoms Gruppe (ECT). Nach Ansicht des Münchner TK-Herstellers ist VoIP nicht wesentlich günstiger als herkömmliche Vermittlungstechnik, zumal die fehlenden Leistungsmerkmale von sprachbasierenden Mehrwertdiensten bei den VoIP-Betreibern Umsatzausfälle verursachen könnten. Die Leistungsfähigkeit des klassischen Telefonnetzes betont auch Wilfried Seibel, Pressesprecher der T-Com. So werde die T-Com vorerst weiter getrennte Wege bei IP- und Telefonnetz gehen, den Markt aber genau beobachten.

Bei Level 3, einem international agierenden Carrier, der Backbones für andere Telefongesellschaften bereitstellt, rechnet man in Europa frühestens in zehn Jahren mit einem Durchbruch von VoIP in den Weitverkehrsnetzen, in den USA dagegen schon in spätestens fünf Jahren. "In den USA existieren homogenere Netzstrukturen als in der EU, wo jeder Carrier sein eigenes Landesnetz betreibt", erklärt Jan Matthiesen, Leiter Technischer Vertrieb bei Level 3, "und erschwerend kommt das regulatorische Flickwerk in der EU hinzu."

IP-Telefonie im Corporate Network

Branchenkenner sehen für die Zurückhaltung europäischer Carrier in Sachen VoIP im Weitverkehrsnetz jedoch noch einen anderen Grund: Für die europäischen Telcos, die sich im Zuge der UMTS-Lizenzversteigerungen hoch verschuldeten, ist die klassische Telefonie mit einem geschätzten Jahresumsatz von 140 Milliarden Euro für Westeuropa die wichtigste Cashcow. Warum sollten die TK-Gesellschaften ihre bereits abgeschriebenen Vermittlungsstellen, mit denen sie Geld verdienen, abschalten und in neue VoIP-Technik investieren?

Geht es dagegen um die Sprachübertragung via IP in Corporate Networks, so zeigen die europäischen Carrier, egal ob Telekom oder British Telecom, durchaus Flagge. So lobt die T-Com ihre MPLS-IP-Plattform (MPLS = Multi Protocol Label Switching), die mit Latenzzeiten von nur 25 Millisekunden die von Business-Kunden erwartete QoS biete. Und Cormac Whelan, Vice President bei BT, rechnet vor, dass Unternehmen mit rund 10.000 Mitarbeitern durch die IP-Sprachübertagung im Corporate Network bis zu einer Million Euro an Gesprächsgebühren pro Jahr einsparen können.

Doch den Charme einer VoIP-Lösung macht weniger das Sparpotenzial aus, denn hierzulande ist es Unternehmen seit fast zehn Jahren erlaubt, im Rahmen der Private-Network-Regelung interne Telefonie über Datennetze zu übertragen. Allerdings beschränkt sich die damals verwendete Multiplexing-Technik auf die reine Übertragung, während der IP-Ansatz heute mehr Optionen bietet. So ermöglichte die Migration zu Voice over IP der Unternehmensberatung Cap Gemini Ernst & Young (CGEY) den Einstieg in ein zentrales Anruf-Management. Auf diese Weise konnte CGEY an den Standorten Berlin, Essen, München und Sulzbach die klassische TK-Anlage durch eine zentrale Sprachvermittlungsanlage auf Softwarebasis ersetzen. Auf die in der Stuttgarter IT-Zentrale installierte Anlage greifen die Filialen über das ATM-Netz der T-Com zu. Zudem verbindet das gemeinsame IP die bislang getrennten TK- und IT-Welten, indem es das Wählen aus einer Datenbank heraus erlaubt oder automatisch Notizen und Informationen zum Gesprächspartner abgerufen werden und am Bildschirm erscheinen. Wie weit diese Integration gehen kann, zeigt ein aktuelles IP-Telefon der Mitel Networks GmbH aus Düsseldorf. Der Mitarbeiter steckt seinen PDA in das Gerät und kann dann seine Outlook-Adressen als elektronisches Telefonbuch verwenden.