VoIP war nur der Anfang

26.02.2008
Durchgängig auf IP basierende Netzwerke schaffen die Voraussetzung für Unified Communications und für die nahtlose Integration von Kommunikation in die Geschäftsprozesse. Neun Experten diskutierten am Runden Tisch der computerwoche über die Chancen für Anwendungen auf Basis von NGN.

? Welche neuen Möglichkeiten bieten NGNs für Anwender?

Martin Ruoff: Wir bei Nortel sehen Unified Communications als Kernanwendung für Next-Generation-Netzwerke. Anwender erhalten ein einheitliches Endgerät und einen durchgängigen Kommunikationskanal in allen Netzen. Die Trennung zwischen Sprache und Daten wird schon in wenigen Jahren Vergangenheit sein.

Udo Sebald: Auch wir glauben, dass Unified Communications eine der wichtigsten Anwendungen für Next Generation Networks sein wird. Wir richten deshalb unser Portfolio komplett darauf aus.

Jörg Fischer: Wir nennen es nicht Unified Communications, sondern Instant Communication. Damit wollen wir zeigen, dass Kommunikationsdienste in alle Ebenen der IP-Transformation eingebettet werden. Es geht neben den Applikationen auch um die Netzwerke und Infrastrukturen selbst. Wir leben im Zeitalter der Konvergenz zwischen Diensten, Netzen, Applikationen und Geräten.

Thomas Müller-Kassner: IP ist die einheitliche Sprache für TK und IT. Es sind mit NGN keine Übersetzungsfunktionen zwischen Diensten mehr erforderlich, technologisch gesetzte Grenzen verschwinden; zum Beispiel die zwischen Festnetz und Mobilfunk. Alle Anwendungen können von jedem Endgerät überall genutzt werden. Diese mindestens schon zehn Jahre alte Vision wird mit NGN jetzt Realität.

Thomas Boele: Bewegte Bilder sind das, was die Leute am stärksten begeistert. Hier sind im Business-Bereich vor allem die Rich-Media-Videokonferenzen und Webcasts zu erwähnen. Diese sind - mit den anderen Rich-Media-Applikationen - die wirkliche Herausforderung für NGN wegen der hohen Anforderungen in puncto Bandbreite und Latenz, die an die Kommunikationsinfrastruktur gestellt werden.

Hans-Jürgen Jobst: Da wir auf Unternehmenskunden fokussiert sind, sehen wir es als unsere Aufgabe an, den Unternehmen intelligente Kommunikation bereitzustellen. Wir wollen deshalb die Kommunikation in die Geschäftsprozesse integrieren.

Frederik Koch: Ich glaube nicht, dass es eine Killerapplikation gibt. Der große Vorteil von IP ist, dass wir eine gemeinsame Plattform für Sprache und Daten haben - also Konvergenz. Wir wollen den Kunden Geschäftsanwendungen überall und immer zur Verfügung stellen können.

Carolin Müller: VoIP war nur der Anfang. Jetzt muss man das Rad weiter drehen und Kommunikation in die Geschäftsprozesse integrieren. Eine Herausforderung ist, die bestmögliche Erreichbarkeit zu bieten - das geht jedoch nur mit Hilfe von Präsenzinformationen. Damit kann man schnell und einfach herausfinden, wie der Ansprechpartner momentan am besten zu erreichen ist.

Christian Dietl: Unified Communications ist eine, aber nicht die einzige Anwendung. Unserer Meinung nach ist es wichtig, nicht über die Anwendung, sondern über den Kunden und dessen Bedürfnisse zu sprechen. Wir dürfen den Kunden nicht vergessen!

Koch: Richtig, wir machen das schließlich nicht für uns, sondern für unsere Kunden. Die Applikation hängt vom Kunden und dessen Geschäft ab. Dabei müssen wir uns stets fragen, was ihm am besten, dabei hilft, seine Prozesse zu verbessern.

Dietl: Und aus diesem Grund müssen wir den Kunden den Mehrwert, den wir mit durchgängigen IP-Netzen schaffen können, verständlich darstellen. Dabei geht es in erster Linie um Kosten, Effizienzsteigerung und neue Dienste. Doch Vorsicht: Wir dürfen den Kunden nicht mit Schlagworten zuschütten, sondern müssen ihm die Anwendungen auch konkret zeigen. Und dabei ist es wichtig, dass die Anwendungen einfach zu bedienen sind. Videokonferenzen gab es schon vor Jahren - aber keiner wollte sie nutzen, weil man dazu in ein Videokonferenzstudio gehen, sechs ISDN-Kanäle zusammenschalten und die Videokamera justieren musste. Das war nicht nutzerfreundlich. NGN-Anwendungen müssen einfach sein, damit sie akzeptiert werden.

Müller-Kassner: Wir sind auch der Überzeugung, dass NGN-Applikationen zunehmend netzbasiert zur Verfügung gestellt werden. Dies führt zu einer deutlichen Komplexitätsreduzierung für die Firmen: zum Beispiel ist kein Betrieb oder Upgrade der Software mehr erforderlich, die Wartung verringert sich für die Firmen bis hin zur Wartungsfreiheit.

Müller: Die Kommunikation muss sich mit einem Klick aktivieren lassen. Wenn ich in einer Mail auf eine Telefonnummer klicke, dann baut sich automatisch der Ruf auf. Das ist ein erster Schritt in Richtung Prozessoptimierung.

? Ist SOA eine Voraussetzung dafür, dass man Sprachkommunikation oder Instant Messaging in Anwendungen und Geschäftsprozesse integrieren kann?

Ruoff: SOA ist keine Voraussetzung, es vereinfacht aber die Kommunikation aus IT- und aus Anwendersicht. Sofern die Architekturmerkmale von SOA konsequent im Unternehmen umgesetzt werden, muss man ein Kommunikationsmodul nur einmal aufsetzen.

Boele: Ich glaube, dass die Intelligenz in die Netzwerke muss. Wir bei Cisco sprechen von serviceoptimierten Netzwerkarchitekturen - respektive vom Intelligent Information Networks. Diese Architekturmodelle unterscheiden zwischen einer Infrastrukturebene, eine Middlewareschicht und einer Ebene der Businessprozesse. Infrastruktur- und Businessprozessebene werden über die Middlewareschicht miteinander verbunden. Über einzelne Synapsen, sprich Protokolle, werden Businessprozesse bedarfsgerecht auf Middlewaredienste wie Unified Communications und Security zurückgreifen, die wiederum über weitere Synapsen Gebrauch von der darunterliegenden Infrastruktur machen.

Fischer: Wer von der Infrastruktur kommt, spricht von serviceorientierter Infrastruktur, wer von der Applikation kommt, spricht von serviceorientierter Applikation. Aber um was geht es denn bei beidem? Im Prinzip geht es immer um Interaktion zwischen den Diensten auf der Ebene der Infrastrukturen ebenso wie bei den Applikationen.

Müller: SOA erleichtert vieles, ist aber nicht unbedingt Voraussetzung. Ich sträube mich immer gegen das Wort SOA: Es ist in aller Munde, wird aber immer unterschiedlich gebraucht. Quintessenz ist doch, dass alles zusammenspielt - egal ob man es von der Infrastrukturseite oder der Applikationsseite her sieht. Wie man das nennt, ist egal.

Sebald: Wir setzen komplett auf SOA und bauen unsere gesamte Produktarchitektur darauf auf. Das hat den Vorteil, dass wir die Dienste als ganzes Produkt oder einzeln vermarkten können - und damit natürlich flexibel auf Kundenanforderungen eingehen können. Man kann dank SOA die Telekommunikationsmechanismen in die jeweiligen Geschäftsprozesse integrieren, ohne die komplette Applikation neu erstellen zu müssen.

Müller-Kassner: Keine Firma wird alle Funktionen alleine bereitstellen können. Was wir daher brauchen ist eine einheitliche Sprache, um die unterschiedlichsten Module einfach verknüpfen zu können. IP war der erste Schritt, SOA wird ein weiterer sein.

? Standardisierung versus Best-of-Breed-Ansatz: Welche Rolle spielt das Session Initiation Protocol SIP bei dieser Entwicklung?

Jobst: Unified Communications ist ein Multi-Vendor-Ansatz. Daher müssen wir über Standards und Standardschnittstellen sprechen, damit das alles zusammenspielt. Hier benötigen wir SIP.

Fischer: SIP ist das Protokoll für Multimedia und Mobilität. SIP bedeutet für mich "Sicht in die Perspektive". Aber SIP ist offen. Das ist einerseits das Geniale, andererseits das Chaos. Jeder, der etwas von SIP versteht, kann sich das raussuchen, was er will. Was wir jedoch brauchen, ist eine einheitliche Basis, mit der Anwender Dienste einfach verbinden und einfach administrieren können. Aber davon sind wir noch weit entfernt.

Jobst: Da bin ich anderer Meinung. Bei Unified Communications gibt es doch SIP-Standards. Microsoft beispielsweise hat doch einen wesentlichen Standard geprägt, um an den Office Communication Server ranzugehen. Den hat doch jeder Hersteller übernommen.

Fischer: Das ist dann doch kein Standard! Es werden altbekannte Protokolle wir CSTA (Computer Supported Telecommunications Applications, Anm. der Redaktion) über SIP getunnelt, und das unter Verwendung eigener Interpretationen von CSTA.

Jobst: Das ist ein De-facto-Standard. Zwar haben wir bei SIP noch ein paar Dialekte, aber wir sind bereits auf der Zielgeraden der Standardisierung. Die Telekommunikation der nächsten Generation basiert auf SIP. Beim Thema Videokonferenz setzen die namhaften Hersteller alle auf SIP. Damit erhalten wir interoperable Systeme.

Sebald: Dank SIP kann man Basisplattformen kundenspezifisch ausbauen und die Dienste interoperabel gestalten. Ein Beispiel dafür sind Dinge wie "One Number Service" - Nutzer können dann unabhängig vom jeweiligen Endgerät stets unter der gleichen Nummer erreichbar sein und ihre Erreichbarkeit selbst steuern. Auf Basis von SIP ist dies einfacher implementierbar als zum Beispiel mit CSTA.

Fischer: Die Standards werden immer weiter aufgeweicht, und das tut der Entwicklung wirklich interoperabler Kommunikationsdienste nicht gut. Ich bleibe dabei: Stand heute kocht jeder sein eigenes Süppchen, um nicht zu sagen SIPchen.

Ruoff: Bei SIP kommt jetzt der Druck des Marktes und ganz massiv von den Carriern. Die sagen: Wenn wir SIP einsetzen sollen, dann brauchen wir die Sicherheit, dass die verschiedenen Komponenten der Hersteller zuverlässig zusammenarbeiten. Ich sehe bei SIP eine ähnliche Entwicklung wie bei HTML, das anfangs so offen gestaltet war, dass man zwei oder drei Browser brauchte, um alle Webseiten anschauen zu können.

Müller-Kassner: Die Entwicklung bei SIP nimmt aus unserer Sicht einen typischen Verlauf. Verschiedene Standards konkurrieren zu Beginn einer neuen Technologie um die Vorherrschaft. Da aber gerade in der Telekommunikation Universalität eine zwingende Voraussetzung ist, wird die Industrie Lösungen finden. Außer Spezialisten wird sich schon bald niemand mehr um den Standard SIP kümmern müssen.

Koch: Ich glaube nicht, dass der Kunde die komplette Unified-Communications-Plattform immer von einem Anbieter beziehen wird. Er wird sich oft die Lösung aus Modulen verschiedener Herstellern zusammenstellen. Die Herausforderung ist es, dem Kunden genau das zu geben, was ihm den gewünschten Mehrwert bringt. Und dazu müssen wir die Problematik der Integration beherrschen.

Dietl: Jetzt kommen wir in ein gefährliches Fahrwasser. Das ist eine technologische Diskussion. Den Anwender interessiert das doch gar nicht. Der Kunde will nur, dass bestimmte Dinge funktionieren. Unsere Aufgabe ist es, ihm seine Wünsche zu erfüllen. Und mit SIP haben wir eine Basis dafür geschaffen. Ich glaube nicht, dass uns ein Standard gelingt. Aber wir werden eine Basis finden, auf der unsere Systeme miteinander sprechen werden.

? Unified Communications steht für die Integration der Mitarbeiter in die Kommunikationsabläufe, unabhängig von deren Aufenthaltsort. Wie kann man mobile Geräte in Unified-Communications-Anwendungen integrieren?

Boele: Dafür gibt es bereits Dual-Mode- respektive Multifunktionsgeräte. Kommt der Benutzer in das Unternehmensgebäude, kann der ein Gespräch an die unternehmenseigene Kommunikationsinfrastruktur übergeben. Auch umgekehrt geht das. Das funktioniert für Sprache, aber auch für den Zugriff auf Applikationen wie Mitarbeiterverzeichnisse, E-Mails, Kalender etc.

Ruoff: Aber Fixed Mobile Convergence ist doch immer noch zweigeteilt in IP- und GSM-Netz! Da steht überhaupt kein durchgängiges IP-Netz dahinter. Echte Festnetz-Mobilfunk-Konvergenz werden wir erst mit der nächsten Mobilfunkgeneration wie Long Term Evolution (LTE) oder auch Wimax (802.16e) bekommen.

Boele: Die Anwender wollen es aber doch jetzt. Also machen wir es. Was machen Sie in der Zwischenzeit?

Ruoff: Wir bieten auch Fixed-Mobile-Convergence (FMC-)Produkte an. Aber die Kunden fragen schon heute, wie es weitergeht und wie eine durchgängige Kommunikation ohne Übergänge zwischen den Netzen möglich ist. Das ist auch eine Kostenfrage für Unternehmen und Carrier.

Müller-Kassner: Sind wir in den letzten Jahren aber nicht schon weit gekommen? Ich kann mit meinem Notebook heute weltweit praktisch überall wie im Büro arbeiten. Mein Handy ist als Nebenstelle in die TK-Anlage eingebunden. Und mit der Presence-Funktion sehe ich, ob mein Kollege jetzt an seinem Rechner sitzt.

Koch: Man kann FMC-Anwendungen anbieten. Wir sind von einer homogenen Plattform noch weit entfernt. Wir reden deshalb von Anwendungen, die wir mobil zur Verfügung stellen. Das können wir auch mit einer heterogenen Lösung.

Jobst: Ich kann nicht akzeptieren, dass der Anwender nach der Technologie, die dahinter liegt, fragt. Genau das ist ihm doch egal. Wir werden noch lange ein Nebeneinander der Netze haben. Aber man muss die Komplexität der dahinterliegenden Netze verbergen. Der Kunde darf sie nicht bemerken.

Müller: Wichtig ist, dass wir dem Kunden immer das gleiche User-Interface bieten. Das muss auf dem Handy gleich aussehen wie auf dem PC. Nur so schaffen wir Akzeptanz.

Diskussionsteilnehmer

Thomas Boele: Technical Marketing Manager Security & Unified Communications, Cisco Systems;

Christian Dietl: General Manager, IP Networking Service Line, BT Germany;

Dr. Jörg Fischer: Consulterbetreuung und strategische Geschäftsentwicklung, Alcatel-Lucent;

Hans-Jürgen Jobst: Leiter Produkt und Service Marketing, Avaya;

Frederik Koch: Manager Hosted Services, Strategic Sales, NextiraOne;

Carolin Müller: Product Manager, Unified Communications, Business Group Informationen Worker, Microsoft;

Thomas Müller-Kassner: Executive Vice President, Marketing Strategy and Portfolio Management, T-Systems;

Martin Ruoff: Leader Sales Engineering Enterprise, Central Region bei Nortel;

Udo Sebald: Vice President Product Management, Siemens Enterprise Communications;

Oliver Häußler: Moderator.

Fischer: Ich bin mir sicher, dass der Nutzer durchaus damit leben kann, zwischen den Netzen hin- und herzuschalten. Aber wir müssen es ihm dennoch so einfach wie möglich machen. Nahtlose Übergänge zwischen Mobil- und Festnetz, sowie zwischen verschiedenen Mobilnetzen sind eindeutig komfortabler und schaffen Nutzerakzeptanz.

Ruoff: Ich persönlich finde die Übergänge sehr hinderlich. Zu Hause wähle ich mich über DSL ein, unterwegs per UMTS und am Flughafen verwende ich WLAN. Und immer ist das Procedere anders. Ich nehme es hin, weil es keine andere Lösung gibt, aber ich bin daran interessiert, dass sich diese Situation ändert.

Boele: Es ist eine Evolution. Am Ende dieser Entwicklung stehen Konvergenz und Transparenz. Das ist klar.

Dietl: FMC befriedigt nur die Erwartungshaltung des Kunden. Wir versuchen, mit BT Corporate Fusion die erforderliche Bandbreite an möglichst vielen Stellen bereitzustellen. Das ist ein guter Versuch. Aber da müssen wir weitergehen. Neue Technologie ist gefragt. Die Evolution muss in die richtige Richtung gehen. Mit Corporate Fusion ist der erste Schritt gemacht.

Sebald: Unified Communications heißt nicht, alles auf allen Geräten erledigen zu können. Es bedeutet, dass wir Möglichkeiten anbieten, flexibel und effizient zu sein, und die Erreichbarkeit der Mitarbeiter steigern, wobei der Nutzer selbst den Grad der Erreichbarkeit festlegen kann. Es ist ja gerade die Vielfalt an Kommunikationsgeräten, die dem Benutzer heute das Leben erschwert.

Ruoff: Das wirft aber auch Fragen auf: In Zukunft werden wir immer und überall erreichbar sein. Unternehmen sollten darauf reagieren und den Mitarbeitern Möglichkeiten einräumen, sich eigenverantwortlich Freiräume für Familie und Freunde zu schaffen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.