Vision der DV-Landschaft bleibt auf den PC fokussiert Gates: Intelligente Applikationen recherchieren selbst im Internet

01.12.1995

LAS VEGAS (jm) - In seiner Keynote-Speech auf der Comdex in Las Vegas strafte Microsoft-Chef Bill Gates jetzt alle Analysten Luegen. Statt wie prognostiziert den Internet-Boom zu verschlafen, hat Gates bereits konkrete Visionen und Produktplaene in diese Richtung. Er liess keinen Zweifel daran, dass Microsoft alle Anstrengungen unternehmen wird, sich seinen Claim im Internet- Geschaeftsumfeld zu sichern.

"Das Internet ist eine Goldgrube, in der man tatsaechlich auch noch Gold finden kann." Der 40jaehrige setzt wie die gesamte Industrie auf Potentiale, die sich aus der globalen Rechnervernetzung ergeben koennten. So konzentriert sich Microsofts Unternehmensstrategie kuenftig nicht mehr allein auf Betriebssysteme und die "Office"-Suite, die Gates als Front-end fuer das Internet und unternehmensinterne Netze sieht.

Zusaetzlich plant Microsoft eine Reihe von "Backend"-Server-Tools. Dazu wird unter anderem ein sogenannter "Commerce-Server" gehoeren. Neben den Schnittstellen fuer das Internet soll er vor allem einen wesentlich hoeheren Sicherheitsstandard als heute ueblich garantieren.

In Gates' Vision arbeitet der Anwender kuenftig in einer "projektorientierten Arbeitsumgebung", in der seine Kreativitaet nicht mehr durch die Struktur der heute ueblichen Applikationen eingeschraenkt ist. Dabei orientiert sich der User nicht mehr explizit an Text- oder Daten-Files, sondern an einem Arbeitsdokument, das Gates "Binder" nennt. Dieses kann sich aus einem Mix unterschiedlicher Applikationskomponenten zusammensetzen und Datenformate wie beispielsweise Text, Grafik, Fotos, Animationen, Audiodateien etc. beinhalten.

Ermoeglichen sollen dies, wie Gates sagt, "hochintegrierte und kooperative Anwendungskomponenten" - etwa vergleichbar mit den Compound Documents, wie sie von den Objekttechniken Object Linking and Embedding (OLE) oder Opendoc bekannt sind. Der Anwender beginnt seine Arbeit in dem Binder, auch als Container bezeichnet, aehnlich wie der konventionellen, nichtdigitalen Arbeitsweise auf einem weissen Blatt. Den jeweiligen Anforderungen entsprechend, aktiviert der Benutzer dann nur die benoetigten Komponenten der Programme.

Doch die neue Software erleichtert nicht nur das projektorientierte Arbeiten, sondern kann, "intelligent" wie sie ist, Aktionen wie Datenbankrecherchen eigenstaendig durchfuehren. "Applikationen der naechsten Generation sind nicht nur leicht zu erlernen und zu bedienen, sie passen sich vielmehr an die Art und Weise an, wie Benutzer an ihren Rechnern arbeiten", erklaerte Gates seine Vorstellung der PC-Nutzung der Zukunft.

Mit Hilfe von Software-Agenten will er die neue Arbeitsweise in der Praxis verwirklichen. Die kleinen Helfer koennten beispielsweise bei bestimmten Woertern eine Datenbanksuche im Internet vorschlagen, die dann im Hintergrund laeuft. Bei diesem Verfahren braucht der User der Zukunft seine Arbeitsumgebung, den Binder, nicht mehr zu verlassen, um weitere Aktionen auszufuehren.

Gates setzt auf leistungsstarke PCs

Waehrend sich Gates' Vision vom staendig mit dem Internet verbundenen Anwender nur unwesentlich von den Phantasien anderer DV-Groessen unterscheidet, steht der Microsoft-Boss in einem Punkt alleine da: Er glaubt als einziger an die Zukunft des PCs als leistungsstarken Desktop-Rechner. Bei Sun, IBM und Oracle setzt man dagegen auf maechtige Internet-Server, die einfache, kostenguenstige Desktop-Terminals bedienen. Zudem hat die IBM- Vision fuer das Unternehmen einen weiteren eigennuetzigen Vorteil: Die Mainframe-Dinosaurier ueberleben im Internet-Zeitalter dank WWW-Server-Software fuer MVS.