Virtual Reality/DV nicht auf Biegen oder Brechen In Architekturbueros ist noch kein Platz fuer virtuelle Raeume

14.07.1995

Von Rene Urs*

Wider Erwarten ist Virtual-Reality-Technologie im Bereich der Architektur kaum realisiert. Zuwenig Computerwissen der Architektenzunft, eine unausgewogene Kosten-Nutzen-Relation, unzureichende Bildaufloesung und andere Maengel im Hinblick auf die Praxis in den Architekturbueros verweisen heute noch auf gute CAD- Anwendungen, die fotorealistische Darstellungen liefern koennen.

Thorsten Loemker, DesignDirector und Leiter Computer-Visualisierung beim Architektenbuero Kahlen + Partner in Aachen, skizziert mit schnellen Strichen den Eingangsbereich eines Buerogebaeudes: gestalterisches Brainstorming sozusagen, um mit Phantasie, gepaart mit konzeptionellem Denken, den Einstieg in das Kundenprojekt zu finden. Rund 100 Architekten, die auf die drei Standorte Aachen, Berlin und Cottbus verteilt sind, sitzen bei Kahlen + Partner derzeit an Projekten wie der Entwicklung von Wohnhaeusern, Buerogebaeuden, Geschaefts- und Einkaufszentren bis hin zur Neugestaltung von Bahnhoefen, Schulen und unter Denkmalschutz stehenden Bauten.

Fotorealistische Darstellung mit CAD

Natuerlich tauscht der Master of Science CAAD (Computer-aided Architectural Design) und diplomierte Ingenieur Loemker ebenso wie seine Kollegen schnell Papier und Stift gegen leistungsfaehigeres Systemwerkzeug ein. Immerhin kann man bei Kahlen + Partner in Aachen auf das Potential mehrerer leistungsstarker Silicon- Graphics- und einer Vielzahl von Sun-Workstations zurueckgreifen. Vor allem auf die Visualisierungs- und Schneideprogramme wie "Softimage", "Wavefront", "Matador" und "Advance" auf den 120 000 Mark teuren Silicon-Graphic-Workstations (mit R4400-Prozessor, 224 MB Arbeitsspeicher und acht gesonderten Grafikprozessoren) ist man stolz. Immerhin verfuegt man damit als eines der ersten deutschen Architektenbueros ueber eine Systemumgebung, mit der unter anderem die stampfenden Dinosaurier im Jurassic Parc taeuschend echt nachgeahmt wurden.

Dennoch ist Loemker alles andere als systemglaeubig. Sein Credo: "DV nicht auf Biegen oder Brechen, sondern fuer jeden Zweck die angemessene Loesung." Insbesondere bei kleineren Projekten seien herkoemmliche Praesentationstechniken - wie der Modellbau - eher die Methode, um dem Kunden fruehzeitig Einblick in das Bauobjekt zu gewaehren. Die fotorealistische Darstellung von dreidimensionalen CAD-Daten geht schon einen Schritt weiter, um das zukuenftige Gebaeude nahezu fotorealistisch von innen und aussen als Einzelbild oder Ausdruck zu praesentieren. Eine Darstellungsweise, die sich jedoch nach Loemker bei der Vielfalt einfallsloser Architekten selten lohne, denn in Deutschland werde meist steril mit standardisierten Gestaltungselementen im 08/15-Stil gebaut. Anders sehe es bei Architekturbueros mit echtem Gestaltungswillen aus. Hier koennten fotorealistische Gestaltungsvariationen schnell zum passenden Gebaeude-Outfit und -Interieur fuehren.

Wird das Objekt dabei aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und danach Bild fuer Bild per Computeranimation zu einem Video zusammengestellt, erhaelt der Kunde eine bewegte und wirklichkeitsnahe Sicht des Gebaeudes in seinem realen Umfeld. 25 Bilder pro Sekunde genuegen, um Objekt und Umfeld ruckfrei darzustellen. "Fuer eine derartige Computer-Visualisierung bleibt allerdings nur selten Zeit", beschreibt Loemker den Alltag im Architektenbuero. Und der Kostenaufwand? Auch er passe nicht in das Schema fuer Architekten und Ingenieure, weil hier lediglich ein geringer Prozentsatz des Honorars fuer Praesentationen vorgesehen sei. Dabei gilt es nicht nur, den hohen Kostenaufwand an Mannmonaten fuer die Computer-Visualisierung zu decken. Auch die Rechnerumgebung und die dazugehoerigen Programme wollen finanziert sein. Zwischen einer und 1,2 Millionen Mark kosten drei Arbeitsplaetze mit den entsprechenden Rechnern. Zusaetzlich muessen rund 70 000 Mark im Jahr fuer Support und Hotline-Dienst veranschlagt werden.

Kein Wunder, dass der Computer-Visualisierungsspezialist Loemker ein solches Systemumfeld fuer die in der Regel kleinen deutschen Architektenbueros - mit zehn bis 15 Mitarbeitern gehoert man hier bereits zu den groesseren - in weiter Ferne sieht: "Die einzige Moeglichkeit, die Kosten zu senken und dennoch eine zufriedenstellende Darstellungsqualitaet zu erreichen, ist, die Dienste eines der vielen Computergrafikstudios in Anspruch zu nehmen, die sich in letzter Zeit auch in Deutschland etabliert haben. Hat der Architekt diesen Weg erst einmal eingeschlagen, besitzt er jedoch nur noch geringe Moeglichkeiten, waehrend der Erstellung einer Visualisierung auf die Gestalt der Baukoerper und damit auf die Computergrafik Einfluss zu nehmen." Die Architektur- Visualisierung verkomme in diesem Fall zu einem reinen Praesentations-, das heisst Show-Instrument. Die urspruengliche Absicht, dem Architekten ein Werkzeug in die Hand zu geben, mit dessen Hilfe sich die Qualitaet der Architektur ueberpruefen und gegebenenfalls verbessern laesst, laeuft dabei ins Leere.

Und wie sieht es mit den virtuellen Raeumen im Architektenbuero aus? Loemker winkt ab. Fuer ihn - mit Erfahrung in der virtuellen Welt - stehen solche Systeme zumindest in weiter Ferne, wenn sie ueberhaupt im Architektenbuero eine Zukunft haben sollten. Die Gruende fuer seine reservierte Haltung sind stichhaltig. Angefangen bei den Investitionen fuer Programme und architekturspezifische Entwicklungskosten von mehreren hunderttausend Mark ueber die Rechnerumgebung im Wert von 1,2 Millionen Mark bis hin zum enormen Zeitaufwand fuer die Gestaltung des virtuellen Raums. Dazwischen tut sich fuer ihn eine Kette von negativen Aspekten auf. VR- Entwicklungen stammen groesstenteils aus der Militaerforschung. Die Industrie versuche nun krampfhaft, auch ziviles Anwendungspotential fuer die kommerzielle Vermarktung dieser Systeme auszumachen. Obwohl grafische Benutzeroberflaechen mittlerweile auch in VR-Programmen Anwendung faenden, koenne ihre Handhabung, Einrichtung und Wartung dennoch nur von geschulten Experten bewerkstelligt werden. Zudem bezweifelt er, dass der Kunde - in der Regel ein Entscheidungstraeger des Unternehmens - dazu bereit ist, Datenhelm und Datenhandschuh anzuziehen und unter realem Blick seiner Kollegen fiktiv in die Scheinwelt hinabzusteigen. "Wenn er es dennoch tut", so Loemker, "bekommt er es schnell mit Navigationsproblemen zu tun, zumal ihn aufgrund der unzureichenden Bildaufloesung Schwindel befaellt." Verstaerkt wird dieses Schwindelgefuehl durch ruckhaft wechselnde Bildsequenzen, weil das System nicht in der Lage ist, die schnell wechselnden Bildinformationen in Echtzeit zu verarbeiten. "Navigiert er sich mit dem entsprechenden Fingerzeig erst einmal durch die Aussenwand, findet er zumeist nicht mehr ins Gebaeude zurueck." Auch steht in Frage, ob der interaktive Weg durchs Gebaeude besser ist als der definierte, der nach seiner Meinung mindestens ebensogut ueber die raeumlichen Gegebenheiten Aufschluss gibt. In diesem Fall reicht aber die an sich schon teure Computer-Visualisierung vollkommen aus.

Es sprechen aber noch viel handfestere Gruende gegen den Einsatz des virtuellen Raums im Architektenbuero, wie Loemker darstellt: "Eine einzige Praesentation kann Kosten in Hoehe von 100 000 Mark verursachen. Im Vergleich zur vordefinierten Computeranimation in hoher Qualitaet erhaelt der Kunde dafuer allerdings nur ein zweifelhaftes VR-Erlebnis und vielleicht dazu einen minderwertigen Videomitschnitt seiner - im wahrsten Sinne des Wortes - virtuellen Reise durch die projektierte Architektur." Loemker sieht die Diskrepanz zwischen der propagierten Technik des virtuellen Raums und dem technisch und betriebswirtschaftlich Machbaren aber noch in anderer Hinsicht. "Die DV gehoert bis heute nicht in ausreichendem Masse zur Ausbildung des Architekten. Doch mindestens eine Einarbeitungszeit von einem halben Jahr waere am CAD-System noetig, um die Anwendung wirkungsvoll zu nutzen. Auch setzen sich viele Architekten, gerade aeltere, nur mit Widerwillen mit neuen Techniken auseinander." Deshalb ist er sich sicher, dass 95 Prozent aller deutschen Architekten CAD falsch und damit nicht gewinnbringend einsetzen. "Wenn bereits diese Technik bei weitem nicht effizient genutzt wird, wie soll es dann bei der Computersimulation und erst recht bei Virtual Reality aussehen?" fragt sich der Design-Director zu Recht.

*Rene Urs ist freier Journalist in Frankfurt