Virtual Reality/Bosnien, Kinkel und Co. im blauen Raum TV-Magazin jetzt mit virtueller Echtzeittechnik live auf Sendung

14.07.1995

Von Horst-Joachim Hoffmann*

Mit professioneller Anmoderation ohne Schnickschnack kam die neue ARD-Fernsehwelt - vorerst zur Probe - in unser aller gute Stube. Am 9. Juni dieses Jahres ging das erste ARD-Nachtmagazin mit virtueller Echtzeittechnik live auf Sendung. Realer Aufmacher in kuenstlicher Studiowelt: die Meldung ueber den in Bosnien abgeschossenen und geretteten US-Piloten Scott O'Grady - ohne das Phantom seiner F-16.

Die virtuelle Technik erobert auch die Fernsehwelt mit voller Kraft der Rechnerleistung. Premiere, Kabel 1 und nun auch die ARD (mit einer Weltpremiere als erstem live aus einem virtuellen Studio gesendeten Nachrichtenmagazin) nutzen Computer-gebastelte Kulissen, um zu unterhalten, Information besser darzubieten und den Zuschauer vom Zappen zum Staunen zu bringen.

Da versinken dekorativ im Studio plazierte Buchstaben einer Drei- Punkte-Partei im Boden, laeuft der Moderator an ebenjener Stelle nur wenig spaeter um Golf-Faehnchen herum, bewegt sich Grafik freischwebend im Raum. Zu guter Letzt spendierten die ARD- Wetterfroesche noch einen Mini-Simulatorflug von Stuttgart nach Hamburg, knapp unter der Wolkendecke. Regenwolken live.

Die Aufgabenstellung, die von den Intendanten der ARD vorgegeben war, lag in dem Beweis, dass virtuelle Technik auch im Live-Betrieb unter extremem Zeitdruck einsetzbar ist, erlaeutert Georg Grommes, Projektleiter beim NDR. Anfragen von Fernsehstationen aus aller Welt belohnten die Macher des ARD-Aktuell-Teams ob der glattgelaufenen Sendungen.

Skepsis im Hinblick auf die Seriositaet des Mediums

Die neue Technik, die den Moderator virtuell an jeden Ort der Welt beamen oder ihm fiktive Gespraechspartner ins Studio holt, stoesst bei den Nachrichtenprofis allerdings auf eine gewisse Skepsis in Hinblick auf die Seriositaet ihres Mediums: "Wir werden nicht spielen und kuenstliche Bilderwelten schaffen, bei denen der Zuschauer nichts mehr nachvollziehen kann - moeglicherweise dann sogar manipuliert wird", betont der Chefredakteur von ARD Aktuell, Ulrich Deppendorf.

Die Realisierung lieferte ein Team unter technischer Federfuehrung der IMP GmbH aus Kaltenbrunn bei Muenchen in enger Kooperation mit der DMC aus Wien, die die Gestaltung arrangierte.

Als harte Ware uebernahm eine "Onyx Reality Engine 2" von Silicon Graphics die vielfaeltigen Berechnungsarbeiten, als Software kam "Platform" zum Einsatz - eine Entwicklung zum Realtime-Rendering der IMP, die zur virtuellen Darstellung auf die Realtime- Moeglichkeiten der Reality Engine 2 abgestimmt ist. Nach Aussage von Ralf Stanke, dem technischen Leiter der IMP, wurde die Software in den letzten zwoelf Jahren stets weiterentwickelt.

Urspruenglich produziert, um klassische Fernsehgrafik aufzubereiten, wird diese Software zum Beispiel bei Wahlberichterstattungen oder Sportsendungen eingesetzt, um in irgendeiner Form vorhandene Daten in Grafiken umzusetzen.

Platform ist in C sowie C++ geschrieben und laeuft auf der Unix- Oberflaeche "Irix" von Silicon Graphics. Die Ueberarbeitung des Programms und eine staerkere Ausrichtung auf neue, breitere Anwendungsbereiche durch eine Vereinfachung der Benutzeroberflaeche begann vor rund zwei Jahren.

Reality Engine 2 fuer 3D-Echtzeitgrafik

Der bei dem ARD-Projekt eingesetzte Onyx-Rechner laeuft auf vier RISC-Prozessoren von Typ R4400 mit 200 Megahertz und in diesem Fall 512 MB RAM. Als Festplattenspeicher sind 4 GB vorgesehen. Das grafische Subsystem Reality Engine 2 basiert laut Silicon Graphics auf einer skalier- und erweiterbaren Architektur und bietet 1,2 Gflops (Giga Floating-Point Operations Per Second) Floating-Point-Leistung alleine fuer die Beschleunigung der geometrischen Transformationen und die Bildverarbeitung. Pro Sekunde bringen sie nach Angaben des Unternehmens bis zu 1,5 Millionen Dreiecke auf den Bildschirm.

Zu den Eigenschaften der Reality Engine 2 fuer 3D-Echtzeitgrafik zaehlen Realtime-Texture-Mapping, volumetrische 3D-Texturen, Realzeit-Multisample-Anti-Aliasing von Polygonen, Vektoren und Punkten, 48-Bit-Farb-Vierfach-Pufferung sowie Standard- Videoausgaenge und diverse Video-Optionen.

Die Reality Engine 2 ist mit einem hochaufloesenden Grafikarbeitsplatz und verschiedenen TCP-Terminals zur Steuerung ausgestattet. Am Regiepult reicht ein 386er PC mit einer recht einfachen Steuerungssoftware, der mit dem Hauptrechner verbunden ist.

Die Stativkameras im Studio sind jeweils mit einem Schwenkkopf ausgeruestet, der ihnen vier Freiheitsgrade horizontal und vertikal sowie Focus und Zoom bietet.

Die vier Achsen sind ueber einen Memory-Head realisiert. Er wird nicht mechanisch, sondern ueber einen "Zoom-Griff" mittels Drucksensor bewegt. Die Intensitaet des Drucks wird an eine CCU (Camera Control Unit) zur Steuerung der Schrittmotoren gemeldet. Gleichzeitig gehen die Daten ueber Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung ueber eine serielle Leitung an den Onyx-Rechner.

Ein Problem ergibt sich nach Aussage Stankes dadurch, dass der Memory-Head zeitlich gesehen langsamer ist als die Grafik; bevor also die Motoren der Kamera bewegt werden, ist der Hintergrund schon fertiggerechnet.

Der Vorgang muss deshalb verzoegert werden, damit der Fernsehzuschauer ein synchron laufendes Bild aus realer Kamerabewegung und virtueller Hintergrundveraenderung erhaelt. Sonst turnt Reales aus dem Studio frei im Bild. Diese Berechnung und der Synchronabgleich erfolgen staendig, also auch bei sich nicht bewegender Kamera.

Leistungsmaessig koenne es zwar theoretisch passieren, dass der Computer die zu bewaeltigende Aufgabe der Berechnung von 50 Bildern je Sekunde wegen deren Komplexitaet nicht mehr schaffe, aber, so Stanke, dies sei bisher nicht vorgekommen. Die Grafiken, die Dekoration und den Inhalt der Veraenderungen legt die Redaktion vor der Sendung fest. Hier entsteht gerade bei hochaktuellen Tagesnachrichten der Zwang, praezise und schnell zu arbeiten.

Von der Gestaltung her bietet das System ueber die sogenannte Blaustanze - vom Typ her eine amerikanische Ultimate 7 - auch die Moeglichkeit, 3D-Objekte vor den Moderator in den Raum zu stellen; beim ersten Nachtmagazin waren dies unter anderem Golf-Faehnchen, um die Moderator Claus Erich Boetzkes geschickt herumging, bei der zweiten Sendung ein Tisch oder auch ein ueberdimensionierter Tennisschlaeger. Bei solchen Dekoelementen wird ein Standsignal mitgerechnet; dieses Schwarzweiss- oder Key-Signal geht ebenfalls in die Blaustanze ein.

Sie hat urspruenglich die Aufgabe, ueberall dort, wo die Farbe Blau auftaucht, das errechnete Computerbild durchzustanzen.

Ungefaehr 80 Prozent eines derart aufgebauten Bilds sind blau, die restlichen 20 Prozent real - sprich: der Moderator steht im Bild, oder reale Dekorationselemente befinden sich im Studio.

Dabei leistet die Blau-Stanze noch einen zusaetzlichen Dienst. Ist das Blau an einer Stelle dunkler, wird hier auch das Computerbild entsprechend abgedunkelt. Die realen Schatten uebertragen sich so auf die virtuelle Computergrafik.

Kuenstliche Dekoration wird mittels eines weiteren technischen Schmankerls gezaubert: Liegt ein festes Key-Signal an, wird ebenfalls ein entsprechendes Computerbild eingefuegt. Saeulen, Tische und andere Elemente sind so mittels eines optischen Tricks auf dem Fernsehschirm existent. Der Moderator muss lediglich wissen, wo die Elemente im gesendeten Fernsehbild plaziert sind, um nicht hindurchzulaufen - eine Hilfe sind blaue Markierungen auf dem Boden. Umdenken musste so auch Moderator Boetzkes. Das Studio 4 in Hamburg Lockstedt, aus dem gesendet wurde, war zu einem blauen Raum ohne Ecken und Kanten umfunktioniert worden, lediglich Bodenmarkierungen und der - seitenverkehrte - Blick auf Kontrollmonitore gaben Boetzkes Hinweise darauf, ob er nun quer durch ein virtuelles Dekoelement spazierte oder drumherum.

Die besondere Problematik lag nach Grommes Auskunft darin, dass nicht wie bei herkoemmlichen Nachrichtensendungen mit vorgefertigtem standarisiertem Material wie Karten gearbeitet werden konnte.

Ein blauer Raum ohne Ecken und Kanten

Das Kartengrundmaterial kam von CDs, musste allerdings fuer den virtuellen Einsatz erst noch bearbeitet werden. Die Grafikabteilung stand deshalb unter Hochdruck.

Im Gegensatz zum traditionellen Verfahren bietet ein virtuelles Studio immense Vorteile: Nach dem Dekorationsentwurf eines altbekannten Studios beginnt der Buehnenbau mit seinen Arbeiten, die sich je nach Aufwand auch ueber mehrere Wochen hinziehen koennen. Dem Aufbau im Studio folgt die Ausleuchtung, bevor die eigentliche Produktion startet. Auch hier ist ein erneutes Einleuchten der Moderation notwendig - ganz zu schweigen von den Kameraproben. Das virtuelle Studio besteht so lediglich aus einem Raum, der eine kontinuierliche Farbe besitzt - Blau hat sich durchgesetzt, zur besseren Lichtausbeute experimentiert man laut Stanke allerdings auch mit anderen Farben wie beispielsweise Gruen.

Wichtig ist die Einrichtung des Raums ohne Ecken und Kanten, um Lichtbrechungen und Schattenwurf zu vermeiden. Schatten duerfen nur auf den Boden, nicht jedoch auf die Waende fallen. Spezielles Einleuchten, Buehnenbau und andere handwerkliche Arbeiten entfallen, da der Raum nur einmal eingeleuchtet werden muss. Er wird so optisch zu einer zweidimensionalen Flaeche.

Der wirtschaftliche Aspekt eines virtuellen Studios liegt vor allem darin, dass Stehzeiten fuer Technik und Studio (Aufbau der Dekoration, Einleuchtung) fast gaenzlich wegfallen. Gut zwei Stunden vor einer Sendung beginnen die ersten Ablaufproben, direkt nach dem Abspann ist der blaue Raum frei fuer die naechste Sendung.

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Fachjournalist in Muenchen