Virtual Reality/Alte und neue Techniken werden sich ergaenzen Digitale Medien sind auf die virtuelle Realitaet angewiesen

14.07.1995

Von Christian Bauer*

Virtual Reality (VR) mag manche Bereiche voellig umwaelzen, sich in anderen ganz unbemerkt ausbreiten. In jedem Fall ist diese Technologie ein Teil der tiefgreifenden, dynamischen und umfassenden digitalen Revolution, die sich zur Zeit vollzieht. Hier eine Momentaufnahme, die die Positionierung von VR im Feld der neuen digitalen Medien zeigt.

Man koennte sagen, dass eine Revolution stattfindet, die wir gar nicht bemerken. Unsere Telekommunikation aendert sich und damit einhergehend auch unsere Kommunikation. Das World Wide Web (WWW), das Internet und der Multimedia-Bereich verzeichnen extreme Expansionsraten. Das WWW waechst seit Anfang 1995 um bis zu 20 Prozent im Monat, das sind ungefaehr 650 Prozent im Jahr, was einen Wachstumsfaktor von 7,5 ergibt. Setzt sich diese Entwicklung fort, und im Moment muss man wohl davon ausgehen, so erhaelt man nach dem zweiten Jahr bereits einen Faktor von 66!

Auf dem Weg in die digitale Zukunft

Eines von vielen Beispielen dieser "Digitalisierung": Im Februar 1995 genehmigte die amerikanische Security and Exchange Commission den Verkauf von Aktien der Spring Street Brewing Co. ueber das Internet. Bewerbung, Vermarktung, Verkauf und Zahlungsverkehr wurden darueber abgewickelt. Eine Methode, um die rigiden Gebuehren an der Wallstreet zu umgehen, und ein Praezedenzfall fuer die Verbreitung des neuen Mediums. Ausserdem auch ein logischer Prozess. Schliesslich funktioniert der moderne Wertpapierhandel nur mehr mit einer symbolhaften Repraesentation eines "Wertpapiers" - naemlich einer Buchungszeile im Computer. Das heisst, symbolische Firmenanteile1) werden in symbolischer Weise ausgetauscht. Diese Transaktionen lassen sich sehr vorteilhaft computerisieren, und genaugenommen ist auch die Boerse in ihrer bisherigen Form, an einem bestimmten geografischen Ort, ueberfluessig geworden2).

Beinahe alle wichtigen Medien sind auf dem Weg in eine digitale Zukunft: Die CD, die Minidisk und DCC loesen die LP und die Kompaktkassette ab. Das analoge HDTV (hochaufloesendes Fernsehen) gilt als gescheitert. Nach ueber 20 Jahren Pilotversuchen denkt man in Japan um, und auch das europaeische HD-MAC wird nicht mehr unterstuetzt. Es gilt als wahrscheinlich, dass sich digitales Fernsehen mit all seinen Vorteilen durchsetzt: Hochkomprimierende Uebertragungsformen3) sparen Bandbreite und erhoehen die Bildqualitaet (durch gezielt eingebaute Redundanz lassen sich Fehler in der Signaluebertragung kompensieren 4), die Bildaufloesung (Anzahl der Punkte) kann an die Moeglichkeiten des Endgeraets und die gegebene Uebertragungsbandbreite angepasst werden; das Verhaeltnis von Bildbreite und Bildhoehe ist variabel, Dienste wie Video on demand, Pay per view und einiges mehr sind einfach zu realisieren. Schliesslich ist Digitalisierung die Chance fuer ein ungestoertes Wachstum, wie es die Schlagwoerter "Update" und "Upgrade" beschreiben.

Neue Medien werden bisher ungeahnte Speicherdichten erreichen. Eine CD-ROM bietet heute Platz fuer ungefaehr 600 MB (unkomprimiert). Das Nachfolgeformat, an dem bereits gearbeitet wird, ermoeglicht durch engeres Beschreiben des Traegermaterials eine ungefaehr zehnfache Speichermenge. Es gibt keinen Grund mehr, Kupferkabel im Bereich der Telekommunikation zu verwenden. Laut Nicholas Negroponte, Direktor des Media Labs am Massachusetts Institute of Technology (siehe Buchtip am Schluss) kostet in den USA Glasfaserverkabelung inklusive der notwendigen Steuerelektronik heute weniger als vergleichbare Kupferverkabelung, und dies bei einer mehrfach hoeheren Bandbreite.

Natuerlich werden uns die alten Technologien in mehr oder weniger grossem Massstab erhalten bleiben. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass die Morgenzeitung durch ein World-Wide-Web-Terminal ersetzt wird. "Zeitungstechnologie" hat viele Vorteile: Eine Zeitung hat wenig Gewicht, ist preiswert in der Herstellung, weitgehend unempfindlich gegen Temperatur und Naesse, und sie funktioniert zuverlaessig. Die verschiedenen Moeglichkeiten der Weiterverwendung seien erst gar nicht mitgerechnet. Fuer eine Zeitung muessen allerdings Baeume gefaellt werden, sie muss entsorgt werden, die produzierte Auflage wird nie der verkauften Menge entsprechen (ein schwerwiegendes logistisches Problem). Darueber hinaus stellen Verpakkung und Lieferung einen riesigen Kostenfaktor dar.

Betrachtet man den Computerbereich genauer, dann fallen zwei Komponenten der "Digitalisierung" auf:

Die Systemintegration erreicht mit "Multimedia" einen kritischen Punkt, waehrend gleichzeitig die Preise sinken. Der Computer kann mehr als nur rechnen und beginnt langsam zu "verschwinden". Der Computer ist heute Textverarbeiter, Konstruktionswerkzeug, Kommunikationszentrale, Spiel- Spass-, Animationsgeraet und vieles mehr noch.

Moeglicherweise geraet man als Anwender jedoch in erhebliche Verlegenheit, wenn man zwei groessere Zahlen miteinander multiplizieren will - der Computer tritt naemlich immer weniger als Rechner in Erscheinung.

Eine zweite Phase5) Kuenstlicher Intelligenz (KI) steht uns bevor. Sie ist eher im Hintergrund angesiedelt6) und ermoeglicht mittels Assistenten beziehungsweise Agenten7) eine bessere Mensch- Maschine-Interaktion.

Eine Reaktion auf die stark ansteigende Komplexitaet in der Benutzung und der Vielseitigkeit des Computers. Oft dient der PC neben einer Hauptaufgabe wie Buchhaltung, CAD oder Textverarbeitung schon als zentrales Kommunikationszentrum: Faxe senden, Faxe empfangen, Nummernwahl beim Telefonieren, E-Mail, Anrufbeantworter, Radio und Fernsehen8). Nicht einfach, da noch den Ueberblick zu bewahren.

Virtual Reality ist ein kleines Produkt der digitalen Revolution. Es kann jedoch angenommen werden, dass VR einige Bedeutung innerhalb dieser umfassenden Bewegung erlangt. Immerhin gewinnt die Simulation von Prozessen in einer komplexer und anfaelliger werdenden Welt an Wichtigkeit.

Ausserdem ergeben sich relativ kurzfristig ganz neue Perspektiven in der Unterhaltung, Wissenschaft und Mensch-Maschine-Kommunikation.

Unsere Vorstellung reicht heute nicht aus, um die Einsatzgebiete von Virtual Reality genau vorherzusagen. Es waere sicherlich falsch, diese Technologie unkritisch als quasi "idealen Aufsatz" zu bestehenden Berufen zu sehen. In viel groesserem Ausmass wird die Technologie nutzvoll in anderen Bereichen verwendet werden koennen.

Jungen Unternehmern und Unternehmerinnen, kreativen und innovativen Menschen bietet die neue Technologie eine besondere Chance. Allerdings ist Vorsicht geboten, denn Erfolg und Niederlage liegen oft eng beieinander, und dies vor allem dann, wenn die Umstaende besonders guenstig scheinen. Die Zahl der Klein- und Kleinstunternehmen, die in dieser Branche auftauchen und dann nach kurzer Zeit wieder in der Versenkung verschwinden, ist gross.

EU: Foerdergelder und Schmiergeldvorwuerfe

Die oeffentliche Hand ist aufgefordert, die verschiedenen Initiativen zu unterstuetzen. Die EU scheint dies erkannt zu haben und erhoehte ihre Foerderungsgelder - insbesondere auch im Virtual- Reality-Bereich - in einem beachtlichen Masse.

Andererseits ist der administrative und buerokratische Aufwand enorm, und es werden vermehrt Klagen darueber laut, dass die EU- Administration in diesem Bereich zu gross und unter dem Strich zu ineffizient sei. Schmiergeldvorwuerfe in bezug auf die

Generaldirektion 23 (DG 23) verbessern die Situation nicht unbedingt.

Europa, im harten Wettbewerb mit den USA und Japan, wird einige Kraftakte unternehmen muessen, will es weiterhin konkurrenzfaehig bleiben. Die USA haben sich zum globalen Softwarelieferanten etabliert, die Japaner beliefern die ganze Welt mit zuverlaessigen und schlauen Geraeten. Europa hat Probleme in seiner Positionierung: einerseits weniger kreativ als die USA, andererseits weniger fleissig als die Japaner.

Dies mag zwar pauschalierend klingen - doch trifft es zweifellos den Kern. "Small is beautiful" gehoert inzwischen zu den wichtigsten Trends im unternehmerischen Bereich. Die Attribute sogenannter virtueller Firmen - geringe Groesse, Flexibilitaet, Bestand eventuell nur ueber eine bestimmte Zeit und keine wirkliche physikalische Adresse - gewinnen an Bedeutung und werden eine neue Unternehmenskultur praegen. Eine virtuelle Firma hat an sich nichts mit der Technologie Virtual Reality zu tun. Eine Virtual-Reality- Firma koennte allerdings wie ein virtuelles Unternehmen gefuehrt werden.

Moeglichkeiten ergeben sich hierfuer einige. So scheint sich VRML (Virtual Reality Markup Language) als Standard-Schnittstelle im Internet beziehungsweise World Wide Web fuer Virtual-Reality- Applikationen durchzusetzen.

Bedenkt man weiter die zu erwartende Leistungssteigerung im Bereich der 3D-Grafik auf seiten des World-Wide-Web-Nutzers, dann kann man vielleicht fuer 1997 damit rechnen9), dass der Power-User unter den PC- oder Mac-Anwendern ueber Reality-Engine-Leistung10) verfuegt.

Das bedeutet, dass auch komplexere und leistungsfaehige Systeme ueber die Internet-Vernetzung funktionieren werden. Es ist naheliegend und es gibt schon Indikatoren dafuer, dass sich eine Gruppe von Firmen auf dieses Segment (Virtual Reality im Internet) spezialisieren wird.

Da das Internet eine globale, dezentralisierte Struktur ist, eignet es sich ideal als Betaetigungsfeld fuer virtuelle Firmen. Genaugenommen waere es Luxus, wuerde eine Firma mit konventionellen Methoden im Internet arbeiten.

*Christian Bauer, Innsbruck, ist Experte fuer Virtual Reality und Autor des Buchs "Nutzenorientierter Einsatz von Virtual Reality im Unternehmen" das demnaechst in der CW-Edition des Computerwoche- Verlags erscheinen wird. Der Subskriptionspreis betraegt 98 Mark, der normale Preis 148 Mark.