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"Vielleicht kommen die Standards ja von SAP"

24.06.2004
Die Ankündigung der "Enterprise Services Architecture" und der "Netweaver"-Produkte wirft für SAP-Anwender viele Fragen auf - insbesondere hinsichtlich der Migration. Im Gespräch mit CW-Redakteurin Karin Quack bringt SAP-Vorstandsmitglied Peter Zencke ein wenig Licht ins Dunkel.

CW: Um sich Ärger beim Release-Wechsel zu

SAP-Vorstandsmitglied Peter Zencke (Foto: SAP)

ersparen, versucht ein großer Teil Ihrer Kunden seit Jahren, möglichst nah an dem zu bleiben, was sie den SAP-Standard nennen. Angesichts Ihrer jüngsten Ankündigungen fragen sich heute viele, was dieser Begriff noch bedeutet.

ZENCKE: Er wird künftig seine Bedeutung ändern. Am Standard bleiben hieß bislang, möglichst keine Modifikationen vorzunehmen, die die Kosten für den Wechsel auf das nächste Release in die Höhe treiben. Auf der anderen Seite wollte oder benötigte der Kunde für sein Geschäft genau diese Modifikationen, die über den Standard hinausgingen. Er brauchte Flexibilität. Der Clou unserer Enterprise Services Architecture, ESA, besteht nun darin, den Widerspruch zwischen Flexibilität und Standard abzumildern.

CW: Und wie tut sie das?

ZENCKE: Indem sie die Nutzung von Services unterstützt, die auf bewährten und auf neuen Anwendungskomponenten aufsetzen können. Damit lassen sich Geschäftsprozesse einfacher konfigurieren und je nach Kundenanforderungen verändern oder erweitern. Koordiniert werden die Services durch die Technologieplattform SAP Netweaver.

CW: Trotz Ihrer Marketing-Aktivitäten herrscht derzeit einige Unklarheit darüber, was eigentlich bei der SAP-Software der aktuellste Stand ist. Bitte klären Sie uns auf.

ZENCKE: Das lässt sich relativ einfach beantworten: Bis 1995 gab es ein Produkt, das R/3 hieß. Wir haben versucht, möglichst viel darin zu integrieren und eine flexible Gestaltung der Prozesse zu ermöglichen. Aber irgendwann erreichten wir die Grenzen. Daraufhin trafen wir die Entscheidung, neue Produkte zu entwickeln, die außerhalb von R/3 einsatzfähig sind und ihre eigenen Release-Zyklen haben: Mysap SCM, Mysap CRM oder auch Mysap Business Intelligence. Diese neuen Lösungen werfen heute schon mehr Umsatz ab als der ursprüngliche R/3-Kern.

CW: An dieser Stelle trat die erste Begriffsverwirrung auf: Diese einzelnen Lösungen hatten zunächst eigene Namen, beispielsweise Advanced Planning and Optimization (APO). Später hießen sie dann Mysap SCM oder Mysap CRM.

ZENCKE: Die neuen Namen bezeichnen die Einzellösungen. Sie dokumentieren, dass der Kunde zwei Möglichkeiten hat: Er kann die komplette Mysap Business Suite oder eben nur einzelne Mysap-Lösungen kaufen.

CW: Das hört sich jetzt so an, als wären APO und Mysap SCM dasselbe Produkt - nur unterschiedlich verkauft.

ZENCKE: Nein, das stimmt nicht: APO ist nur eine Komponente von Mysap SCM - neben dem SAP Event Manager, dem SAP Logistics Execution System und anderen Komponenten, die zur Lösung Mysap SCM gehören.

CW: Doch zurück zur historischen Entwicklung Ihrer Produkte!

ZENCKE: Daneben liefern wir seit dem vergangenen Jahr auch den Nachfolger von R/3 an unsere Kunden aus: Mysap ERP basiert bereits auf SAP Netweaver und ermöglicht deshalb die schrittweise Einführung der ERP-Anwendungen und die sukzessive Anpassung bestehender Anwendungen an eine Service-orientierte Architektur. Und bezüglich Ihres Einwands über die Unklarheit kann ich Ihnen versichern: Wir haben eine klare Release-Strategie für die Mysap-ERP-Editionen.

CW: Nach wie vor unklar ist auf jeden Fall, was sich eigentlich hinter dem Codenamen Vienna verbarg oder verbirgt.

ZENCKE: Im vergangenen Jahr haben wir zwei Dinge getan: Zum einen haben wir in einem Pilotprojekt untersucht, wie sich die Teile unserer Suite wieder fester verbinden lassen - auf eine andere, flexiblere Art und Weise und mit deutlich reduzierten Gesamtkosten, sprich: TCO. Dieses Projekt hieß Vienna und war ein Vorläufer dessen, was wir heute Enterprise Services Architecture nennen.

CW: Und der zweite Punkt?

ZENCKE: Wir haben unsere Entwicklung reorganisiert. Bis dahin baute sich deren Organisation um die Lösungen herum auf, wobei die einzelnen Bereiche - beispielsweise CRM und SCM - relativ eigenständig geführt wurden. Daneben gab es die Industrieorganisationen mit 23 unterschiedlichen Lösungen. Und nun haben wir die Entwicklung völlig neu geschnitten. Wir haben die Industrielösungen in drei Business Solution Groups, auch BSGs genannt, zusammengefasst - in Services, Manufacturing sowie Financial- und Public-Services. Die Mysap-Lösungen haben wir jeweils der nahe liegendsten BSG zugeordnet, also CRM den Services, SCM dem Manufacturing-Bereich, ERP den Financial- und Public-Services.

CW: Wozu war das gut?

ZENCKE: So haben wir die Prozesse mit den Industrien verbunden, in denen sie die größte Rolle spielen. Durch diese Aufteilung sind wir in der Lage, schneller Entscheidungen durchzusetzen, die alle Lösungen betreffen. Und darunter haben

wir etwas Neues eingezogen: Wir nennen es Applikationsplattform-Entwicklung. Dort hinein gehört alles, was trotz unterschiedlicher Lösungen betriebswirtschaftlich gleich ist. Diese Infrastruktur bildet die Grundlage dafür, dass sich die Lösungen für die Bedürfnisse verschiedener Industrien kombinieren lassen.

CW: Die Kunden sind froh, wenn sie mal ein paar Jahre mit derselben Lösung arbeiten können. Wer hat denn eigentlich nach einer neuerlichen Architekturveränderung gerufen?

ZENCKE: Die Integrationsbedürfnisse der Anwenderunternehmen steigen kontinuierlich. Zum Beispiel erfordert das Geschäft heute eine bedarfsgetriebene Wertschöpfungskette, die eine Verbindung zwischen den Anwendungen für das Customer-Relationship-Management und denen für das Supply-Chain-Management notwendig macht. Um diese Ansprüche zu erfüllen, müssen die Systeme wesentlich tiefer miteinander verbunden werden. Zudem darf die Architektur in technischer Hinsicht keinen Unterschied zwischen der unternehmensinternen und der unternehmensübergreifenden Integration machen.

CW: Als das Vienna-Projekt Anfang des Jahres in die Schlagzeilen geriet, war SAP nicht begeistert. Warum eigentlich? Was wurde aus Ihrer Sicht falsch dargestellt?

ZENCKE: Nicht richtig war, dass dies das neue System der SAP wäre, das Mysap ablösen würde.

CW: Womit wir wieder beim Thema wären: Welches ist denn das System, das Mysap ablösen wird?

ZENCKE: Die Frage ist an sich falsch gestellt: Das jüngste Lösungsangebot der SAP ist die Mysap Business Suite, die auf Netweaver basiert und aufgrund des Service-Enabling der einzelnen Komponenten eine flexiblere Konfiguration ermöglicht - ohne unsere Kunden und Partner dem eingangs beschriebenen Widerspruch zwischen Flexibilität und Standard auszusetzen.

CW: Ihre Partner sollen sich nun auf die Entwicklung zusätzlicher Funktionen beziehungsweise Services stürzen. Das müssen sie nicht zwingend mit SAP-Produkten tun. Es müsste aber in Ihrem Interesse sein, Wildwuchs zu vermeiden.

ZENCKE: Wir können niemanden daran hindern, Werkzeuge seiner Wahl zu nutzen und damit Funktionen und Services für unsere Architektur zu entwickeln. Andererseits gibt es bereits Partner, die dazu SAP Netweaver und die damit einhergehenden Style Guides verwenden. So ist eine gewisse Konformität gesichert. Außerdem können diese Partner ihr Know-how bei uns zertifizieren lassen. Auf der dritten Stufe stehen dann die Unternehmen, mit denen wir ein Abkommen getroffen haben, wonach ihre Entwicklungen künftig zum offiziellen Lösungsangebot der SAP gehören. Hier müssen wir schon sehr genau darauf schauen, dass die Software so entwickelt wird, als ob wir sie selbst gemacht hätten.

CW: Ihre Kunden haben viel Geld in ihre SAP-Installation gesteckt. Wie helfen Sie ihnen bei der Migration in die ESA-Welt?

ZENCKE: Wir wollen die Investitionen unserer Kunden schützen. Also sind wir verpflichtet, den Architekturwechsel so vorzunehmen, dass er nicht wie eine Migration, sondern wie ein normaler Release-Wechsel abläuft. Wir werden in mehreren Schritten vorgehen: Im Rahmen unserer bekannten Release-Politik erhält der Kunde nicht nur betriebswirtschaftliche Weiterentwicklungen, sondern auch die technischen Neuerungen der Integrationsplattform Netweaver. Das unterscheidet Mysap vom bestehenden R/3.

CW: Es ist schön, dass Sie sich verpflichtet fühlen, die Investitionen Ihrer Kunden zu schützen. Dabei hätten Sie das gar nicht nötig!

ZENCKE: Die SAP hat nur einmal in ihrer Geschichte einen wirklichen Bruch vollzogen - beim Wechsel vom Mainframe auf Client-Server-Systeme. Aber diese Disruption hatten nicht wir zu verantworten: Damals gab es plötzlich diese neue Welt der offenen Netzwerksysteme, auf der unsere Software ebenfalls zum Spielen kommen musste. Damals hatten wir aber auch nur 2000 Kunden, heute sind es über 22 000. Deshalb ist es eine Grundsatzaussage der SAP, wenn wir sagen: Wir müssen unseren Kunden einen Innovationsweg aufzeigen, der ihre Investitionen schützt. Davon abgesehen, würde es auch für uns keinen Sinn ergeben, alles neu zu entwickeln. Die R/3-Basis wurde von 50 Entwicklern geschaffen, an Netweaver arbeiten etwa 2000. Wenn wir ganz von vorn anfangen müssten, würde das mindestens sieben Jahre dauern.

CW: Ihre Roadmap reicht zwar nur über vier Jahre. Aber auch das ist eine ziemlich lange Zeit. Welche Teile der neuen Architektur sind denn überhaupt schon fertig?

ZENCKE: Die Mysap-ERP-Edition 2004 enthält bereits ein Service-Enabling - im Wesentlichen für B-to-B-Szenarien. Das umfassende Services-Inventory folgt im kommenden Jahr. 2006 wollen wir wesentliche Teile der Funktionen tatsächlich als Services implementiert haben. Und die Abrundung des Ganzen kommt schließlich 2007. Im Übrigen sind wir der erste Anbieter, der ein so klares Zeitmodell präsentiert hat. Der Kunde kann damit klar erkennen, bis wann wir was fertig haben.

CW: Was machen Sie eigentlich mit den Kunden, die Ihre Politik der jährlichen Releases nicht nachvollziehen wollen?

ZENCKE: Die Haltung, auch einmal abwarten zu wollen, ist aus meiner Sicht durchaus zulässig. Mit unserer eindeutigen Wartungs- und Release-Strategie kann der Kunde den für ihn besten Zeitpunkt selbst bestimmen.

CW: Wie verbindlich ist die erwähnte Roadmap denn aus heutiger Sicht?

ZENCKE: Wenn wir uns auf unserer größten Kundenveranstaltung hinstellen und eine Roadmap ankündigen, dann werden wir uns auch daran messen lassen.

CW: Aber sie visieren ein bewegliches Ziel an. In der schnelllebigen IT-Welt kann bis 2007 viel passieren.

ZENCKE: Wir sind unseren Mitbewerbern ein gutes Stück voraus.

CW: Ihre Mitbeweber IBM und Microsoft haben ähnliche Architekturen definiert und entsprechende Produkte im Angebot. Wenn Ihre Kunden mit den neuen Releases gleich die Netweaver-Produkte ins Haus bekommen, müssen sie unter Umständen zwei konkurrierende Toolsets verwalten.

ZENCKE: Das mag sein. Aber wir entwickeln die Infrastruktur für unsere Anwendungen - nicht umgekehrt.

CW: Das macht für den betroffenen Kunden keinen Unterschied.

ZENCKE: Die Frage ist doch: Auf welcher Technologieplattform schaffen unsere Anwendungen den höchsten Nutzen? Und die Antwort darauf lautet aus unserer Sicht: SAP Netweaver.

CW: Aber warum sollten Ihre Anwendungen mit Webshpere nicht auch gut laufen?

ZENCKE: Wir können unsere Produkte doch nicht für die Infrastrukturplattform eines anderen Anbieters entwickeln. Die Kunden brauchen die Sicherheit, dass die darunter liegenden Schichten reibungslos funktionieren.

CW: Sie könnten sicherstellen, dass sie das auch auf anderen Plattformen tun.

ZENCKE: Nein, wir können keineswegs garantieren, dass alle Teile dort - schnapp! - so einfach funktionieren. Beispielsweise deshalb, weil die dazu notwendigen Standards einfach noch nicht existieren. Wie ein Portal mit den Anwendungen zusammenarbeiten soll, ist noch nicht verbindlich geregelt. Netweaver gehört zur Infrastruktur der SAP, und die SAP-Anwendungen laufen auf Netweaver. Das ist für uns Fakt. Für einen führenden Automobilbauer ist es doch auch undenkbar, seine Modelle auf der Plattform eines anderen Herstellers aufzubauen.

CW: Wo bleiben denn da Ihre Offenheit und die jüngst angekündigten Partnerschaften mit IBM beziehungsweise Microsoft?

ZENCKE: Das ist kein Widerspruch. Andere Technologieplattformen wie Websphere oder .NET können über offene Standards mit Netweaver kommunizieren und Zugang zu den Anwendungsservices der SAP-Lösungen erhalten. In diesem Rahmen ermöglichen wir Interoperabilität.

CW: In den drei Jahren bis 2007 werden sich mit Sicherheit viele der Standards herausbilden, die Sie heute vermissen.

ZENCKE: Und vielleicht kommen sie ja von SAP.