"Viele Unternehmen hoffen auf den Deus ex machina" Ueberzogene Erwartungen in Business Re-Engineering

17.03.1995

Nicht selten riskieren Unternehmen in Business-Re-Engineering- Projekten ihre Existenz. Unfreiwillig, denn in den meisten Faellen wird ein radikales Redesign als letzter Ausweg aus einer tiefgreifenden Krise empfunden. Der Wirtschaftsinformatiker Professor Dr. Hubert Oesterle von der Hochschule St. Gallen (siehe Seite 12) beklagt, dass sich zu viele Unternehmen unvorbereitet in diese entscheidenden Projekte stuerzen - von "methodischem Vorgehen" koenne in den meisten Faellen nicht die Rede sein. Den grossen Worten selbsternannter Propheten wie Michael Hammer werde fatalerweise vorbehaltslos vertraut, wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Betriebswirtschaftslehre blieben auf der Strecke. CW-Redakteur Heinrich Vaske unterhielt sich mit dem schweizerischen Methoden-Guru.

CW: Stimmt es, dass viele Business-Re-Engineering-Projekte scheitern?

Oesterle: Leider ja. Wir arbeiten in unserem Forschungsprogramm "Information-Management" auch auf dem Gebiet des Re-Engineerings mit zahlreichen Grossunternehmen zusammen. Bei einer Bestandsaufnahme haben wir festgestellt: Sehr viele Projekte, die den Titel Business Re-Engineering tragen, werden vorzeitig abgebrochen.

CW: Woran liegt das?

Oesterle: Zunaechst einmal sind die Erwartungen komplett falsch. Unternehmen hoffen auf den Deus ex machina, sie erwarten Wunderdinge, die es nicht geben kann. Wird im Laufe des Projektes erkannt, dass die Ziele unrealistisch sind, tritt allgemeine Verwirrung und Verunsicherung ein - es folgt der Projektabbruch.

CW: Wie kommt es zu den uebertriebenen Erwartungen?

Oesterle: Es gibt zu viele Propheten, die durch die Lande ziehen und von einer 60- oder 100prozentigen Verbesserung der Geschaeftstaetigkeit phantasieren. Natuerlich kann man das in manchen Faellen erreichen, aber mit dieser Zielsetzung an ein Projekt heranzugehen ist naiv.

CW: Zu den Wanderpredigern gehoert wohl auch Michael Hammer, in dessen Vokabular das Woertchen "radikal" eine wichtige Rolle spielt. Hammer geht grundsaetzlich von Quantenspruengen aus, die zu erzielen seien...

Oesterle: ...auch Projekte von Hammer sind schiefgelaufen und schliesslich abgebrochen worden. Positiv an ihm ist, dass er die Leute aktivieren und mobilisieren kann. Er weckt Beduerfnisse und schafft ein neues Bewusstsein - sein Auftreten birgt aber auch eine grosse Gefahr.

CW: Welche?

Oesterle: Er baut voellig irreale Erwartungshaltungen auf, die dazu fuehren, dass Projekte schlecht organisiert werden. Unternehmen gehen ohne Methodik vor, Dinge werden uebers Knie gebrochen, anstatt systematisch entwickelt und durchgefuehrt zu werden. Hammer erweckt den Eindruck, als gaebe es keine Betriebswirtschafts- oder Management-Lehre. Fuer ihn existiert nur das radikale Redesign. Wichtige Erkenntnisse der strategischen Planung und Fuehrung werden ausser acht gelassen.

CW: Den Bestseller "Reengineering the Corporation" hat Hammer zusammen mit James Champy verfasst, der als Chairman des Beratungskonzerns CSC Index Praktiker ist und wissen muesste, wovon er spricht...

Oesterle: Sowohl Hammer als auch Champy argumentieren in persoenlichen Gespraechen weitaus differenzierter als in ihrem Buch. Um so eine Publikation zu verkaufen, ist es ja auch notwendig, zu vereinfachen. Leider simplifizieren die beiden die Dinge um der Publikumswirksamkeit willen zu stark.

CW: Liegt die hohe Misserfolgsquote von Re-Engineering-Projekten auch daran, dass den betroffenen Unternehmen oft das Wasser bis zum Hals steht?

Oesterle: Ohne wirtschaftliche Not sind nur wenige Firmen in der Lage, sich zu reorganisieren. Die wirklich grossen Veraenderungen, die ich selbst in Projekten erlebt habe, waren fast ausschliesslich dort moeglich, wo ein massiver Leidensdruck gegeben war. Es ist ja auch kein Geheimnis, dass die Re-Engineering-Welle zuerst die USA zu einem Zeitpunkt ueberrollte, als dort Rezession herrschte.

CW: Worum geht es im Kern beim Business Re-Engineering? Um die unternehmensweite Reorganisation in Prozessen?

Oesterle: Ich wuerde eher sagen, es geht schlicht um Integration - innerbetrieblich und zunehmend zwischenbetrieblich. Hinzu kommt das Interesse an einer effizienten Nutzung neuer Informationstechniken.

CW: Sie meiden in Ihren Buechern das Praefix "Re" und sprechen nur vom Business Engineering.

Oesterle: Unser Ansatz hat zu einer eigenen Methode gefuehrt. Diese basiert auf einem Prozessmodell, das von der Unternehmensstrategie bis zum Informationssystem reicht. Man analysiert das Sektornetzwerk, die Leistungen an die Kunden und die Informationstechnik - es geht also um das Geschaeft als Ganzes. Die Ablaeufe resultieren dann daraus.

CW: Es reicht demnach nicht aus, eine funktionale durch eine prozessorientierte Organisation abzuloesen?

Oesterle: Das ist eine vereinfachende Aussage von manchen Redesign- Paepsten, die ich so nicht teile. Die Prozessorganisation ist sekundaer, die funktionale Organisation bleibt in vielen Teilen bestehen - vielleicht anders zusammengefasst, aber sie bleibt. Es gibt weiterhin Forschungs- und Entwicklungs-, Verkaufs- und DV/Org.-Abteilungen. Entscheidend ist, dass die geschaeftskritischen Dinge, etwa das Produkt-Management in einem Industrieunternehmen, zu saemtlichen Funktionen querliegende Prozesse sind.

Ausserdem gibt es als Ergebnis von Business Engineering Leute, die in Unternehmen dafuer verantwortlich sind, dass ein Auftrag von der Annahme bis zur Belieferung zuegig abgearbeitet wird. Hier etabliert sich eine funktionsuebergeordnete Prozessbetrachtung. Ein Prozess-Manager, beispielsweise ein bisheriger Produkt-Manager, holt Mitarbeiter aus Forschung und Entwicklung, Produktion, der Wartungsabteilung und dem Verkauf an einen Tisch und redet mit ihnen darueber, warum die Produktion ins Stocken geraet.

CW: Gibt es eine Prozesshierarchie, eine Unterteilung in ueber- und untergeordnete Prozesse?

Oesterle: Ich glaube nicht, dass Prozesse auf verschiedenen Ebenen existieren sollten. Es gibt einige gleichberechtigte Kernprozesse - die Menge bleibt ueberschaubar, da man ohnehin nicht viele gleichzeitig managen kann. Meine Prognose lautet: Die Funktionen werden bleiben, man wird einige wenige Prozesse haben, die quer zu ihnen verlaufen. Fuer diese sind die Kunden- beziehungsweise Produktverantwortlichen zustaendig.

CW: Wie wirken sich die crossfunktionalen Prozesse auf bestehende Hierarchien aus?

Oesterle: Sie beseitigen keine Hierarchien, aber sie machen den Marsch durch die Hierarchieebenen ueberfluessig. Wenn ein Mitarbeiter aus Forschung und Entwicklung vom Verkaufsleiter hoert, dass ein Produkt anders aussehen sollte, damit weniger Ruegen und Maengel anfallen, dann muss er nicht ueber seinen Chef gehen, sondern kann direkt auf den Verkaufsleiter reagieren und die Sache mit ihm besprechen. Leute, deren Aufgabe die Koordination der Kommunikation zwischen den Abteilungen ist, werden seltener benoetigt. Die Kontrollspanne vergroessert sich, womit eine wichtige Voraussetzung fuer den Abbau von Hierarchien gegeben ist.

CW: Die Informationstechnik gilt als wichtiges Instrument zur optimalen Abwicklung von Prozessen. Wie ist den Prozessverantwortlichen das noetige IT-Verstaendnis zu vermitteln?

Oesterle: Unsere Methode geht davon aus, dass die neuen Geschaeftsloesungen von der Informationstechnik ermoeglicht werden. Sie verbindet die Geschaeftsstrategie im Prozess mit dem Informa- tionssystem. Daher muessen zunaechst einmal die Leute, die von Verkauf, Forschung und Entwicklung, Marketing, Produktion, Banking etc. etwas verstehen, ganz schlicht ueber informationstechnische Loesungen informiert werden, die fuer ihre Bereiche relevant sind. Welches Potential die Informationstechnik fuer die Optimierung eines Prozesses bietet, darueber kann nur befinden, wer mit den Prozessen vertraut ist. Redesignen koennen nur Mitarbeiter, die das Geschaeft machen - nicht irgendwelche Stabsstellen.

CW: Wollen Sie aus Fachspezialisten IT-Experten machen?

Oesterle: Das laesst sich vermeiden, wenn eine Vorselektion potentieller Technologien durch Leute erfolgt, die etwas von Technik verstehen und von Wirtschaft immerhin so viel wissen, dass sie den Wert einer Technik fuer das Geschaeft abschaetzen koennen. Das sind die Wirtschaftsinformatiker und Business Engineers. Das Bewusstsein fuer IT-Potentiale ist zu schaffen, und dann muss man die Leute dazu bringen, systematisch ueber ihr Geschaeft und dessen Zukunft nachzudenken. Das laesst sich methodisch steuern - ein Plauderstuendchen reicht da nicht aus. Im Mittelpunkt dieser Phase muss die Frage stehen: Welche Rolle spielt mein Unternehmen in fuenf, zehn oder 15 Jahren in der Wirtschaft?

CW: Wer genau muss sich den Kopf zerbrechen?

Oesterle: Der Fachspezialist in Einkauf, Vertrieb, Produktion etc. Unterstuetzt durch Business Engineers und Techniker muss er sein Geschaeft ueberdenken. Ein Beispiel: Eine Bank hat darueber zu entscheiden, ob kuenftig der "Kredit" noch als Produkt nachgefragt wird oder ob Kredite nur noch zusammen mit einem Auto-, Wohnungs-, Moebel- oder Hauskauf anfallen. Ist der Kredit kein eigenstaendiges Produkt mehr, spielt die Bank in diesem Geschaeftsbereich eine neue Rolle: Sie hat moeglicherweise andere Kunden, etwa den Handel. Das Ueberdenken der Geschaeftsstrategie - wir sprechen von der Errichtung von Sektornetzwerken - ist nach der Analyse der IT- Potentiale die zweite Aufgabe des Business Engineerings.

CW: Wie wird die neue Geschaeftsstrategie umgesetzt?

Oesterle: Man muss die zu erbringenden Leistungen exakt definieren. Wenn eine Bank mit ihrem Privatkredit nicht mehr den Konsumenten, sondern den Haendler angeht, braucht sie andere Beratungsleistungen und Beziehungen als in der Vergangenheit. Sind die Leistungen definiert, ist nach den Ablaeufen zu fragen, die noetig sind, um diese zu erbringen. Es sind nicht mehr die gleichen. Wenn wir diese Schritte einhalten, kommen wir zu radikal neuen Loesungen.

CW: Wem obliegt die Implementierung?

Oesterle: Die Verantwortung fuer die Einfuehrung neuer Systeme muss bei den gleichen Teams liegen, die schon die neue Geschaeftsstrategie erarbeitet haben. Wer glaubt, es reiche aus, die entsprechenden Schritte festzulegen und dann das Ganze an jemanden zwecks Implementierung abzugeben, ist auf dem Holzweg.

CW: Wie sehen die Unternehmensfuehrungs-Strukturen in Ihrem Szenario aus? Wer bringt den Fuehrungskraeften bei, wie sie ihren Prozess unter Beruecksichtigung der IT gestalten koennen?

Oesterle: Man benoetigt ein Strategieteam, in dem neueste Verkaufs-, Fuehrungs-, Informationstechniken etc. durch Spezialisten repraesentiert sind. Es macht keinen Sinn, zusammen mit Beratern eine Strategie zu entwerfen und an einem bestimmten Punkt zu sagen: Jetzt uebergeben wir alles den Informatikern. Das ist der Punkt, an dem in der Praxis oft alles schieflaeuft. Diejenigen, die ueber Verkauf oder Forschung und Entwicklung nachdenken, muessen auch das IT-Potential neben anderen Potentialen sehen und daraus ihre Schluesse ziehen.

Auch die Unternehmensspitze muss wissen, was man mit Informationstechnik tun kann. Wir bewegen uns auf die Informationsgesellschaft zu, die Art und Weise, in der Unternehmen zusammenarbeiten, aendert sich komplett.

CW: Wird es die DV/Org.-Abteilung weiterhin geben?

Oesterle: Ganz klar: ja. Allerdings wird das die Abteilung sein, die am radikalsten redesigned werden muss. Die klassische Informatikabteilung ist tot. Es gibt eine neue Abteilung mit neuen Funktionen. Im Moment schlaegt zwar das IT-Pendel stark in Richtung Fachbereich aus, wir werden aber schon bald die Probleme einer zu starken Dezentralisierung erkennen. Dann werden gewisse Koordinationsfunktionen wieder zentral aufgehaengt. Eine Reihe von Unternehmen hat stark dezentralisiert und ist jetzt dabei, wichtige Funktionen wieder zusammenzulegen.

CW: Wie sieht das Redesign der Informatikabteilung aus?

Oesterle: In Zukunft wird die Verantwortung fuer Strategie, Prozess und Informationssysteme in den Fachbereichen liegen, im Anwendungsbereich. Die Verkaufsabteilung entscheidet ueber ihre Strategie, ihre Prozesse und ihre Informationssysteme. Das gilt fuer alle Branchen.

Die Aufgabe der Abteilung DV/ Org. sehe ich darin, das methodische Know-how zur Unternehmensgestaltung zu entwickeln und weiterzugeben. Neben dem Beratungsbereich wird die Informatik einen Entwicklungsbereich haben, der fuer die Auswahl und Einfuehrung von Standardsoftware, die Entwicklung von Schnittstellen und die Entwicklung von Spezialitaeten zustaendig ist. Ferner erhaelt sie einen Schulungs- und einen Betriebsbereich, der entscheidet: Wieviel bleibt im Unternehmen, wieviel wird outgesourct?

CW: Welche Verantwortung traegt die Fachabteilung?

Oesterle: Sie entwickelt mit den Beratern aus der Informatik ihre Prozesse. Das laeuft anders als bisher, als die Informatik ueber eine zentrale Stelle dimensioniert und finanziert wurde. Dabei wurde um Prioritaeten gebuhlt, um Projektbewilligungen angestanden und hinterher geschimpft, dass alles zu teuer sei. Die zentrale Planung war schaedlich.

Wenn ein Pharma-Unternehmen beschliesst, dass die Konsumenten bestimmte Produkte direkt bei ihm kaufen koennen, beispielsweise ueber Videotext, dann liegt die Entscheidung "Direktbelieferung von Haushalten" beim Verkaufsbereich, nicht bei der Informatik. Das notwendige Informationssystem muss die Abteilung in Zusammenarbeit mit der Informatik konzipieren.

CW: Es gibt inzwischen eine Reihe von Werkzeugen, mit denen sich angeblich Prozessorganisationen leichter verwirklichen lassen. Was halten Sie von derlei Tools?

Oesterle: Tools sind ein nuetzliches Instrument, sie koennen aber sehr gefaehrlich werden. Wenn jemand glaubt, dass er mit Tools das Denken ersetzen kann, irrt er gewaltig. Tools sind grundsaetzlich primaer Dokumentationshilfen. Wenn der Denkprozess abgeschlossen ist, kann man im Tool etwas darstellen. Ich warne davor, gleich zu Projektbeginn ein Tool einzusetzen.

Wir muessen differenzieren zwischen unternehmerischen Business Engineers und buerokratischen Formularausfuellern. Genauso wie ein Architekt oder ein Autobauer den ersten Entwurf normalerweise nicht an der Maschine macht, sondern auf Papier, auf der Tafel oder irgendwo, wo er von Technik moeglichst wenig abgelenkt wird, so sollte man auch bei der Prozessgestaltung vorgehen.

CW: Warum feiern die Anbieter solcher Tools denn so grosse Erfolge?

Oesterle: Ich beobachte heute in verschiedenen Unternehmen Leute, denen das Tool eine gesuchte Sicherheit zu geben scheint. Sie versuchen, ihre Unsicherheit bezueglich des Redesigns von Prozessen dadurch zu loesen, dass sie Tools einsetzen, und freuen sich, wenn sie die schoen gedruckten Dokumentationen betrachten. Leider werden die Erfolgserlebnisse oft nicht im Redesign von Geschaeftsprozessen gesucht.