Nicht der Chef, sondern der Markt diktiert die Bedingungen

Verzicht auf Zeiterfassung:Arbeiten ohne Ende?

11.08.2000
(Arbeits-)Zeit ist kostbar. Immer mehr Unternehmen entscheiden: "Weg mit Stechuhr und Anwesenheitskontrolle! Jetzt gilt die Vertrauensarbeitszeit!" Was für Befürworter das passende Modell zur rechten Zeit ist, geißeln Kritiker als Instrument zur Selbstausbeutung. Von Helga Ballauf*

Was haben die Beschäftigten vom Ende des Zwangs, ihre Arbeitskraft zu festgesetzten Zeiten zur Verfügung stellen zu müssen? Das ist die Kernfrage der Auseinandersetzung. Bringt das Modell mehr Selbständigkeit oder größere Leistungsverdichtung? Wird der Verzicht auf Anwesenheitskontrolle durch ständige Erreichbarkeit via Technik erkauft?

Die Informationstechnologie forciert die Entkopplung von Arbeitszeit und -ort, verkürzt Kommunikationswege und ermöglicht neue Formen der Arbeitsorganisation. Zunächst in der Computerbranche selbst - von Bull über IBM bis Siemens - und danach in anderen Wirtschaftszweigen - von Daimler-Chrysler bis VW. Jedes Unternehmen gestaltet den Übergang anders: Mal werden gesetzliche und tarifliche Arbeitszeitvorschriften unterlaufen, mal neue Regeln, wie der Verzicht auf die Stechuhr, ausgehandelt.

Wie viel Zeit beispielsweise die Softwareverkäuferin, der Serviceberater oder der Firmenbetreuer investieren, um eine festgesetzte Zahl neuer Kundenverträge an Land zu ziehen, ist dem Vorgesetzten egal. Ob die Projektgruppe am Abend oder am Wochenende arbeitet, um die Ausschreibung zu gewinnen, interessiert den Arbeitgeber nicht. Wenn der Kunde sein Computernetzwerk tagsüber nicht warten lassen will, kommen die Techniker eben frühmorgens oder nachts. Nicht der Chef, sondern der Kunde und der Markt geben die Arbeitsbedingungen vor - und strafen diejenigen ab, die sie nicht erfüllen.

Viele Beschäftigte erleben diese indirekte Steuerung als Befreiung: Nicht Anwesenheit, sondern Leistung wird honoriert. Es macht Spaß, selbst zu planen und neue Ideen auszuprobieren, ohne den Dienstweg beachten zu müssen. Die Arbeitnehmer treffen nicht nur fachliche, sondern häufig auch unternehmerische Entscheidungen.

"Fast alle bei uns klagten über zunehmende Leistungsverdichtung. Es wurde immer schwieriger, Termine einzuhalten. Meinen Vorgesetzten habe ich konstruktive Vorschläge gemacht, was ich in Zukunft zwecks Effizienzsteigerung nicht mehr tun möchte. Es gab keinen Widerstand."

So schildert die Projektleiterin eines IT-Unternehmens in einer anonymisierten E-Mail-Aktion ihre Erfahrungen. Sie fährt fort: "Aber die errechnete Entlastung blieb dennoch aus. Im Nachhinein muss ich erkennen: Ich habe mir meine Freiräume, Erholzeiten und Denkpausen gestrichen und arbeite immer besinnungsloser."

Das ist der Punkt, an dem sich für Wilfried Glißmann die Janusköpfigkeit der "Vertrauensarbeitzeit" zeigt. Der Betriebsratsvorsitzende bei IBM Deutschland in Düsseldorf kritisiert, dass der Wille der Beschäftigten zu hoher Selbständigkeit und ihre Gefühle instrumentalisiert werden. "Nie kann ich sagen: ,Jetzt habe ich genug gearbeitet.'' Der Gegensatz von Kapital und Arbeit findet im eigenen Kopf statt", urteilt er. Glißmann hat bereits 1997 die ersten E-Mail-Debatten der Konzernbelegschaft über das "Arbeiten ohne Ende" betreut. Seitdem schreiben sich IT-Fachkräfte verschiedener Firmen in geschlossenen Newsgroups den Frust von der Seele. Dokumente des Ausgebranntseins: "Aus dem Dauerstress entwickelt sich eine Arbeitsqualität von ,quick and dirty'', und daraus resultiert Angst." Oder: "Was mir ernsthaft Sorgen macht ist, dass eine meiner Grundqualifikationen flöten geht: Ich verliere meine Kraft, meine Ausstrahlung, meine Überzeugungsfähigkeit." Oder: "Von oben kommt die Reaktion: Wenn ihr euren Job behalten wollt, müsst ihr das Ziel schaffen, sonst wird er verlagert. Untersucht die Schwachstellen im Team und stellt sie ab. Macht was ihr wollt, aber schafft die Zielvorgaben."

Solche Stoßseufzer der Beschäftigten zeigen für den Arbeitszeitberater Michael Weidinger: Hier liegt eine "folgenschwere Verwechslung" zwischen Vertrauensarbeitzeit und endlosem Schuften vor. Der Sozius des Berliner Beratungsunternehmens Dr. Hoff - Weidinger - Hermann glaubt jedoch, dass sich die Ziele "Selbststeuerung und Ergebnisorientierung" ins Gleichgewicht bringen lassen. Sein Modell der Vertrauensarbeitszeit sieht so aus: In der Zielvereinbarung zwischen Mitarbeiter und Arbeitgeber wird festgelegt, welches Arbeitszeitvolumen zur Erledigung einer bestimmten Aufgabe nötig ist. Kleinere Abweichungen gleicht der Beschäftigte eigenverantwortlich aus. Treten dagegen größere "Überlastsituationen" auf, etwa weil der Kunde plötzlich seine Wünsche ändert, müsse der Vorgesetzte steuernd eingreifen.

In vielen Fällen sei gar nicht mehr Personal nötig, sagt Weidinger: "Ein Teil der zeitlichen Engpässe in Firmen kommt oft daher, dass in Spitzenzeiten viel gearbeitet wird, ohne dies während der Auftragstäler auszugleichen." Weidinger und seine Kollegen verlangen von Führungskräften dreierlei: Wenn Arbeitsumfang und vereinbartes Zeitbudget wider Erwarten auseinander klaffen, muss ein Ausgleich her. Zweitens: Die Manager sollen darauf drängen, dass die Beschäftigten nach Auftragsspitzen eine Auszeit nehmen und auftanken. Drittens: Der Mitarbeiter muss darauf vertrauen können, "dass der berufliche Aufstieg nicht von der ständigen Anwesenheit im Büro abhängt", so Weidinger. Umgekehrt braucht der Einzelne nach dieser Konzeption kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er mal tagsüber das Skirennen im Fernsehen ansieht, statt am Projekt zu tüfteln. Es zählt ja nur das faktische Arbeitsergebnis und nicht die schlichte Präsenz am Arbeitsplatz. Die Crux an dem Modell: Alles, was Leistung erst ermöglicht - schöpferische Freiräume, Denkpausen und spontane Tür-und-Angel-Gespräche - gelten als Freizeit, als unbezahltes Privatvergnügen des Mitarbeiters.

Unter Weidingers Kunden sind viele Mittelständler, jedoch erst wenige aus der IT-Branche. Das hängt damit zusammen, dass das Berliner Beratertrio konsequent auf die Beteiligung von Betriebsräten setzt. Doch wo gibt es in der New Economy schon eine gewählte Interessenvertretung der Belegschaft? Andererseits ist klar: Das Thema "Arbeitszeit" enthält inzwischen mehr Zündstoff als die Frage nach dem Gehalt. Hänge ich mich zu viel oder zu wenig rein im Vergleich zu den Kollegen? Was ist der neue Maßstab?

Ein IT-Beschäftigter kam in einer der E-Mail-Nachdenkrunden zu dem Schluss: "Die Menschen sind unterschiedlich in ihrer Belastbarkeit, ihren Ansprüchen, ihrem Angstverhalten und den Aktivitäten, sich gegen Druck zur Wehr zu setzen. Diese Unterschiede gilt es zu akzeptieren!" Das setzt Unterstützung für die Beschäftigten und einen verlässlichen Rahmen voraus, der einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen ermöglicht und Mobbing verhindert.

Die geplante Reform des Betriebsverfassungsgesetzes der rot-grünen Regierung geht in diese Richtung: Sie stärkt die individuellen Rechte der Arbeitnehmer und erweitert das Mitspracherecht des Betriebsrats bei der Planung von Arbeitsabläufen und Personal. Bei IBM unterstützen derweil die Betriebsräte die Beschäftigten, wenn es darum geht, individuelle Zielvorgaben auszuhandeln. Etwa mit folgenden Tipps: "Schlagen Sie Ihrer Führungskraft Ziele vor, an denen Sie selbst interessiert sind." Oder: "Führen Sie die Rahmenbedingungen auf, die für die Zielerfüllung notwendig sind (Equipment, Tools, Prozesse)." Oder: "Vereinbaren Sie die neuen Arbeitsziele erst dann, wenn Sie Ihre Leistungsbeurteilungsnote für das Vorjahr kennen."

*Helga Ballauf ist freie Journalistin in München.

Infos zur Arbeitszeit-IG Metall und IG Medien haben eigene Internet-Seiten zum Thema: www.igmetall.de/arbeiten_ohne_ende/ www.igmedien.de/projekte/auszeit/start.html.

-Das Konzept "Vertrauensarbeitszeit" von Dr. Hoff - Weidinger - Hermann samt einer Online-Datenbank mit Praxisbeispielen ist nachzulesen unter: www.arbeitszeitberatung.de.

- Bei der IG Metall in Frankfurt am Main (Telefon 069/6693-2800) sind zwei Sonderhefte der Reihe "Denkanstöße" zu beziehen:

1) Glißmann/Peters/Siemens. Meine Zeit ist mein Leben. Neue betriebspolitische Erfahrungen zur Arbeitszeit. Frankfurt. Februar 1999.

2) Glißmann/Schmidt. Mit Haut und Haaren. Der Zugriff auf das ganze Individuum. Frankfurt. Mai 2000.