Verzahnung von Know-how und Marktzugängen notwendig

29.04.1983

, Freier Unternehmensberater, Frankfurt

Im wesentlichen sind es zwei Kräfte, die eine Metamorphose unserer Branche im Verlauf der 80er Jahre beschleunigen werden. Erstens die Ablösung analoger Kommunikationstechnik durch Digitaltechnik, und zweitens der Trend von zentraler Informationsverarbeitung. Letzteres meine ich nicht nur betrieblich organisatorisch, sondern ich meine vor allem die Verlagerung von Informationstechnik in klassische Industrieprodukte. Das heißt, "enbedded technology" in das Fahrzeug, in die Maschine, in das Konsumprodukt.

Das auslösende Moment für diesen Trend liegt zunehmend geringer in neuen Schlüsseltechnologien als in der intelligenten, markterschließenden Anwendung vorhandener Basistechnologien. Das Nichtalltägliche in der gegenwärtigen Wendepunktsituation unserer Branche ist jedoch, daß wie nie zuvor neue Hersteller an dem Wachstumsmarkt der Informationsverarbeitung partizipieren können. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt im Bedeutungswandel der Grundlagentechnologien.

Der Forschungs- und Entwicklungsaufwand verlagert sich in der Digitaltechnik immer stärker vom Hersteller auf den Anwender. Dies hat in den letzten Jahren zu einer Wachstumsbremse des Absatzes unserer Branche gegenüber dem wirklich bestehenden Marktbedarf geführt; unsere Ingenieure haben schneller Grundlagenentwicklung betrieben, als der Anwender unsere Produkte erlernen konnte.

Ich meine, wir können uns heute ein Ändern dieser Prioritäten leisten, ohne Wesentliches an Grundlagenarbeit in unseren Labors zu versäumen

Die Auswirkung dieser technologischen Entwicklung ist deshalb in unserer Branche so erheblich, weil heute jemand neuartige Systeme bauen kann, und damit einen Markt "machen" kann, ohne selbst die Komponenten zu bauen. Daraus resultiert, daß sich heute Systemanbieter mit geringerem Kapitalbedarf am Markt etablieren können. Dies führt im Umkehrschluß dazu, daß es wohl im wesentlichen bei dem etwa einen Dutzend Herstellern von VLSI-Technologie am Weltmarkt bleiben wird.

Der Grund für diese Konzentration liegt in der notwendigen Schwelleninvestition die heute für eine "Wafer"-Fabrik bei zirka 100 Millionen Dollar liegt. Industriepolitisch muß man natürlich als Europäer über diese Entwicklung betroffen sein, zumal heute 93 Prozent der in der Welt verbrauchten mikroelektronischen Bausteine aus amerikanischen und japanischen Fabriken stammen.

Bis 1985 wird Europa nur 30 Prozent seines Bedarfes an ICs selbst herstellen, während die USA 180 Prozent und Japan 100 Prozent ihres Eigenbedarfs produzieren werden.

Dies bietet jedoch keine Begründung dafür, daß Hersteller von Informations- und nachrichtentechnischen Produkten nicht auch in Europa profitabel sein können.

Auf der Grundlage der Mikroelektronik werden wir deshalb "start ups" in zwei Richtungen zunehmend erleben, denen man eine Chance ausrechnen darf:

einmal innovative Hersteller, die das Entwickeln von neuen Systemarchitekturen verstehen, das heißt, die über die Beherrschung der "Syntax der Hardware" mit Standardmikroprozessoren neue Anwendungsmärkte aufbauen;

zum anderen Hersteller, die mit kleinerer. speziellen IC-Serien sogar in den Bereich der VLSI-Technologie eindringen.

Beide Richtungen haben gemeinsam, daß der Anwendungsnutzen von Systemen maximiert werden kann und daß die Kosten der Mikroelektronik ein geringeres Gewicht haben werden als der zeitliche Vorsprung der Innovation. Wir erleben die stärkste Kooperationswelle in unserer relativ jungen Branchengeschichte.

Wesentlich an diesen Kooperationen ist heute, daß sie vor allem unter dem Diktat der Zeit und nicht mehr unter der Notwendigkeit des Geldes allein geschlossen werden. Der Zeitdruck auf Kooperationen ist deshalb so groß, weil die Basisproduktmärke relativ schnelle Sättigung erfahren werden.

Der Zeitdruck auf Kooperationen ist außerdem so groß, weil die Ressourcen in unserer Branche zunehmend knapper werden, das heißt, man muß Know-how kaufen, und das heißt, Partnerschaften komplementär zu. beabsichtigen, weil es Technologien an sich haben, daß man sie nicht auf Lager produzieren kann: Man muß sie sofort im Markt umsetzen. Deshalb sehe ich zunehmend eine dritte Richtung in Kooperationen, nämlich Kooperationen zwischen Technologiehäusern und Marktzugängen.

Wenn Anwendungsinnovation bei Digitaltechnik in erster Linie aus Kundennähe stammt, und wenn unsere Technik an Komplexität und damit an Erklärungsbedürftigkeit weiter zunehmen wird, und wenn infolgedessen die Vertriebs- und Marketingkosten in unserer Branche der größte Kostenblock, nämlich etwa viermal soviel wie die Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen der Unternehmen, bleiben werden, dann wird die wirtschaftliche Wendenerreichbarkeit und das Verständnis des Marktbedarfs zum bestimmenden Faktor, wie schnell Marktanteile aufgebaut werden können.

Wir haben heute in der Branche die Situation, daß der Markt mit reifen Produkten global übersetzt ist. Gleichzeitig aber, trotz dieser Knappheit der Vertriebswege, verfügen wir über exklusive Vertriebswege für informationstechnische Produkte, die Hersteller der Informationstechnik auch nicht annähernd für ihre Wachstumsmärkte mobilisieren.

Vorsprung in der Technik alleine ist kein Freifahrtschein mehr zur Eroberung der am schnellsten wachsenden Märkte. Freie Fahrt werden vor allem die Hersteller gewinnen, denen eine Synchronisierung heute vorhandener Vertriebs-Wege mit einer am Kundenbedarf ausgelegten Produktstrategie gelingt.

Ich bin deshalb davon überzeugt, daß etablierte Vertriebswege außerhalb unserer Branche an Bedeutung für den informationstechnischen Markt zunehmen werden und daß hierdurch deutlich anwendungsbetontere Kooperationen entstehen. Dies gilt beispielsweise auch für die Nachrichtentechnik, wo nur durch enge Verzahnung informationstechnischen Know-hows mit dem Marktzugang der Telefonnebenstellenanlage es gelingen wird, dort digitale Informationstechnik hinzubringen, wo heute das Telefon steht.

Nur durch eine Verzahnung informationstechnischen Know-hows mit den Marktzugängen im produzierenden Bereich wird es gelingen, der Mustererkennung und der Sensortechnik, zum Beispiel im Roboterbereich, oder generell gesprochen, der Mikroelektronik im Anwendungsbereich Messen, Steuern und Regeln in der Verzahnung mit der Feinmechanik zu Wachstum zu verhelfen. NC-Maschinen sind zwar seit nahezu 20 Jahren in aller Munde, die Prognose, die Mitte der 60er Jahre für i980 gemacht wurde, nämlich, daß 15 Prozent aller Werkzeugmaschinen mit Mikroelektronik ausgerüstet sein werden, ist nur zu einem Drittel erreicht worden, und dies hat meiner Auffassung nach sehr viel mit den Marktzugängen und kaum etwas mit Technologie zu tun.

Dies veranlaßt mich zu der Folgerung, daß der größte Wachstumsschub der Informationsverarbeitung im Zentrum der Anwendungsfelder, und nicht mehr im Zentrum der Technologie allein, ausgelöst wird. Ich halte dies für den bedeutendsten Wandel, den unser Markt für manche schmerzlich, für manche aber chancenreich vollziehen wird.

Auszugsweise Wiedergabe eines Vortrages, der anläßlich des Kienzle-Symposions für EDV-Fachjournalisten zur Hannover-Messe gehalten wurde.