Achim Lidsba, Generalmajor a. D. und zuletzt Leiter der Führungsakademie der Bundeswehr, genügt ein Blick in den Mail-Account einer Führungskraft, um zu wissen, wie sie führt. Bei Verfechtern einer klassischen Führungskultur werden sich Hunderte oder Tausende Mails finden, schließlich gilt es, stets die Kontrolle zu behalten und auch bei Vorgängen, die kein Eingreifen erfordern, in Kopie dabei zu sein. Lidsba wollte zu seiner aktiven Zeit nichts von dieser Mail-Flut wissen. Sein E-Mail-Eingang war immer weitgehend leer.
Führungskräfte, die ihren Teams Freiraum und die Verantwortung geben, Entscheidungen selbst zu treffen, gehören zu den Vertretern einer neuen Führungskultur, die Voraussetzung für ein agiles Unternehmen ist. Das ist ein zentrales Ergebnis der Studie "Change Engine, while you are flying" von Great Place to Work und der Kölner Beratung Sichtweise. In Zusammenarbeit mit der COMPUTERWOCHE haben Sichtweise und Great Place to Work mehr als 1000 Fach- und Führungskräfte danach befragt, wie agil ihr Unternehmen heute ist.
Das Ergebnis offenbart eklatante Wahrnehmungsunterschiede zwischen Führungskräften und Mitarbeitern - was kein gutes Zeichen ist. Während 77 Prozent der Geschäftsführer von ihrer Unternehmensvision begeistert sind, hält sich die Zustimmung der Führungskräfte (55 Prozent) und der Mitarbeiter (37 Prozent) in Grenzen. Ähnliche Divergenzen zeigen sich bei der Einschätzung des künftigen Unternehmenserfolgs sowie der Bewältigung der digitalen Transformation. Die größten Unterschiede offenbaren sich aber beim Thema "neues, disruptives Denken". Während 85 Prozent der Geschäftsführer sagen, dass sie "mit neuen Wegen experimentieren, um schneller entscheiden und handeln zu können", stimmen dem nur 38 Prozent der Mitarbeiter zu.
Freiheitsgrade jenseits der Kostenstelle
"Hier zeigen sich die klassischen Organisationsstrukturen, bei denen die Geschäftsführung das Unternehmen steuert und top-down vorgibt, in welchen Bereichen Innovationen kreiert werden sollen", sagt Studienleiter Horst Pütz. "Solange nicht alle Mitarbeiter in die Innovationsprozesse eingebunden werden und man immer einen Business Case braucht, der sich rechnen muss, wird keine Innovation zustande kommen. Wir brauchen Freiheitsgrade jenseits der Kostenstelle."
Wie weit die Unternehmen von einer agilen Organisation entfernt sind, zeigt auch eine andere Zahl: Weniger als ein Zehntel der Befragten gestalten die Veränderungen in der digitalen Transformation mit. In Großunternehmen sind diese Innovatoren meist in kleinere, Startup-ähnliche Einheiten ausgelagert, die mehr Freiheitsgrade und auch andere räumliche Arbeitsbedingungen haben als der große Rest.
Agile Ansätze beim Militär
Dass sich nur eine Minderheit der Befragten als agil empfindet, hat laut Studienleiter Pütz viel mit Führung zu tun: "Manager müssen Agilität vorleben, sonst findet sie nur bei Rebellen statt. Gebe ich den Mitarbeitern die richtigen Aufgaben? Ermutige ich sie, sich zu bewegen? Haben Mitarbeiter nicht die Zuversicht, dass ein anderes Verhalten gewünscht ist, werden sie vorsichtig agieren." Dabei sind selbst in militärischen Organisationen heute agile Ansätze zu finden. General Stanley McChrystal, ehemaliger Kommandeur der ISAF-Truppen in Afghanistan, sah sich mit gut vernetzten, flexibel organisierten Taliban konfrontiert, die mit Tugenden wie Disziplin, Gehorsam und der üblichen Top-down-Befehlskette nicht zu bezwingen waren. McChrystal delegierte die Verantwortung an seine Militärs vor Ort, wo sie sich besser auskannten. Informationen wurden transparent gemacht und mit allen geteilt.
Lidsba erläutert das an einem Beispiel: "Wenn morgens im Einsatz in Afghanistan vor einer Autobombe in einem weißen Toyota gewarnt wird, steht der Obergefreite in eigener Verantwortung auf seinem Posten an der Straßenkreuzung und muss binnen Sekunden entscheiden, ob er schießt oder nicht, wenn der Wagen in hoher Geschwindigkeit angefahren kommt." Natürlich: Der Vergleich zwischen militärischer und unternehmerischer Beweglichkeit hinkt. Sicher ist aber, dass ein Mitarbeiter, der nahe am Kunden agiert, über ein Wissen verfügt, das seine Vorgesetzten nicht in dieser Detailtiefe haben. Es gibt also Sinn, ihm viel Entscheidungskompetenz zukommen zu lassen. Dezentrale Entscheidungsbefugnisse gehören zu einer agilen Unternehmenskultur, ebenso ein offener Austausch in unternehmensweiten Netzwerken sowie gegenseitiges Feedback.
Belohnt werden solche Rahmenbedingungen mit vielen neuen Ideen, die zu Innovationen werden können. Horst Pütz gibt zu bedenken: "Jeder weiß, dass engagierte Mitarbeiter mehr leisten als demotivierte. Stimmt das Engagement, verringert sich die Zahl der Kündigungen und der Burnout-Fälle, außerdem entstehen intensivere Kundenkontakte. Eine direkte Ursache-Wirkung-Beziehung nachzuweisen, dürfte aber schwierig bleiben."
Studie zum kostenlosen Download
Die Studie über den Kulturwandel in der digitalen Transformation und wie dieser sich messen und gestalten lässt gibt es als kostenlosen Download hier: www.sicht-weise.net, oder hier: http://www.greatplacetowork.de/aktuelles2/news/1340-neue-studie-kulturwandel-in-der-digitalen-transformation-messen-und-gestalten