Bestandsaufnahme bei Assekuranzen

Versicherungen zeigen noch wenig Interesse an der OO-Technik

16.05.1997

Versicherungsunternehmen sind zumindest derzeit noch durch eine zentralistische Architektur ihrer Systemlandschaft und relationale Datenbanken geprägt. Darüber hinaus stellen insbesondere operationale Anwendungen hohe Anforderungen an die Zuverlässigkeit und die Performance der Systeme und machen aufgrund ihrer Komplexität den Einsatz von integrierten und durchgängigen CASE-Tools sinnvoll.

Ob sich objektorientierte Lösungen bezüglich ihrer Methodik und Entwicklungsumgebungen in diese Rahmenbedingungen integrieren lassen, wurde vom Lehrstuhl für Risiko-Management und Versicherungswirtschaft an der Universität Gießen anhand einer Umfrage untersucht. Die 285 angeschriebenen Personen sind fast ausschließlich im Vorstand und im Bereich der DV-Leitung angesiedelt und repräsentieren nahezu die gesamte deutsche Versicherungswirtschaft.

Die Ergebnisse der Untersuchung scheinen die schon fast traditionelle Zurückhaltung und Vorsicht deutscher Versicherer zu bestätigen: Mehr als die Hälfte aller Unternehmen lehnen die Objektorientierung ab oder beschränken sich darauf, den Markt zu beobachten. Lediglich jedes dritte Unternehmen (39 Prozent) setzt bereits entsprechende Lösungen ein beziehungsweise entwickelt auf dieser Basis.

Viele Projekte mit objektorientierten Anwendungen finden im Bereich des Außendienstes und der Agenturen statt. Hierzu gehören Informationssysteme sowie Angebots- und Tarifierungsanwendungen in den Sparten Kraftfahrt, Leben, Rechtsschutz und Betriebshaftpflicht. Teilweise sind auch Beratungs- und Schadenbearbeitungskomponenten integriert.

Des weiteren gibt es mehrere OO-Projekte im Bereich der Lebens- und Krankenversicherung. Neu gestaltet werden hier beispielsweise operative Fachanwendungen, die Abwicklung von Geschäftsvorfällen in der Krankenversicherung und die Partner- und Bestandsverwaltung. Andere Projekte behandeln nicht ausschließlich versicherungsspezifische Probleme. Hierzu gehören die Themen Korrespondenz, Oberflächenerstellung, Dokumenten-Management und Vorgangsbearbeitung, Historienverwaltung, Projektverwaltung, Hypothekenbearbeitung, In- und Exkasso sowie Leistungs- und Schadenbearbeitung.

Jedes vierte Projekt, so zeigte die Umfrage, ist inzwischen abgeschlossen. Mehr als die Hälfte aller Vorhaben befinden sich noch in der Entwicklungsphase (68 Prozent aller Projekte sind Pilotanwendungen, 32 Prozent bauen darauf auf).

Die erstmals Anfang 1992 initiierten OO-Projekte dauern zwischen vier Monaten und fünf Jahren. Der Aufwand wurde mit 100 bis etwa 20000 Manntagen angegeben. Nach Einschätzung der Verantwortlichen können Pilotprojekte mit objektorientierten Technologien doppelt soviel Einsatz erfordern wie entsprechende Vorhaben mit konventionellen Verfahren. Im Durchschnitt wird der Aufwand jedoch als vergleichbar groß angesehen.

Tatsächliche Einsparungen ergeben sich erst mit den Folgeprojekten: Investitionen auf Basis von Objekttechnik betragen lediglich die Hälfte oder gar ein Viertel dessen, was mit konventionellen Mitteln nötig wäre.

Laut Umfrage unterstützen objektorientierte Methoden vor allem die Analyse- und die Designphase (29 Prozent) sowie die Programmierung (35 Prozent). Zusätzlich werden sie in 25 Prozent aller Fälle für die Gestaltung grafischer Oberflächen verwendet. Objektorientierte Datenbanken (sechs Prozent) und experten- beziehungsweise wissensbasierte Systeme (fünf Prozent) spielen derzeit nur eine untergeordnete Rolle.

Das erfolgreiche Software-Engineering komplexer Systeme setzt den Einsatz von Vorgehens- und konzeptionellen Modellen voraus. Hierfür stehen sowohl objektorientierte als auch klassische Methoden zur Verfügung, die teilweise auch nebeneinander verwendet werden. Von den Unternehmen, die objektorientierte Projekte betreiben, setzen rund 48 Prozent konventionelle Verfahren ein. Besonders verbreitet ist dabei die Entity-Relationship-Modellierung (73 Prozent) und die strukturierte Analyse insbesondere zur Funktionenmodellierung (20 Prozent). Dies macht zum einen die verstärkte Integration relationaler Datenbanksysteme und Modelle deutlich, in der ein Großteil der verfügbaren Informationen enthalten sind. Zum anderen zeigt dieser Umstand aber auch eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit objektorientierten Analyse- und Designmethoden.

Nahezu alle in OO-Projekte involvierte Unternehmen setzen objektorientierte Analyse- und Designmethoden CASE-Tool-gestützt ein und verwenden ein zyklisches Vorgehensmodell. Es dominiert die Methode von Coad und Yourdon. Darüber hinaus sind die Verfahren von Jacobson und Rumbaugh weit verbreitet.

Auch wenn die Objektorientierung vielversprechend erscheint und hohe Erwartungen weckt, so ist sie dennoch mit einer Reihe von Kinderkrankheiten und Problemen behaftet. Hierzu gehören vor allem Schwierigkeiten beim Aufbau des neuen Know-hows und die fehlende oder nicht ausreichende CASE-Tool-Unterstützung. Enttäuscht zeigten sich einige Anwender auch darüber, daß die Objektorientierung nicht die Erwartungen in bezug auf eine effizientere Realisierung von Lösungen und geringere Wartungskosten erfüllte (siehe Grafik).

Demgegenüber wurden folgende Ziele zumindest vereinzelt erreicht: die Kapselung von Software, eine technische Infrastruktur auf hohem Abstraktionsniveau für Standardanwendungsentwickler, langfristig beherrschbare Systeme sowie deren problemlose Erweiterungen.

An Objektorientierung dürfen also nicht von vorneherein allzu hohe Erwartungen geknüpft werden - ein Fehler, der seinerzeit bei der Expertensystemtechnologie für große Ernüchterung gesorgt hat. Hinzu kommt, daß viele Probleme im Software-Engineering ihre Ursache außer-halb einer fachlichen oder technischen Methodik haben. So wird beispielsweise ein schlechter Programmierer oder Analytiker durch den Einsatz objektorientierter Methoden nicht automatisch zu einem hervorragenden Mitarbeiter. Auch Kommunikationsprobleme zwischen Fach- und DV-Abteilungen werden mit objektorientierten Ansätzen nicht behoben.

Insofern ist Objektorientierung kein Allheilmittel. Dennoch läßt sie langfristig deutliche Produktivitätsfortschritte im Hinblick auf leistungsfähigere und schlankere Systeme erwarten..

Was noch fehlt

In folgenden Punkten müssen sich nach Auskunft der befragten Versicherungsexperten objektorientierte Technologien noch verbessern:

-Vereinheitlichung der Analyse- und Designmethoden,

-(CASE-)Tool-Unterstützung,

-Durchgängigkeit bei den Übergängen zwischen Analyse, Design und Realisierung,

-Großrechnerunterstützung sowie Datenbanken für den Host,

-Kompatibilität der Produkte,

-Unterstützung der Prozeßmodellierung,

-Verbindung zu Workflow-Management-Systemen,

-Erlernbarkeit,

-höhere Wiederverwendbarkeit,

-Performance und

-ein bislang fehlendes Framework für Versicherungsunternehmen.

*Bernd Schnur ist Versicherungs- und DV-Berater in Hennef (Sieg).