Verschmelzung objektorientierter Technologien geplant HP kauft sich in Joint-venture Taligent von IBM und Apple ein

14.01.1994

MUENCHEN (jm) - Wie seit laengerem erwartet, hat Hewlett-Packard (HP) sich nun doch an dem Joint-venture-Unternehmen Taligent Inc. beteiligt: Im Zuge einer Neuemission von Wertpapieren werden die Kalifornier neben IBM und Apple mit 15 Prozent Anteil dritter Aktieneigner der mit der Entwicklung objektorientierter Systemsoftware befassten Firma.

Big Blue und Apple, die Taligent im Maerz 1992 aus der Taufe hoben, halten weiterhin ein paritaetisches Aktienpaket, das aber jetzt nur noch je 42,5 Prozent ausmacht. HP nimmt - sobald das noch ausstehende behoerdliche Plazet zum Firmeneintritt vorliegt - einen Sitz im Taligent-Vorstand ein und erwirbt Nutzungs- und Lizenzrechte an Teilen der objektorientierten Technologien von Taligent. Im einzelnen sind dies die Application Frameworks, das Entwicklungssystem sowie die Object-Services.

Im Gegenzug macht sich das IBM-Apple-Unternehmen Entwicklungen von HP zu eigen: Insbesondere ist hier die Verschmelzung der von HP und Sun entwickelten DOMF (Distributed Object Management Facility) mit IBMs Distributed System Object Model (DSOM) gemeint. Diesbezueglich hatten beide Unternehmen bereits im Sommer 1993 die Koepfe zusammengesteckt.

DOMF ist eine Implementation von Corba (Common Object Request Broker Architecture) der OMG (Object Management Group) und - ebenso wie dieses - ein Messaging-System, das auf den Netzknoten implementiert wird und dort praktisch den Verkehr von versendeten Objekten in einem Netz regelt.

DOMF soll nach den Worten von Taligent-President Joe Guglielmi in das Taligent-Betriebssystem inkorporiert werden. Dies kommt insofern einem erheblichen Kurswechsel gleich, als die IBM und damit Taligent bislang keine Anstalten machten, Corba zu unterstuetzen. Allerdings soll das Taligent-Betriebssystem nicht vor Ende 1995 oder gar Anfang 1996 zur Auslieferung gelangen.

Taligent erwirbt zudem Lizenzrechte fuer DCE/9000-Komponenten von HP und arbeitet diese in die eigene Produktpalette ein. DCE/9000 stellt HPs Implementation des Distributed Computing Environment (DCE) der OSF dar und dient unter anderem fuer Directory- und RPC- Anweisungen (Remote Procedure Call) sowie fuer Sicherungsmechanismen.

Betriebssystem ist kein Thema der Vereinbarung

In den offiziellen Verlautbarungen fehlt bemerkenswerterweise Taligents objektorientiertes Betriebssystem selbst. HP hat bislang hierzu keine Lizenzierungsabsichten bekundet. Analysten wie Tom Kucharvy, President der Bostoner Marktforschungsfirma Summit Strategies Inc., kritisierten denn auch prompt: "Aus Sicht von Taligent ist der Pferdefuss der Vereinbarung darin zu sehen, dass HP ueberhaupt keine Verpflichtung eingeht, das Taligent-Betriebssystem zu vertreiben."

Bernard Guidon, European Director Computer Systems Marketing bei HP, unterstrich im Gegensatz hierzu gegenueber der CW die "strategische Bedeutung" des Abkommens mit Taligent: "Wir wollen", so Guidon, "gemeinsam mit IBM und Apple ein schlagkraeftiges Angebot auf dem Markt der objektorientierten Software bieten." HP okuliere, so der Analyst weiter, sein HP-UX-Betriebssystem mit der Lizenznahme fuer die Taligent-Frameworks-Technologie: "Damit wird HP-UX um komplette objektorientierte Moeglichkeiten veredelt, die einige Optionen offerieren, welche Stand momentaner Technologie sind."

Die Frameworks sind eine Sammlung von ueber 100 Objektkomponenten, die fuer so unterschiedliche Aufgaben wie I/O-Aktivitaeten, Datenbankzugriffe, Grafik oder Multimedia gedacht sind. Sie bieten Basisdienste, auf denen Applikationen entwickelt werden koennen.

Prinzipiell, streicht Kucharvy heraus, sei festzuhalten, dass Taligent und seine objektorientierte Technologie am Markt durch den neuen Mitstreiter HP an Glaubwuerdigkeit gewinnen werde - eine Meinung, die auch Brent Williams von der International Data Corp. (IDC) vertritt.

Ein weiterer Punkt der nun geschlossenen Vereinbarung betrifft Taligents Zusammenarbeit mit dem Standardisierungsgremium X/Open. An dieses will das Joint-venture die APIs fuer die Taligent- Application-Frameworks weiterreichen, um dort die hoeheren Weihen als offizielle und amtliche Industriespezifikation zu erhalten. Konsequenter naechster Schritt soll dann die Freigabe an Dritte sein.

Angesprochen auf das im Sommer 1993 mit der Next Computer Inc. abgeschlossene Abkommen bezueglich der Nutzung von Nextstep auf HP9000-Systemen, wollte Guidon keine Interessenskonflikte erkennen. Allerdings drueckte er sich eher kryptisch aus: Sei der Taligent-Deal von "strategischer" Dimension, habe man mit Next seinerzeit ein "taktisches" Abkommen abgeschlossen. Mit der Aneignung von Nextstep habe HP eine Betriebssystem-Implementation auf die HP-Plattform gebracht, die "native object-oriented" ist.

Deutlicher wurde Guidon bezueglich eines anderen Wettbewerbers - Microsoft. Zwar werde man Windows NT prinzipiell auch fuer die eigene Hardwareplattform anbieten, "aber die Nachfrage nach NT ist dermassen enttaeuschend, dass wir in dem Microsoft-Angebot keine Konkurrenz zu Taligent sehen".

Zu den Wettbewerbern von Taligent muss man nach Ansicht von Fachleuten auch Sun (mit einer Minderheitsbeteiligung an Next) beziehungsweise deren Tochter Sunsoft zaehlen. Diese schloss im November 1993 eine Vereinbarung mit der Steven-Jobs-Company, derzufolge Sunsoft unter anderem Lizenzrechte fuer die Nextstep- Anwendungsumgebung erwirbt, um sie in Solaris zu integrieren.

Auch die Novell Inc. bietet mit Appware Foundation eine objektorientierte Entwicklungsumgebung, die Novell aus dem 1993 abgewickelten Aufkauf des Softwarehauses Serius Inc. geerbt hat. Bei Appware Foundation handelt es sich um ein Schnittstellen- Buendel. Anwendungen, die auf diesen API-Set zugeschnitten sind, koennen Betriebssystem-unabhaengig eingesetzt werden.

Wichtiger als NT duerfte darueber hinaus Microsofts MFC-Angebot (Microsoft Foundation Classes) sowie die OLE-Dienste und das im Gegensatz zu NT lupenreine objektorientierte "Cairo"Betriebssystem sein. Waehrend MFC und OLE sich bereits einen Stammplatz im Markt erobert haben, wird Taligent erste Toolkits der Application Frameworks an ISVs und andere Entwickler erst im ersten Halbjahr 1994 ausliefern.