Career Days in Berlin: Der IT-Nachwuchs kennt seinen Marktwert

Verkehrte Welt: Firmen werben um Kandidaten

23.10.1998

Eitle Zeitgenossen müssen sich geärgert haben. Nicht einmal mehr im Aufzug konnte man in Ruhe sein Spiegelbild betrachten, ohne überall diese Zettel zu sehen: "Wir brauchen Verstärkung!" "Infor nimmt gerne Lebensläufe für Spontaninterviews entgegen." "Tanja Petz bitte dringend beim Floormanager auf Etage drei melden." Schon am ersten Tag der Career Days Informationstechnologie, die Anfang Oktober stattfanden, hatten Unternehmen auf Nachwuchssuche Aufzüge und Wände im Berliner Nobelhotel Estrel mit diversen Zetteln und Plakaten tapeziert. So oft wie möglich auf sich aufmerksam machen und Kontakte knüpfen, lautete die Devise vieler der knapp 50 Firmen, die Bewerbungsgespräche mit insgesamt 380 Kandidaten führten.

Ob Informatiker, Betriebswirte, Ingenieure oder auch Naturwissenschaftler - Absolventen mit IT-Hintergrund sind das Objekt der Begierde. Die Unternehmen müssen die Werbetrommel kräftig rühren, um nicht das eigene Wachstum durch unbesetzte Stellen zu gefährden.

Daß Rekrutierung in der IT-Branche im Vergleich zur restlichen Wirtschaft unter verkehrten Vorzeichen stattfindet, ist den Studenten sehr wohl bewußt. Sie wissen um ihren Marktwert und nutzen die Wahl. Für die 26jährige Tanja Petz sind Rekrutierungsveranstaltungen wie die Career Days kein Neuland mehr. Bei den Career Futures, einer weiteren Veranstaltung der Personalberatung German Career Service, hat die angehende Informatikerin, die vor ihrem Studium fünf Jahre als Programmiererin arbeitete, bereits Gespräche mit verschiedenen Firmen geführt, in den nächsten zwei Tagen stehen weitere 16 auf dem Programm. "Ich kann jedem Absolventen solche Veranstaltungen nur empfehlen, da man in kürzester Zeit sehr viele Firmen kennenlernt." Tanja Petz, die im nächsten Jahr ihr Studium abschließt, will vergleichen können, bevor sie sich für ein IT-Beratungshaus entscheidet.

Firmen, die bei den Career Days gleich die Blankoverträge zücken, empfindet sie als unseriös. Sie ist wie viele andere ihrer Mitbewerber in der Position, sich ohne Entscheidungsdruck einen Überblick über die Angebote verschaffen zu können.

Auch für die Unternehmen ist eine Rekrutierungsveranstaltung wie die Career Days eine Chance, sehr viele Kandidaten innerhalb von zwei Tagen kennenzulernen. Allein die SAP AG führte in Berlin etwa 120 Gespräche. Um den IT-Nachwuchs von sich zu überzeugen, haben sich viele Firmen den Dialog mit den Bewerbern auf die Fahnen geschrieben. Der blieb aber oft im Ansatz stecken, da Unternehmensvertreter die vorgeblichen Interviews als Werbeplattform nutzten.

Zuviel Werbung kommt nicht an

Gezielte Fragen an die Kandidaten entfielen aus Zeitgründen, und das, obwohl die Unternehmen eine Kurzbewerbung von vielen Teilnehmern bereits Wochen zuvor bekommen hatten. So mancher Student, der sich vorher per Internet informiert oder den Geschäftsbericht hatte schicken lassen, hätte auf eine mitunter 40minütige Selbstdarstellung des Firmenvertreters lieber verzichtet und sich statt dessen über das eigene Profil und die persönlichen Vorstellungen unterhalten. Wollte er etwas über seinen künftigen Arbeitgeber erfahren, hätte er ebensogut eine Unternehmenspräsentation besuchen oder am Stand nachfragen können.

Roland Wegele, angehender Betriebswirt aus Siegen, hat sich die "Freiheit genommen, mein Gegenüber schon einmal abzuwürgen, wenn es nur die Firmenbroschüre herunterbetete". Auch Jens Jungbeck vom Software-Anbieter LHS, Dreieich, ist sich bewußt, daß man in den Gesprächen auf die Kandidaten individuell eingehen und sie gleichzeitig aus der Reserve locken müsse. Andererseits gibt auch er zu: "Ich nutze die Zeit, um einen bleibenden Eindruck von der Firma beim Kandidaten zu hinterlassen."

Allzu direkte Werbung stieß bei vielen Studenten auf taube Ohren, zumal sie wissen, daß sie es sich leisten können. Wer unter 1100 Bewerbern ausgewählt wird und an zwei Tagen mit mehr als einem Dutzend Firmen spricht, kann nicht nur wählen, sondern stellt auch Ansprüche. Die Möglichkeit, nach zwei oder drei Jahren ins Ausland zu gehen, ist für Absolventen ein wichtiges Entscheidungskriterium - besonders für diejenigen, die bereits während ihres Studiums ein Semester außerhalb Deutschlands verbracht hatten. Mit forscheren Wünschen werden die Unternehmen von den selbstbewußten Studenten aber auch in Sachen Gehalt konfrontiert. So ergab eine Umfrage unter den Teilnehmern der ersten Berliner Career Days Informationstechnologie im Juli, daß Absolventen ein durchschnittliches Einstiegsgehalt von 78800 Mark erwarten und bereits nach einem Jahr eine Steigerung um knapp 10000 Mark beanspruchen. "Das sind überzogene Forderungen", kommentiert Bernd Höreth von der BIK GmbH. Zwar hänge das Gehalt immer von den Standorten ab - so werde im Bankenzentrum Frankfurt mehr bezahlt -, letztlich seien solche Gehaltssteigerungen aber ebenso unrealistisch wie die Vorstellungen vieler Bewerber über den Berufseinstieg. So könne bei BIK kein Absolvent als Projektleiter anfangen, selbst wenn er diverse Praktika absolviert habe.

Auch wenn die Hochschulabgänger in der IT-Branche aufgrund des Bewerbermangels mehr Geld bekommen als noch vor einigen Jahren, führen überzogene Gehaltsforderungen bei vielen Firmen zur Ablehnung. Verhandlungsbereit sind die Unternehmen vor allem bei exzellenten Kandidaten, aber auch dann nur bis zu einer bestimmten Grenze. "Wir locken die Leute nicht mit Geld, da sie uns sonst mehr Schaden als Nutzen bringen, wenn sie nach einem halben Jahr von einem anderen Unternehmen wieder abgeworben werden." Tobias Mayr von Siemens Information & Communications Networks steht mit dieser Ansicht nicht allein. Auch Katrin Lachenmeyer vom Debis Systemhaus sieht in der Höhe des Gehalts keine ausreichende Motivation und will die Bewerber mit "Inhalten und Innovationen begeistern". Daß das Gehalt nicht das Alleinseligmachende ist, hat auch der angehende Betriebswirt Roland Wegele gemerkt: "Wenn für 80000 Mark im Jahr die 70-Stunden-Woche die Regel ist, steige ich lieber niedriger ein."

IT-Nachwuchs sucht Herausforderungen

Immer den eigenen Marktwert im Hinterkopf, treten die Bewerber auf der Rekrutierungsmesse selbstbewußt auf und wissen, was sie wollen. Ein 27jähriger Betriebswirt, der bereits seit vier Jahren als Controller und IT-Projektleiter arbeitet, hat das Gefühl, bei seinem jetzigen Arbeitgeber, einem mittelständischen Unternehmen, auf der Stelle zu treten. Auf der Berliner Rekrutierungsmesse sucht er Unternehmen, die ihm langfristige Perspektiven aufzeigen können. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft: Weiterbildungsmöglichkeiten und herausfordernde Tätigkeiten stehen laut Umfrage von German Career Service ganz oben auf der Wunschliste von Einsteigern, wenn es um die Wahl des Arbeitgebers geht. Um so aufmerksamer nehmen die Absolventen die Firmenvertreter ins Visier. Unternehmen, die in den Vorstellungsgesprächen damit werben, daß man nach zwei Wochen Einarbeitung zum Projektleiter aufsteige, können leicht ihren Kredit verspielen.

So kritisch sich die Kandidaten mit den Inhalten der Gespräche auseinandersetzten, so locker gingen sie zu den Terminen. "Manche nehmen die ganze Veranstaltung auf die leichte Schulter und erscheinen zu den vereinbarten Terminen nicht, ohne vorher abzusagen", monierte Eva Nordstrand von Otelo.