Verhinderer werden zu Verlierern Wenn Re-Engineering-Projekte scheitern: Wer hat die Schuld?

14.10.1994

Von Heinrich Brill*

Wirtschaftsbestseller ueber Business Re-Engineering machen zur Zeit das Rennen. Doch die Euphorie, mit der so mancher Topmanager nach seiner Wochenendlektuere ins Unternehmen eilt, ist nur zum Teil berechtigt, denn - das weisen empirische Analysen inzwischen nach - die erhofften Ergebnisse werden in der Praxis nicht immer erreicht.

"Re-Engineering: Topmanager sind von Resultaten enttaeuscht", schreibt die COMPUTERWOCHE in ihrer Ausgabe vom 17. Juni 1994. Hintergrund dieser Meldung waren Marktuntersuchungen bei Unternehmen in den USA. Weiter war zu lesen:

"Fast 85 Prozent aller Topmanager, die ihre Geschaeftsprozesse mit Hilfe entsprechender Projekte neugeordnet haben, sind mit den Resultaten unzufrieden."

Woran liegt es, wenn Business-Re-Engineering-Projekte scheitern, und welche Schuld trifft dann die eingesetzten Berater?

Ausgangssituation in den Unternehmen In der gerade ueberwundenen Rezession haben die Unternehmen alles getan, um die bestehenden Probleme durch drastische, kurzfristig angelegte Massnahmen zu bekaempfen: Kurzarbeit und Personalabbau, Kostensenkungsprogramme, schnelle Umorganisationen, Austausch von Fuehrungskraeften und erhoehter Preisdruck auf Lieferanten, Kooperationen und Allianzen standen dabei obenan.

Doch die ueberall durchgefuehrten Staerken-Schwaechen-Analysen haben gezeigt, dass die Unternehmen auch durch gravierende Strukturprobleme und organisatorische Schwierigkeiten belastet werden. Diese erfordern Strategien mit langfristig wirksamen Effekten.

Um die Wettbewerbsfaehigkeit nachhaltig zu sichern, verfolgen die Firmen unterschiedliche Konzepte. Mit die groesste Wirkung versprechen wohl die organisatorischen Massnahmen, deren Umsetzung manche Unternehmen erst planen. Die Welle der Reorganisation, des Lean Management, ist nicht mehr aufzuhalten.

Heute sind noch immer viele Betriebe funktional organisiert, also in Ressorts wie Vertrieb, Produktion, Technik, Personal und Verwaltung aufgeteilt. Ergebnisverantwortung besteht nur auf der Ebene der Geschaeftsfuehrung beziehungsweise des Vorstands.

Stets groesser wird die Zahl der Unternehmen, die die funktionale Organisation durch eine Organisation mit eigenstaendigen Geschaeftseinheiten ersetzen - allerdings werden diese meist erneut funktional organisiert.

Bezueglich der Prozessorganisationen ist die heutige Ausgangssituation durch einen langjaehrigen schrittweisen Aufbau und somit verstaendlicherweise durch veraltete Prinzipien gepraegt.

Eine Analyse zeigt, dass oftmals folgende Unzulaenglichkeiten bestehen:

-Die Prozessorganisation ist nicht unabhaengig von der aktuellen Strukturorganisation.

-Es existieren keine Verabredungen ueber Prozessziele. Der Effekt ist, dass sich jeder an einer Prozessorganisation beteiligte Bereich an eigenen Zielen orientiert, und somit ein Gesamtoptimum verhindert wird.

-Ein kundenorientiertes Handeln (bezogen auf interne und externe Kunden) ist mit den bisherigen Prozessorganisationen kaum moeglich.

-Eine durchgaengige Prozessverantwortung besteht nicht und laesst sich auch nur dann einfuehren, wenn die verfolgten isolierten Abteilungsziele aufgegeben werden.

Auch die eingesetzten Informationssysteme und -strukturen sind oftmals veraltet und entsprechen kaum den heute verfuegbaren technischen Moeglichkeiten.

Eine Analyse der Anwendungen, die in vielen Firmen existieren, weist deutlich nach, dass im Laufe der Jahre jeweils fuer die rationalisierungstraechtigsten Teilfunktionen isolierte Informationssysteme geschaffen wurden. Diese Inselloesungen wurden spaeter nach und nach ueber geeignete Schnittstellen miteinander verbunden, was eine vollstaendig integrierte Systemarchitektur verbindet.

Ein Trend der 90er Jahre

Das generelle Ziel aller organisatorischen Massnahmen, die in den Unternehmen umgesetzt werden oder geplant sind, ist der Aufbau von flexiblen, schnellen und kundenorientierten Organisationen, die hoechste Produktivitaet und Qualitaet sowie schnellste Anpassungen an Kundenwuensche und Wettbewerbsveraenderungen ermoeglichen.

Vielfach wird versucht, dieses Ziel durch eine radikale Restrukturierung der Unternehmensphilosophie, der Aufbau- sowie Prozessorganisation und der unterstuetzenden Informationssysteme, also durch Business Re-Engineering, zu erreichen.

Die Zahl der Anbieter von Beratungsleistungen auf diesem Gebiet steigt staendig. Neben den Firmen wie Andersen Consulting, Ernst & Young, Gemini, Price Waterhouse etc. bieten auch Hard- und Softwarehersteller entsprechende Dienstleistungen an. Alle beabsichtigen, an diesem Markt teizuhaben, dessen weltweites Volumen die Gartner Group momentan auf rund 1,7 Milliarden Dollar schaetzt und jaehrliche Zuwachsraten von mehr als 20 Prozent prognostiziert.

Was sich die Manager erhoffen

Die Erfahrung zeigt, dass die meisten Manager die Ausgangssituation in ihren Unternehmen eher kritisch beurteilen:

Sie registrieren beispielswese eine junge Motivation ihrer Mitarbeitern, den fehlenden Massstab zur Bewertung von Mitarbeiter, geringes Kotenbewusstsein, unzureichende Sachkenntnis und vieles mehr (vgl. Tabelle 1).

Das aus ihrer Sicht wichtigste Ziel von Business Re-Engineering ist es, die jeweiligen Schwaechen, zum Beispiel die Abstimmungsprobleme zwischen Vertrieb, Produktion und Logistik, nachhaltig zu beseitigen.

Insgesamt strebt Business Re-Engineering die Erhoehung der Verantwortung und der Eigeninitiative des einzelnen Mitarbeiters bei entsprechenden Befugnissen, die Einfuehrung integrativer Organisationsstrukturen - also die Vermeidung zu starker Arbeitsteilung zugunsten integrierter Prozesse mit gesamtverantwortlichen Team und die Abloesung von monotonen, sehr spezialisierten Arbeitsablaeufen tayloristischer Praegung an. Dabei geht es weniger um einzelne Teilbereiche als vielmehr um das ganze Unternehmen.

Externer als Suendenbock

In nahezu allen DV/Org.-Abteilungen ist seit vielen Jahren mehr zu tun, als die Mitarbeiter leisten koennen. Die personellen Engpaesse lassen sich oftmals nur durch den Einsatz von Beratern beseitigen, die zudem ueber die notwendigen methodischen Spezialkenntnisse verfuegen und haeufig einen besseren Ueberblick ueber Loesungen besitzen, die andere Unternehmen praktizieren.

Darueber hinaus koennen sich Externe meist zu fast 100 Prozent ihrer Arbeitszeit den Projektarbeiten widmen, was eigenen Mitarbeitern in der Praxis nicht moeglich ist.

Die Durchsetzung der Business-Re-Engineering-Massnahmen, die fuer die Betroffenen oft gravierende Veraenderungen mit sich bringen, ist mit einer solchen neutralen Unterstuetzung wesentlich leichter:

Durch den Einsatz eines Externen laesst sich die Verantwortung fuer die inhaltliche Qualitaet und die Termineinhaltung auf einen Lieferanten verlagern - auf den man, sollte etwas schiefgehen, jede Schuld schieben kann.

Beispiel fuer ein gescheitertes Projekt

Das folgende Beispiel bezieht sich auf ein bekanntes Industrieunternehmen, das vor etwa zwei Jahren ein radikales Re- Engineering der Auftragsabwicklung beabsichtigte.

Die von der Firma vorgegebenen Projektziele waren:

-eine deutliche Senkung der Kosten in allen Bereichen, die mit der Auftragsabwicklung zu tun hatten;

-drastische Reduzierung der Auftragsdurchlaufzeit;

- eine Steigerung der Flexibilitaet gemaess Kundenanforderungen und Wettbewerbssituation sowie

-die informationstechnische Integration aller an der Auftragsabwicklung beteiligten Bereiche.

Mit der Durchfuehrung des Projekts wurde ein angesehenes, international taetiges Beratungsunternehmen beauftragt, zu dessen Unterstuetzung ein internes Projektteam aus Mitarbeitern aller betroffenen Firmenbereiche gebildet wurde.

Nach etwa zwoelf Monaten intensiver Arbeit legte das Beratungsunternehmen ein Gesamtkonzept zur Neugestaltung der Auftragsabwicklung vor. Dieses bestand aus einer umfassenden Ist- Analyse und einem Katalog vieler Einzelmassnahmen, dessen Umsetzung das Erreichen aller vorgegebenen Ziele sicherstellen sollte.

Das Gesamtkonzept wurde schriftlich und muendlich praesentiert.

Schon waehrend der Abschlusspraesentation vor dem Vorstand und vor allem in den anschliessenden Wochen wurde jedoch deutlich, dass man wesentliche Vorschlaege des Beratungsunternehmens nicht realisieren wollte.

Letztendlich wurde eine halbe Million Mark Beratungshonorar nutzlos ausgegeben: Die Auftragsabwicklung ist bis heute unveraendert organisiert, die Wettbewerbsfaehigkeit des Unternehmens gefaehrdet. Eine nachtraegliche Analyse des Projektablaufs hat die Gruende fuer das Scheitern offengelegt:

So zeigte der Vorstand des Unternehmens von Anfang an keinerlei Bereitschaft dazu, die bestehende funktionale Organisation in Frage zu stellen. Unter dem Motto "Das haben wir immer schon so gemacht, und damit waren wir erfolgreich" wurde jede Initiative zu grundlegenden organisatorischen Aenderungen schon im Keim erstickt. Die Berater allerdings versaeumten es, den Vorstand von diesem Standpunkt abzubringen und ihm nachzuweisen, dass eine Produktgruppen-orientierte Aufbauorganisation fuer eine Optimierung der Auftragsabwicklung unabdingbar ist.

Ein weiterer Grund lag darin, dass die Zusammenarbeit der Fuehrungskraefte durch jahrelanges Misstrauen gepraegt war: In einer solchen Atmosphaere war die gemeinsame Verabschiedung eines ganzheitlichen Konzepts kaum moeglich. Diesem Aspekt widmeten die Berater jedoch zuwenig Aufmerksamkeit. Mangelndes methodisches Wissen unter den Fuehrungskraeften der betroffenen Fachbereiche war ein dritter Grund fuer das Scheitern des Projekts. Re-Engineering erfordert weit mehr als nur den "natuerlichen Menschenverstand". Die Oberflaechlichkeit, mit der man meinte Organisationskonzepte entwickeln zu koennen, fuehrte dazu, dass lediglich die isolierten Konzepte fuer Einzelbereiche verstanden und akzeptiert wurden, die weit wichtigeren uebergreifenden Aspekte dagegen nicht. Die im Projekt eingesetzten Berater verfuegten selbst zwar ueber das erforderliche Wissen, versaeumten es jedoch immer wieder methodische Fragen mit den Betroffenen zu besprechen. Dadurch war es ihnen am Ende nicht moeglich, ihre Vorschlaege verstaendlich zu machen.

Die Vorschlaege sahen ein Delegieren von Kompetenzen in kleinere Einheiten und Teams vor. Es war klar, dass dies einen Verlust an Einfluss im mittleren Management nach sich ziehen musste, was dort verstaendlicherweise Widerstand hervorrief. Die Berater versaeumten es, das Topmanagement daran zu hindern, den andauernden Argumenten des mittleren Managements, warum im eigenen Unternehmen alles in Ordnung oder anders sei, nachzugeben.

Der fuenfte Grund fuer das Scheitern war eine unternehmensintern falsch gefuehrte Diskussion ueber "Gewinner" und "Verlierer". Erfahrungen erfolgreicher Projekte zeigen, dass "Verlierer" nicht diejenigen sind, deren Position durch das Konzept verlorengeht, sondern diejenigen, die dessen Einfuehrung zu sehr aufhalten und stoeren. Die Bedeutung dieses Themas wurde von den Beratern nicht erkannt, so dass auch keine Gegenmassnahmen ergriffen wurden. Schliesslich wurden auch die Aspekte der Informationsverarbeitung vernachlaessigt. Das

Unternehmen setzte zum Zeitpunkt des Projekts SAP R/2 und verschiedene andere Systeme ein. (Tabelle 2).

Die in das Projekt involvierte DV-Abteilung ging davon aus, dass softwareseitig auch die neue Auftragsabwicklung mit R/2 und den uebrigen bestehenden Systemen abgedeckt werden koennte. Allerdings hatten DV-Mitarbeiter in den vorhergehenden Jahren einen ungeheuren Aufwand in mehr als 1500 unternehmensindividuelle Modifikationen des SAP-Systems, in Eigenentwicklungen und zahlreiche Schnittstellen eingebracht. Dafuer konnten die Berater zwar nicht verantwortlich gemacht werden, da sie die Situation jedoch nicht hinreichend analysiert hatten, machten sie in der Abschlusspraesentation diesbezueglich falsche Aussagen, so dass nach entsprechender Richtigstellung durch den DV-Leiter die Glaubwuerdigkeit des Gesamtkonzepts litt.

Fazit: Die Gruende fuer das Scheitern des Re-Engineering-Projekts sind in erster Linie den Managern und Fuehrungskraeften des Unternehmens anzulasten. Doch trifft auch die Berater eine erhebliche Mitschuld, weil sie Probleme, die sie nicht verursacht hatten, zwar erkannten, mit diesen aber falsch umgegangen waren.

Aus der Analyse dieses konkreten Beispiels lassen sich fuer einen Kunden, der ein Re-Engineering-Projekt bei einem Berater in Auftrag gibt, folgende Empfehlungen ableiten:

- Verpflichten Sie den Berater, Ihnen waehrend des Projektes regelmaessig die moeglichen Gruende fuer ein Scheitern schriftlich und muendlich darzustellen.

- Gleichen Sie Ihre eigene Meinung regelmaessig mit den Erkenntnissen des Beraters ab, und reden Sie mit ihm ueber erforderliche Gegenmassnahmen.