Supercomputer ersetzen den Modellbaukasten:

Vektorrechner machen Moleküle transparent

17.04.1987

OTTOBRUNN - In wissenschaftlichen Bereichen waren Supercomputer schon immer zu Hause - oder zumindest deren Nutzung. Gerade die theoretischen Naturwissenschaften haben einen erheblichen Bedarf an Rechenleistung. Dr. Rüdiger Iffert* sagt, was die Chemiker mit Supercomputern anfangen.

Durch den Supercomputer ist es möglich geworden, chemisch interessante Moleküle und Reaktionen im Computer zu modellieren. In den letzten 40 Jahren sind auf der Quantenmechanik basierende Algorithmen entwickelt worden, mit denen Moleküle und deren Reaktionen im Rechner modelliert werden können. Der theoretische Chemiker unterscheidet Programme, die nur physikalische und mathematische Näherungen beinhalten (sogenannte "Ab-intio"-Verfahren), und Programme, die auch experimentielle Daten bei der Modellierung miteinbeziehen (sogenannte semi-empirische Programme).

Ab-initio-Verfahren nur bei kleinen Molekülen

Durch Variation der Molekülgeometrie und der Elektronenverteilung im Molekül werden iterativ stabile Molekülzustände mit minimaler Energie bestimmt. Aufgrund der hohen Rechenzeit waren Ab-initio-Programme, die quantitative Aussagen liefern, nur auf kleine Moleküle und kaum auf Reaktionen anwendbar. Semi-empirische Programme benötigen sehr viel weniger Rechenzeit und konnten deshalb auf mittelgroße Moleküle und Reaktionen angewendet werden. Ihr Nachteil ist, daß diese Programme nur qualitative Aussagen liefern. In allen Programmen werden sehr viele Matrixoperationen durchgeführt; es liegt daher nahe, sie auch auf Vektorrechnern einzusetzen.

Durch die Supercomputer ist es nun möglich geworden, chemisch interessante Fragestellungen im Rechner zu lösen. Bisher hatte der Chemiker zur theoretischen Vorbereitung seiner experimentiellen Forschung einen Modellbaukasten auf dem Schreibtisch stehen. Daraus bastelte er sich dann Modelle von Molekülen, um sich Reaktionen mit diesen Molekülen optisch und plastisch zu veranschaulichen.

Vor der Synthese einer chemischen Verbindung kann man nun mit Hilfe der Supercomputer ein neues Molekül im Rechner simulieren und seine Eigenschaften in der Gasphase bestimmen. So kann schon vor dem Experiment eine Vorauswahl getroffen werden, bei welchen Verbindungen bestimmte und gewünschte Eigenschaften erwartet werden können. Dieses erspart die bisher noch in der chemischen Industrie übliche Praxis, eine Vielzahl von Molekülen im Try-and-Error-Verfahren zu untersuchen .

Mächtiges Werkzeug für theoretische Chemiker

Weiterhin hat der Chemiker ein neues und mächtiges Werkzeug in der Hand, mit dem er Reaktionsmechanismen aufklären kann. In gewissen Fällen ist die theoretische Rechnung Voraussetzung für die Interpretation von experimentiellen Ergebnissen wie Spektren. Die Vorteile einer solchen Vorgehensweise liegen auf der Hand: Einsparung von Laborkosten, schnellere Ergebnisse und weniger Belastung der Umwelt.

Um dieses neue Werkzeug sinnvoll nutzen zu können, benötigt man sehr schnelle Vektorrechner, die als sogenannte "Number-Cruncher" fungieren, und leistungsfähige Grafiksoftware auf einer Workstation, um die Ergebnisse sichtbar zu machen. So ist es möglich, mit genauesten Rechnungen, sogenannten Ab-initio-CI-Rechnungen, Moleküle mit 10 Atomen und mit Ab-initio-SCF-Rechnungen Moleküle mit 50 Atomen auf einem Vektorrechner zu simulieren. Mit semi-empirischen SCF-Verfahren sind 500 Atome und mit der auf klassischer Mechanik basierenden Molekülmechanik bis 5000 Atome in einem Molekül berechenbar.

Dynamische Vorgänge

In der Pharma-Industrie können Konformationen (energetisch günstige räumliche Anordnungen der Atome im Molekül) von Enzymen oder Wirkstoffen berechnet werden, und anschließend kann aufgrund ihrer äußeren Gestalt die Wechselwirkung an einem Grafìkterminal untersucht werden. Ein weiterer Schritt auf diesem Weg ist die Computeranimation der berechneten Moleküldaten. Dadurch werden dynamische Vorgänge, wie zum Beispiel eine chemische Reaktion, auf molekularer Ebene darstellbar.

*Dr. Rüdiger Iffert ist Systemanalytiker für Vektorrechneranwendungen in der Chemie bei der Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft mbH, Ottobrunn.