Unternehmer haben wieder freie Auswahl

25.10.2001
Von 
Ingrid Weidner arbeitet als freie Journalistin in München.
Personalchefs können sich freuen: Qualifizierte Bewerber stehen wieder Schlange. Sie müssen nicht mehr um junge Talente werben, sie kommen von selbst - oft, weil ihr früherer Arbeitgeber entlassen musste oder sein Geschäft aufgegeben hat.

„Ich fühle mich wie ein Wellensittich, der alle Federn verloren hat“, beschreibt Frank Antwerpes, Gründer und Ge

  

Frank Antwerpes

 

schäftsführer der Antwerpes AG aus Köln, seinen momentanen Gemütszustand und trifft damit die Stimmung vieler Gründer in der Internet-Szene. Die jungen Unternehmen haben oft eine unsanfte Landung auf dem Boden der wirtschaftlichen Tatsachen hinter sich. „Kunden rufen nicht mehr an und fragen, ob wir Zeit haben, eine Website für sie zu bauen“, erläutert Antwerpes konsterniert. Jetzt müsse vielmehr seine Vertriebsmannschaft die Initiative ergreifen.

In der Diskussionsrunde „New Economy – wo gibt es noch Chancen?“ des Karriere-Zentrums der COMPUTERWOCHE auf der IT-Messe Systems in München gehörten Realismus und Ernüchterung zu den gern verwendeten Vokabeln bei der Beschreibung der Branchenbe-findlichkeit. „Obst gibt es noch“, aber ansonsten hat sich auch Ina-Maria Fliegen, Personalchefin der Düsseldorfer Agentur Planetinteractive GmbH, von der „Wir-machen-alles-anders-Mentalität“ verabschiedet und die New-Economy-Fahne eingerollt. „Wir würden nicht mehr mit dem New-Economy-Hype werben.“ Stattdessen lautet die neue Losung der Personalerin „Back to Basics“.

Vorsichtige Gehaltswünsche

Gefragt sind wieder solide Qualifikationen, etwa in Form eines Studienabschlusses und reichlicher Berufserfahrung. Die idealen Mitarbeiter sollten in der Lage sein, rasch umzudenken, flexibel zu sein, selbst Prioritäten zu setzen und Zeit- und Selbst-Management zu beherrschen. Vor einem Jahr warben viele IT-Firmen noch mit Slogans wie „Wir nehmen jeden und bilden ihn selbst weiter“,

  

Ina-Maria Fliegen

 

heute soll sich wieder der perfekt ausgebildete Mitarbeiter mit Berufserfahrung bewerben. Die kritische Stimmung am IT-Arbeitsmarkt macht sich in den Vorstellungsgesprächen und Gehaltsverhandlungen bemerkbar. „Die Bewerber sind bezüglich ihrer Gehaltswünsche vorsichtiger geworden als vor einem Jahr“, so Fliegen.

Zwar waren sich die Diskussionsteilnehmer einig, dass es nicht ohne Weiterbildung geht, doch teure Kurse sind heute tabu. „Ein dreitägiges Seminar für 10 000 Mark ist nicht mehr drin“, gibt die Personalerin Fliegen unumwunden zu und ergänzt: „Wir müssen uns überlegen, wie wir es besser und intelligenter machen können.“ Dazu gehören für sie die billige Variante „Lernen am Projekt“ und interne Weiterbildung. Andreas Franz, Vice President Marketing bei Reddot Solutions in Oldenburg, sieht die Möglichkeiten für Weiterbildungswünsche der Mitarbeiter ähnlich. „Wir angagieren Mitarbeiter, die die Qualifikation schon mitbringen.“

Einstellungspolitik hat sich gewandelt

„Heute stellt niemand mehr Arbeitskräfte auf Vorrat ein“, beobachtet Wilhelm Hölzer von der Gewerkschaft Verdi. „An den Hotlines und dem technischen Support wird gespart.“ Für den neuen Sun-Chef in Deutschland, Helmut Wilke, waren die 500 Neueinstellungen im letzten Jahr zu viel für das Unternehmen, wie er am Rand der Systems erklärte. In den nächsten Monaten möchte er zirka 140 Mitarbeiter entlassen, was einer Quote von etwa 7,5 Prozent der Belegschaft entspricht. Wilke führt das deutsche Tochterunternehmen des Server-Herstellers seit vier Monaten.

Die Einstellungsmentalität der Firmen hat sich gewandelt. Zwar suchen auch heute noch viele Unternehmen neue Mitarbeiter, allerdings sollten die Bewerber in vielen Fällen ein abgeschlossenes Studium und solide Berufserfahrung mitbringen. Nach Meinung von Friedrich Vogel von der Personalberatung Selecteam in Taufkirchen bei München, hat sich der IT-Arbeitsmarkt vor allem in den Ballungsgebieten verändert. „Ich habe Schwierigkeiten, Mitarbeiter in Gegenden wie den bayerischen Wald, ins Allgäu und nach Regensburg zu vermitteln, obwohl es dort freie Stellen gibt, und Mittelständler auch Kompromisse beim Alter der Bewerber machen.“ Dagegen rangeln Bewerber um die ausgeschriebenen Stellen in München, Frankfurt am Main und Stuttgart.

„Die Firmen haben unter der schnellen Entwicklung gelitten“, berichtet Eugenia Zülsdorf, Personalberaterin bei der Niccon Consulting GmbH in München. Deshalb seien sie gerade in kritischen Phasen gefordert, gesunde Strukturen zu installieren. Dazu gehören nach Meinung der Personalerin bessere Kommunikationsstrukturen und Entwicklungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter.

Personalplanung für zwei Monate

Eine wichtige Rolle spielt das Recruiting selbst. „Wir mussten lernen, dass Leute nicht in den Job passen“, räumt Antwerpes Schwächen bei der eigenen Mitarbeiterplanung ein. Die Münchner Agentur „Die Argonauten“ zog aus dieser Einsicht die Konsequenz, mehr auf das vorhandene Personal zu vertrauen. „Wir schauen uns die Potenziale

  

Theo Grassl

 

unserer Leute genauer an und wir geben nicht mehr so viel Geld für das Recruitment aus“, erklärt Personalchef Theo Grassl. Für Neueinstellungen fehlt gerade in Internet-Startups das Geld.

Nach der Pleite von Kabel New Media und massiven Entlassungen bei anderen, kann von einer gezielten und langfristigen Personalplanung keine Rede mehr sein. Oft können die Agenturen Projekte kurzfristig an Land ziehen, aber genauso schnell platzt ein Auftrag. „Wir können für unsere Mitarbeiter maximal zwei Monate voraus planen,“ erklärt Antwerpes und fügt hinzu: „Mitarbeiter in einem Dienstleistungsunternehmen sollte das nicht überraschen, denn die Planwirtschaft bei der Bedarfsplanung ist uns noch nicht gelungen.“ Sein Kollege von den Argonauten stimmte ihm zu: „Es ist schwer, das Business vorherzusagen und die internen Ressourcen zu planen.“ Gewinnen die Argonauten eine Ausschreibung und fehlen Personalchef Grassl die nötigen Projektmitarbeiter, dann versucht er zunächst, aus anderen Niederlassungen Leute hinzuzuziehen.

Die von Agenturen umworbenen Kreativen lassen sich mit mit langfristige Berufsperspektiven nicht locken. Dort planen die Angestellten die eigene Karriere höchstens in Zweijahresschritten, meint Antwerpes. „Eine Agentur engagiert solche Leute nicht für ewig.“ Allerdings spricht Antwerpes im gleichen Atemzug über die erwartete Loyalität seiner Mitarbeiter. „Wenn ich einen Lebenslauf bekomme, bei dem der Bewerber jedes halbe Jahr gewechselt hat, dann lade ich ihn nicht ein“, erklärt er kategorisch. Den künftigen Mitarbeitern eine Perspektive zu bieten heißt für den Firmenchef, sie nach Möglichkeit nicht wieder in der Probezeit zu entlassen.

"Die Flaschen trifft es am ehesten"

Auf dem Jobs & Karriere-Forum fanden die Diskutanten in der entsprechenden Gesprächsrunde deutliche Worte. „Die Mitarbeiter werden ausgetauscht“, gehörte noch zu den vornehmeren Aussagen. Unmissverständlich meldete sich dagegen der bayerische Staatsminister Erwin Huber (CSU) zu Wort: „Die Flaschen trifft es am ehesten.“ Für Wolfgang Müller von der IG Metall in München spiegelt sich in solchen Aussagen die Wildwestmentalität in der IT-Szene wider: „Die Branche geht beschämend mit den Menschen um“, so der IG-Metall-Mann.

Da das europäische Sozialgefüge und die starke Position der Gewerkschaften willkürlichen Entlassungen einen formalen Riegel vorschieben, Mitspracherecht und einen ausgewogenen Sozialplan fordern, greifen einige Unternehmen zu anderen Mitteln, um Hire-and-Fire-Praktiken durch die Hintertür einzuführen. Dazu gehören nach Meinung von IG-Metaller Müller beispielsweise „Low-Performer-Programme“. Leistungsschwache Mitarbeiter werden nach bestimmten Kriterien auf die Abschussliste gesetzt. Wer nicht freiwillig geht, muss mit Versetzung oder uninteressanten Projekten rechnen. Die ausgeschiedenen Mitarbeiter tauchen in der Statistik nicht als entlassen auf, sondern gehören zur natürlichen Fluktuationrate des Unternehmens.

Infineon nutzte solch perfiden Methoden nicht, sondern entließ seit August einfach 500 Mitarbeiter in der Probezeit in München und Regensburg. Zum Jahresbeginn suchte das börsennotierte Unternehmen noch Fachkräfte im großen Stil und warb Spezialisten mit hohen Kopfgeldern ab, die nun binnen Monaten wieder gehen mussten. Heute gehört der Halbleiterhersteller mit seiner Personal- und Entlassungspolitik zu den schwarzen Schafen in der Branche.

Der Mutterkonzern Siemens steht seiner Tochter mittlerweile in fast nichts nach. Am vergangenen Montag teilte das Unternehmen mit, in der Netzwerksparte ICN nochmals weltweit 5000 Stellen zu streichen, weitere 2000 kommen im Handygeschäft ICM dazu. Betriebsrat Heribert Fieber möchte sich allerdings nicht mit den angekündigten Entlassungen abfinden und führt Verhandlungen mit den Verantwortlichen. Bevor den Mitarbeitern gekündigt wird, sieht Fieber noch Möglichkeiten, die das Unternehmen ausschöpfen könnte. Dazu gehören die gesetzliche Kurzarbeitsregelung, der Beschäftigungssicherungsvertrag mit den Gewerkschaften und das limitierte Time-out-Programm.

Vor allem im Hinblick auf einen möglichen Aufschwung ab Mitte nächsten Jahres hält Fieber Entlassungen für den falschen Weg, da später wieder Mitarbeiter mit Prämien und Kopfgeldern rekrutiert werden müssten. Mit der gezahlten Anwerbeprämie stellten mindestens zwei Infineon-Mitarbeiter ihr Eheglück auf eine harte Probe. Die Ehefrau, eine Finanzexpertin in ungekündigter Position, ließ sich von ihrem Mann zum Wechsel überreden. Leider gehört auch sie zu den in der Probezeit Entlassenen. Frank Antwerpes bleibt zumindest die Hoffnung auf ein neues Federkleid.