Unternehmen planieren ihre IT-Welt mit Standardsoftware SAP-Programme orientieren sich an funktionaler Organisation

13.01.1995

In vielen Unternehmen konzentrieren sich zur Zeit die IT- Aktivitaeten auf die Einfuehrung komplexer Standardsoftwaresysteme. Die Walldorfer SAP AG spielt in diesem Szenario eine ueberragende Rolle - so mancher Kunde fuehlt sich bereits an die IBM in ihren besten Jahren erinnert. Marktdominanz ruft stets auch Kritiker auf den Plan: Kenner der Szene beklagen unter anderem die proprietaere Struktur der 4GL Abap, das zentrale Datenhaltungskonzept, die Komplexitaet der Programme sowie hohe Einfuehrungs- und Betriebskosten. Schwerer noch wiegt jedoch der Einwand, die SAP- Software passe aufgrund ihres nach wie vor modulorientierten, funktionalen Aufbaus nicht mehr in die Zeit. Moderne Standardsoftware habe dem Prozessgedanken staerker Rechnung zu tragen.

Seit Beginn der 90er Jahre fuellen Seminare zum Thema Geschaeftsprozess-Optimierung die Saele der Veranstalter. Von der Abloesung funktionaler Ablauforganisationen und der Neugestaltung geschaeftsrelevanter Prozesse ist spaetestens seit der Veroeffentlichung des Bestsellers "Business Reengineering" von Michael Hammer und James Champy staendig die Rede. Die unmissverstaendliche Botschaft lautet: mehr Kundenorientierung. Als Instrument, mit dem dieses Ziel zu verwirklichen ist, wird die Informationstechnik genannt.

De facto besteht die IT-Infrastruktur heute jedoch in den meisten Unternehmen aus teilweise veralteten Individual- und Standardloesungen, die bestehende funktionale Organisationsformen unterstuetzen. Wollen diese Firmen beispielsweise ein modernes Auftragsabwicklungs- oder Vertriebsinformationssystem realisieren, stehen sie vor grossen Problemen.

Es dauert einfach zu lange, eine Prozessorganisation auf dem Papier zu entwerfen, um dann mit CASE-Tools "from Scratch" eine unterstuetzende DV-Umgebung aufzubauen. Ein solcher Ansatz haette in Zeiten, in denen moeglichst schnelle Reaktionen auf Marktanforderungen wettbewerbskritisch sind, fatale Auswirkungen. Ausserdem sind die Erfahrungen der meisten Firmen mit einem unternehmensweiten Datenmodell, das auf Datenbank- und Anwendungsentwurf heruntergebrochen wird, alles andere als ermutigend.

Thomas Gutzwiller, Wissenschaftler am Institut fuer Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Sankt Gallen, sieht nur zwei Wege aus diesem Dilemma. Anwender koennen auf der Basis bestehender Systeme Prozesse implementieren. Sie investieren moeglichst wenig Aufwand in ihre vorhandenen Systeme und verwenden ihre Energie auf die Nutzung moderner Entwicklungswerkzeuge, mit denen sich kleinere Anwendungen schnell erstellen und in bestehende Systemumgebungen einbinden lassen.

Mit der Herstellung der dazu notwendigen Werkzeuge fuer Schnittstellen-Management, Workflow- und Desktop-Integration beschaeftigt sich zur Zeit eine ganze Industrie - mit besten Erfolgsaussichten. Anwenderunternehmen, die sich fuer diesen Weg entscheiden, erhalten eine relativ chaotische Gesamtarchitektur, die aber durchaus zu rechtfertigen ist, solange sie die Geschaeftsnotwendigkeiten erfuellt.

Die zweite Moeglichkeit, von der im Moment weltweit sehr viele Unternehmen Gebrauch machen, ist der Einsatz parametergesteuerter Standardprogramme - SAP ist der Inbegriff fuer derlei Fertigware. Zu diesen Produkten, meint Gutzwiller, gibt es vor allem fuer grosse Industrie- und Handelsunternehmen kaum Alternativen. Mit der Standardsoftware lasse sich in vergleichsweise kurzer Zeit eine vollstaendig neue IT-Infrastruktur aufbauen, die dem Prozessgedanken durchaus Rechnung trage.

Dennoch mehren sich die Zweifel, ob SAP-Software eine Prozessorganisation tatsaechlich in der Weise unterstuetzt, wie es Wirtschaftstheoretiker fordern. Dass die Stangenware technologisch und von ihrer funktionalen Breite her auf einem hohen Niveau steht, bestreitet ernsthaft niemand. Doch an ihrer Architektur wird moniert, dass sie zwar die Einfuehrung einer prozessorientierten Ablauforganisation ermoegliche, dabei jedoch eher auf eine optimale Nutzung der eigenen Funktionen ausgerichtet sei als auf die Unterstuetzung kundenorientierter Prozesse.

Die SAP hat ihre Produkte, ob es sich nun um die Mainframe- Software R/2 oder deren Client-Server-Nachfolger R/3 handelt, von der Konzeption her seit 20 Jahren nicht grundsaetzlich veraendert. "Es werden Module angeboten, die dem alten Funktionsmodell Rechnung tragen", erlaeuterte Helmut Guembel, Analyst der Gartner Group, anlaesslich einer Konferenz mit dem beziehungsreichen Titel "R/3 - Trojanisches Pferd oder Allheilmittel".

Eine "tayloristische Ausrichtung" der Software sei unverkennbar, sie ergebe sich schon aus der Art und Weise, wie das Produkt angeboten werde. "Die Modulstruktur unterstuetzt zunaechst einmal keine Prozessorganisation." Die Software passe zum "Mind-set der Entscheidungstraeger", die noch immer in "Funktionen" saessen, erlaubte sich der Analyst einen Seitenhieb.

Trotzdem haelt Guembel R/3 fuer einzigartig, weil sich das System im Gegensatz zu konkurrierenden Produkten mit Hilfe eines von der SAP bereitgestellten Prozessmodells an die Beduerfnisse einer prozessorientierten Organisation anpassen lasse - wenn auch nur mit erheblichem Aufwand. Das Prinzip: Prozesse werden modelliert, indem ihnen durch entsprechende Parametrisierung eine Auswahl an Funktionen zugeordnet wird.

Guembel mochte sich jedoch nicht allzu lange mit der heiklen Frage nach der Prozessorientierung von SAP-Software aufhalten; die Gartner Group sei keine Organisationsberatung, lautete seine Begruendung. Ueberhaupt mussten die rund 130 zahlenden Zuhoerer den Eindruck gewinnen, dass der Analyst die SAP-Software laengst als einen De-facto-Standard betrachtet, nach dem Motto: Die Top 100 der deutschen Wirtschaft koennen nicht irren.

So traten auf der Gartner-Veranstaltung Fragen in den Vordergrund wie "Welche aus Kundensicht relevanten Strategien waehlt der Softwarehersteller?", "Wie ist bei der R/3-Einfuehrung sowie beim R/2-Release-Wechsel vorzugehen?" oder "Wie ermittelt man, welche Rechner sich fuer die bevorstehende R/3-Installation am besten eignen?" Besonders schnell war die Frage nach den SAP-Alternativen beantwortet: Laut Gartner gibt es zwar einige Wettbewerber wie Oracle, Peoplesoft oder Baan, doch die SAP muss keines dieser Haeuser derzeit wirklich ernst nehmen.

Die IT-Branche und viele ihrer Kunden sind auf den Shooting-Star aus Walldorf fixiert - das wissen auch die Analysten. IT- Beratungsfirmen unterschiedlichster Ausrichtung erzielen heute einen erklecklichen Teil ihres Umsatzes mit der SAP-Einfuehrung oder -Anpassung. Die wichtigsten Hardwarehersteller profitieren vom Ressourcenhunger der Produkte R/2 und R/3, und immer mehr Softwarehaeuser versuchen, mit Spezialloesungen auf den fahrenden SAP-Zug aufzuspringen.

Ueberraschend kritisch zeigt sich angesichts dieser einseitigen Marktentwicklung die Diebold Deutschland GmbH in Eschborn. In einer Zeit, in der aus Deutschlands Blaetterwald von "Focus" bis "Tango" das Loblied auf die Walldorfer erklingt, meldet Consultant Wolfram Hohaus im "Diebold Management Report" verhalten Zweifel an den Moeglichkeiten der Prozessmodellierung mit SAP-Software und damit an deren betriebswirtschaftlicher Konzeption generell an.

R/3 sei ein modifizierter Ableger des Mainframe-Vorgaengers R/2, der "im Prinzip funktionsorientiert" geblieben sei, heisst es dort. Das sei auch insofern logisch, als SAP zum Zeitpunkt der R/3- Entwicklung noch gar nicht ahnen konnte, dass sich die Geschaeftsprozess-Organisation als neue unternehmerische Philosophie durchsetzen werde. Ausserdem habe das Softwarehaus von Anfang an unter dem Zwang gestanden, seinen R/2-Kunden eine kompatible Down- oder Rightsizing-Alternative zu bieten. Man wollte sich schon deshalb konzeptionell nicht allzuweit von R/2 entfernen.

Natuerlich reagiere die SAP auf den Trend zur Prozessgestaltung, indem sie eigenen Angaben zufolge "Voraussetzungen fuer die strukturelle Funktions- und Prozessmodellierung" schaffe. Doch das klassische Geschaeftsprozess-Modell, das sich - wie von Hammer und Champy beschrieben - an einer optimalen Bedienung der Kunden ausrichte, werde vom SAP-eigenen Prozessmodell keineswegs ideal unterstuetzt. Diesem Anspruch koenne die Software schon deshalb nicht genuegen, weil sie auf branchenuebergreifende Breitenwirkung abziele und dadurch an Komplexitaet gewinne: Von der Schwerindustrie ueber den Handel bis hin zur Behoerdenwelt - ueberall soll R/3 zum Einsatz kommen.

Wer seine Business-Re-Engineering-Lektion ernst nimmt, so ist dem Aufsatz von Hohaus zu entnehmen, muss seine Prozesse zunaechst mit klassischen Vorgehensweisen - also Software-unabhaengig und mit Orientierung am Kundenbedarf - aufnehmen und strukturieren.

Was der Berater nicht sagt: Genau hier krankt es bei vielen Unternehmen. Sie kaufen nicht die teure SAP-Software, um ihre zuvor sorgfaeltig modellierten Prozesse zu unterstuetzen. Sie schaffen R/3 an, um durch den Einsatz einer integrierten Standardsoftware mit ihren immanenten Organisationsprinzipien eine an sich chaotische Ablauforganisation in Form zu bringen.

Fuer die Analyse der Geschaeftsprozesse gibt es verschiedene Werkzeuge. Am bekanntesten sind wohl die Aris-Tools von der IDS Professor Scheer GmbH in Saarbruecken.

Diesen Werkzeugen bringen Branchenkenner allerdings insoweit Skepsis entgegen, als sie sich weitgehend am SAP-eigenen Prozessmodell orientieren und damit die noetige Software- Unabhaengigkeit vermissen lassen. Diese Tools, so meinen Kritiker, verhelfen Kunden zwar zu einer relativ guenstigen Nutzung der R/3- Software, aber nicht zwangslaeufig zu einer idealen Gestaltung ihrer Geschaeftsprozesse.

"Die Aris-Tools", so erklaert ein Insider, "eignen sich eher fuer SAP-Neueinsteiger, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben und erst einmal lernen muessen, in Prozesskategorien zu denken." Andere Anbieter, etwa die Information Management Gesellschaft (IMG) in Sankt Gallen mit "Promet-BPR" oder die CIM-House Dr. Binner & Partner GmbH, Hannover, mit "Sycat", bemuehen sich eher um einen softwareneutralen Ansatz.

Wird im Anschluss an eine solche produktunabhaengige Prozessanalyse eine angemessene Standardsoftware gesucht, so faellt die Entscheidung trotz der Vorbehalte haeufig dennoch fuer SAP-Software, da kaum ein anderes Produkt eine solch breite Funktionalitaet bietet. Nun beginnen die Kompromisse: Prozessketten werden aus den Einzelfunktionen bestimmter Module zusammengesetzt, hochkomplexe Systeme entstehen. Will man beispielsweise einen Vertriebsprozess gestalten, so reicht es nicht aus, ausschliesslich das dafuer vorgesehene Modul zu nutzen. Man benoetigt Einzelfunktionen aus vielen anderen Modulen, etwa dem Controlling, der Finanzbuchhaltung etc.

Hieraus und aus dem branchenuebergreifenden Ansatz der SAP ergibt sich der Nachteil, dass bei der vollstaendigen Abdeckung von nur einigen wenigen Geschaeftsprozessen ein enormer Overhead entsteht. Die Folge: SAP-Anwender setzen die Software aus Gruenden der Economy of scales, aber auch aus organisatorischen Zwaengen in einem Mass ein, das den Ergebnissen der Prozessanalyse eigentlich zuwiderlaeuft.

Letztendlich muss jedes Unternehmen, das SAP-Produkte verwendet, eine Gratwanderung zwischen den beiden folgenden Extremen vornehmen: Entweder es verfolgt seine Software-unabhaengig ausgearbeiteten ablauforganisatorischen Ideen mit dem Ziel einer optimalen Kundenbetreuung und nimmt dabei Overhead und erhoehte Kosten in Kauf, oder es rueckt von der reinen Lehre ab und laesst sich weitgehend auf die organisatorischen Vorgaben der Software ein.

Wie aber muesste Standardsoftware strukturiert sein, die dem Prozessgedanken optimal Rechnung traegt? Diebold-Berater Hohaus hat eine Vision: Man koenne die Primaer- und Sekundaerprozesse einzelner Industrien analysieren und werde dabei mit Sicherheit auf eine Vielzahl identischer Ablaeufe stossen. Wenn genuegend Unternehmen bestimmte Aehnlichkeiten in einem Geschaeftsprozess aufwiesen, lohne es sich, eine leicht individualisierbare Software fuer diese Zielgrupe zu entwickeln.

SAP sei auf ihre Weise nicht anders vorgegangen, habe dabei allerdings einen funktionalen Ansatz verfolgt und gefragt: "Was ist eigentlich identisch an den Einkaeufen verschiedener Industrien?" Die Deckungsgleichheit habe man genutzt, indem man daraus Standardsoftware gemacht habe.

Gartner-Analyst Guembel haelt die Idee, industriespezifische Prozessketten zu vermarkten, ebenfalls fuer interessant. Er sieht allerdings Schwierigkeiten bezueglich der Durchsetzbarkeit im Markt. Solange kein Grossunternehmen dieses Konzept mit entsprechender Power verfolge, werde daraus wohl nichts. Die SAP habe die Latte zu hoch gehaengt, sie sei in puncto Funktionalitaet und internationaler Ausrichtung ueberlegen und habe sich - was entscheidend sei - fruehzeitig die Unterstuetzung der wichtigsten Beratungshaeuser gesichert. Diese boeten zwar auch Dienstleistungen fuer die Produkte anderer Hersteller an, die meisten Ressourcen wuerden jedoch fuer das florierende SAP-Geschaeft aufgewendet.

Fuer mittelstaendische Unternehmen liegt nach Meinung von Branchenkennern die Zukunft im Einsatz preiswerter, hochindividualisierter Loesungen, die sie mit entsprechenden 4GL- und objektorientierten Werkzeugen in eigener Regie oder mit Unterstuetzung spezialisierter Softwareschmieden erstellen. Schon heute gibt es Softwarehaeuser, die in der Lage sind, sehr schnell passgenaue Loesungen - etwa fuer den Auftragsbearbeitungs-Prozess oder den Vertrieb - anzubieten.