Unternehmen müssen auf veränderte Marktstrukturen reagieren

Unternehmen müssen auf veränderte Marktstrukturen reagieren Dynamic Trade: Neuer Schwung für alte Geschäfte

19.02.1999
AMSTERDAM (wt) - Der Internet-Handel ist über das Stadium von bloßem Marketing und ersten Verkaufsexperimenten hinaus. Wer den Anschluß nicht verpassen und vor allen Dingen Geld verdienen will, muß sein Unternehmen fit machen für die Herausforderungen einer dynamischen Marktlandschaft.

Das Marktforschungsunternehmen Forrester Research geht, vorsichtig geschätzt, davon aus, daß bereits im Jahr 2002 Waren und Dienste im Wert von über 350 Milliarden Dollar auf elektronischem Weg verkauft werden - im Verhältnis zu etwa 20 Milliarden Dollar im letzten Jahr. Durch voranschreitende Vernetzung und steigende Kundenansprüche wird das Internet zu einem Vertriebsweg, in dem Service und Schnelligkeit in jeder Beziehung dominieren. Auf einer zweitägigen Konferenz in Amsterdam legte Forrester vor über 350 Entscheidungsträgern das Modell von "Dynamic Trade" dar. In diesem Begriff spiegeln sich nach Überzeugung der Analysten die Auswirkungen und Anforderungen, mit denen Unternehmen in den nächsten Jahren des Online-Zeitalters rechnen müssen.

Erste Web-Versuche erweiterten den traditionellen Handel um einen leichten Zugriff auf Produktinformationen, 24-Stunden- Einkaufszeiten und Kundendienste wie Zugriff auf den eigenen Bestellstatus. Dynamic Trade geht darüber weit hinaus: Er ermöglicht Unternehmen, individuelle Kundenbedürfnisse möglichst sofort mit maßgeschneiderten Produkt- und Service-Angeboten zu befriedigen, schnell auf Marktänderungen zu reagieren sowie über den bloßen Verkauf hinaus den Wert einer Geschäftsbeziehung auf lange Sicht zu steigern. Kernelemente sind Service, Just-in-time- Produktion sowie flexible Preisgestaltung (siehe Grafik). Und davon sind keineswegs nur die Beziehungen zwischen Anbieter und Endkunde betroffen.

Serviceleistungen werden im Online-Handel zu einem Wettbewerbsfaktor, der das eigentliche Produkt an Bedeutung übertrifft. Wer seinen Kunden aktuelle Dienstleistungen beispielsweise in Form einfach gestalteter persönlicher Einstiegsseiten mit neuesten Bestelldaten, Produktinformationen, Sonderangeboten, Lieferpräferenzen und Treueleistungen bietet, bindet die Klientel an sein Unternehmen. Perfekte Betreuung durch Online-Hilfe und Call-Center darf natürlich nicht fehlen. Weiterhin müssen Transaktionen sicher und einfach gestaltet werden. Hat ein Web-Auftritt diese Qualität erreicht, die Forrester mit dem Modell "Transactive Content" umschreibt (siehe CW 48/97, Seite 23, und CW 26/98, Seite 9), dann darf ein Unternehmen Kunden nicht durch lange Lieferzeiten und inflexible Produktgestaltung vergraulen.

Gut informierte Internet-Nutzer erwarten zu Recht, daß auf ihre Bedürfnisse schneller reagiert wird als in anderen Vertriebskanälen üblich. Unternehmen müssen gemeinsam mit ihren Partnern Produktionsbedingungen schaffen, unter denen sie möglichst innerhalb von Stunden oder Tagen auf individuelle Kundenwünsche eingehen können. Auch sollte die Preisgestaltung im günstigsten Fall der jeweiligen Nachfrage angepaßt werden. Mehr Kauflust sowie geringere Lagerkosten entschädigen dann für den erforderlichen Aufwand. Und der ist zweifellos enorm, da beinahe alle Geschäftsprozesse einschließlich der damit verbundenen Technologien angepaßt werden müssen.

Das A und O im dynamischen Handel ist laut Forrester-Analyst Bobby Cameron Flexibilität. Sowohl die - auch vertraglichen - Beziehungen zu den Partnern als auch die interne Organisations- und IT-Infrastruktur sollten so gestaltet werden, daß jederzeit Reaktionen auf veränderte Marktbedingungen möglich sind.

Cameron glaubt beispielsweise, daß herkömmliche ERP-Systeme wie SAP R/3 ständig modifizierten Prozessen nicht gewachsen sind (siehe Kasten Seite 23: "ERP - Zukunftsthema oder altes Eisen?"). Ted Schadler, Director Software Strategies bei Forrester, propagiert folgerichtig eine neue integrierte IT-Infrastruktur, in der unterschiedliche Kanäle wie Call-Center und Sprachsysteme, Front-Office und Back-Office eng miteinander verflochten werden. Anwendungen müßten zudem in Echtzeit neu konfiguriert werden können. Über allem aber steht laut Cameron die Integration aller Anwendungen. Sie erfordert schon innerhalb einer Unternehmensabteilung große Investitionen in Middleware. Der Forrester-Experte geht von etwa zehn Prozent des IT-Jahresbudgets aus. Cameron meint hier allerdings keine konventionellen Systeme, sondern eine neue Middleware-Generation - die sogenannte Komponentenplattform, mit deren Hilfe unterschiedliche Anwendungen auf einfache Weise zusammenarbeiten könnten. Wichtige Anbieter seien Microsoft, IBM, Oracle sowie Bea Systems.

Die Grenzen klassischer Middleware wie IBM-Cics, Corba oder COM sieht Cameron bereits erreicht. Diese Systeme seien viel zu inflexibel, wenn man als Anbieter auf Internet-Anfragen oder - Aufträge möglichst schnell reagieren oder Partnerunternehmen in das E-Business integrieren wolle. Cameron setzt hier auf sogenannte Message-Hubs. Diese könnten beispielsweise zentral eine im Call-Center eingegangene Adreßänderung sofort an alle relevanten Anwendungen im Unternehmen weiterreichen. Forrester arbeitet gerade an einer Bewertung existierender Anbieter, darunter Active Software, Frontec, Neon Software, STC, Talarian, Tibco und Vitria.

Wenn es schließlich um den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen hinweg geht, gibt es für Cameron nur eine Lösung: XML, die Extensible Markup Language. Forrester hält XML für den zukünftigen Standard zum Datenaustausch schlechthin. Mit Hilfe von XML lassen sich vorhandene Datenbankinformationen in ein universelles Web-Format übertragen. Der Standard fungiert dabei quasi als Schnittstelle zu beliebigen Datenformaten. Überzeugend sei vor allem die individuelle Erweiterbarkeit der Sprache bei gleichzeitiger Beibehaltung eines gemeinsamen, allgemeinverständlichen Nenners. Für XML spricht laut Analyst Cameron auch, daß ausnahmslos alle Softwarehersteller den Standard akzeptiert haben und an entsprechenden Produktlösungen arbeiten.

Beispiele für dynamischen Handel gibt es schon heute: Online- Auktionen wie QXL oder Onsale, Business-to-Business-Dienste wie Freemarkets Online, wo Anfrager und Anbieter die Auftragsvergabe im Web abwickeln, oder auch spezialisierte Angebote wie Equos. Durch Internet-Tools bietet Equos Nahrungsmittelherstellern die Möglichkeit, zusammen mit ihren Zulieferern die Lieferkette so flexibel zu gestalten, daß beispielsweise ein Supermarkt bei schwacher Nachfrage nach einem Produkt seinen Bestand an einen anderen Markt weiterreicht, in dem ein erhöhter Bedarf ausgemacht wurde.

Waverley Deutsch, Direktorin bei Forrester, gibt Unternehmen in Europa etwa 18 bis 24 Monate Zeit, um ihre Systeme auf Dynamic Trade vorzubereiten, und glaubt, daß dieses Modell spätestens in zwei bis fünf Jahren voll greifen wird. Nach Ansicht ihres Kollegen Cliff Condon sollten sich wegen des starken Wettbewerbsdrucks insbesondere Fluggesellschaften, Telekommunikationsfirmen, High-Tech-Hersteller, Finanzdienstleister und Logistikunternehmen warm anziehen beziehungsweise Service und Schnelligkeit in den Mittelpunkt ihrer Vertriebsstrategie stellen. Deutsch verhehlt ihrerseits nicht, daß der hohe Entscheidungsdruck, dem Unternehmen durch die Umwälzungen des Internet ausgesetzt sind, Gefahren birgt. Beispielsweise könnte ein IT-Manager gezwungen sein, eine junge Technologie einzukaufen, die sich im nachhinein als die falsche herausstellt. Helfen kann hier nur eine gründliche Vorbereitung unter Beteiligung aller Partner innerhalb wie außerhalb der Firma sowie die Einbindung externer Berater.