"Unser Prozess laeuft auf null Zeilen Code hinaus"

25.08.1995

Eine Betriebssystem-Revolution wollten IBM und Apple herbeifuehren, als sie sich 1992 zum Taligent-Joint-venture zusammenschlossen. Mit diesen Plaenen hat das jetzt ausgelieferte "Common Point" nur noch wenig zu tun. Taligent-Chef Joseph Guglielmi sieht darin vor allem einen Baukasten fuer moderne Anwendungen.

CW: Seit dem 28. Juli liefert die IBM Taligents komponentenbasiertes Anwendungssystem an die Endkunden aus. Laesst sich schon etwas ueber die Akzeptanz sagen?

Guglielmi: Nicht, soweit es die kommerzielle Seite betrifft. Aber das Feedback von den Testanwendern war sehr positiv - insbesondere wegen der breiten Funktionalitaet. Wir haben weitaus mehr wiederverwendbare Teile anzubieten als unsere Mitbewerber.

CW: Sie meinen vor allem Next.

Guglielmi: Ja. Next hat sich auf die niedrig haengenden Fruechte konzentriert, auf Tools fuer grafische Interfaces, auf den Datenzugriff und auf verteilte Objekte. Ich meine das gar nicht negativ, das ist sicher erst einmal das Wichtigste. Aber waehrend wir vieles von dem, das Next entwickeln will, bereits durch ein Framework abdecken, muessen die es erst einmal selbst schreiben - in Objective C.

CW: Taligent hat sich hingegen entschieden, sein Produkt in C++ zu entwickeln. Boese Zungen behaupten, mittlerweile brauche der Compiler fuer jede Aenderung laenger als eine Nacht.

Guglielmi: Hier hat Objective C tatsaechlich noch einen Vorteil. Als wir mit der Entwicklung anfingen, mussten wir die vorhandenen Werkzeuge nutzen, unter AIX war das eben ein Batch-Compiler. Aber wir haben Geld und Arbeit investiert, um inkrementelle Kompilierfaehigkeit zu entwickeln. Und wir werden diese Funktionen in der ersten Haelfte des kommenden Jahres auch ausliefern - zusammen mit unserem Produkt CP Professional. Damit laesst sich dann eine Zeile aus hunderttausend Lines of Code innerhalb von Sekunden aendern - ein Vorgang, der heute mindestens eine Stunde in Anspruch nimmt.

CW: Einer Ihrer Investoren, die IBM, hat vor ein paar Jahren unter der Bezeichnung AD/Cycle einen voellig anderen Entwicklungsansatz propagiert...

Guglielmi: Dieses Projekt zielte darauf ab, Millionen von Codezeilen schneller zu schreiben. Unser Prozess hingegen laeuft darauf hinaus, null Zeilen Code zu produzieren und statt dessen wiederverwendbare Komponenten zu nutzen.

CW: Nun hat die IBM ihr Konzept den Anwendern aber ziemlich erfolgreich verkauft - auch wenn sie letztendlich damit gescheitert ist.

Guglielmi: Wuerden sie immer noch mit Cobol oder Assembler programmieren, dann kaeme ihnen diese Idee auch sehr attraktiv vor. Und vor vier oder fuenf Jahren war Objekttechnik nur spaerlich vorhanden.

CW: Jetzt wollen Sie diesen Kunden Common Point schmackhaft machen. Das erfordert missionarischen Eifer und Zeit. Wann erwarten Sie, schwarze Zahlen zu schreiben?

Guglielmi: Wir rechnen damit, 1997 unser Produkt in groesserem Umfang verkaufen zu koennen. Im gleichen Jahr werden wir voraussichtlich auch profitabel sein.

CW: Wieviel haben IBM, Apple und HP in Taligent investiert?

Guglielmi: Darueber reden wir nicht oeffentlich.

CW: Urspruenglich waren Sie angetreten, ein objektorientiertes Betriebssystem zu entwickeln. Warum haben Sie diese Idee aufgegeben?

Guglielmi: Wir haben auf unsere Kunden gehoert. Sie sagten uns, es sei eine grossartige Idee, Objektorientierung kommerziell verfuegbar zu machen, aber sie haetten bereits Unix, DOS oder Mac-OS im Einsatz. Deshalb sollten wir die hoeheren Schichten unseres Systems besser auf den heute verfuegbaren Plattformen anbieten.

CW: Next hat dasselbe getan. Wollen Sie die Entwicklung eines objektorientierten Betriebssystems Microsoft ueberlassen?

Guglielmi: Nein, keinesfalls. Wir haben anfangs mit IBM, spaeter mit Apple und HP, an einem Projekt gearbeitet, das wir Microkernel-Design nannten. Dahinter steht die Idee eines schlanken Betriebssystem-Kerns mit externen Server-Objekten. Als wir anfingen, hatte keiner unserer Investoren damit irgendwelche Erfahrungen. Jetzt arbeiten sie alle daran. Wir haben also unsere Technologie an unsere Partner weitergereicht.

Joseph Guglielmi ist CEO der Taligent Inc., Cupertino, Kalifornien. Mit ihm sprach CW-Redakteurin Karin Quack.