Christiane Stenger im Interview

"Unser Gehirn ist neugierig, aber auch faul"

06.12.2014
Von Lisa Hegemann

"Positiven Stress nehmen wir nicht wahr"

In solchen Situationen fühlt man sich häufig gestresst, das empfinden die meisten negativ. Sie schreiben in ihrem Buch aber, es gebe auch positiven Stress.

Stress hat im allgemeinen Sprachgebrauch diese negative Konnotation. Doch was wir als Stress bezeichnen, nennt sich Disstress. Den positiven Stress, den Eustress, nehmen wir gar nicht so wahr. Auch wenn in unserem Körper von der Aktivität her das Gleiche passiert.

Warum merken wir dann nicht, dass es Stress ist?

Wenn wir in allerletzter Minute noch eine Präsentation abschließen müssen, die sehr gut geworden ist, wissen wir: "Es läuft" und nehmen die Situation daher nicht als Stress wahr. Stress ist ein subjektives Empfinden und hat immer damit zu tun, wie wir eine Situation einschätzen.

Kann ich meinen negativen Stress dann nicht einfach positiver sehen?

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Aber allein das Wissen darum, dass wir es in der Hand haben, wie wir Stress wahrnehmen, hilft schon und man kann versuchen, die Situation umzudeuten.

Wie das?

Es gibt zwei Bewusstseinszustände: Wenn ich meine Hand berühre, meine Finger spüre, bin ich im Jetzt. Und dann gibt es noch den Modus der schweifenden Gedanken, der auch als Grundzustand bezeichnet wird. In dem sind wir oft auch, wenn wir im Stress sind. Dann fahren unsere Gedanken Karussell und geben uns das Gefühl "Oh Gott, wenn ich das nicht abgebe, dann werde ich entlassen" oder "Der Kunde bucht mich nie wieder". Da hilft es immer, sich ins Hier und Jetzt zu rufen, kurz durchzuatmen und sich zu fragen: Was muss jetzt wirklich getan werden? Dadurch kann ich der negativen Spirale entfliehen.

Aber wäre es nicht sinnvoller, die Spirale schon vorher zu stoppen oder gar nicht erst hineinzugeraten?

Klar. Das war ein Beispiel für die akute Stresssituation. Präventiv würde vielleicht ein Meditationskurs helfen. Das habe ich mal gemacht.

Sie empfehlen im Buch nicht nur Meditation, sondern auch die Ursachen für den Stress zu erforschen. Was sind denn die typischen Gründe?

Meistens hat man nicht früh genug angefangen oder Informationen zu spät bekommen und fühlt sich zunächst überfordert. Da darf man sich dann nicht vom Stresskarussell davon tragen lassen, sondern muss überlegen: Was kann ich jetzt tun, um diese Situation bestmöglich zu Ende zu bringen, ohne total durchzudrehen?

Aber ich muss ja erstmal merken, dass ich gestresst bin.

Das stimmt. Das wird nicht sofort klappen, das muss ich lernen. Aber wenn ich anfange, in stressigen Situationen auf meine Reaktionen zu achten, kann ich aufkommenden Stress zumindest erkennen und bewusst in den Jetzt-Modus wechseln, indem ich mir vielleicht einen Kaffee hole statt Panik zu schieben. Bewegung hilft auch, Stress abzubauen.

Sie schreiben auch, dass Struktur gegen Stress hilft, zum Beispiel ein Wochenplan. Was, wenn ich meine Ziele in der Woche nicht schaffe?

Man sollte nicht nur die Woche im Blick haben, sondern den ganzen Monat und sich vor allem nicht nur auf den einzelnen Tag konzentrieren. Manchmal nehme ich mir 100 Sachen vor und dann kommen 100 Sachen dazwischen, die ich nicht mehr einplanen kann. Dann habe ich das Gefühl, nichts geschafft zu haben und bin total demotiviert. Deshalb sollte man in größeren Zeiträumen denken. Und ganz wichtig: ausreichend Pufferzeiten einplanen.

"Entweder bin ich kreativ oder nicht - das ist falsch"

Gerade, wenn ich gestresst bin, mangelt es auch mal an der Kreativität. Sie schreiben aber, dass Produktivität auch kreativ macht. Wie das?

Ein Vorurteil über Kreativität ist: Entweder bin ich kreativ oder nicht. Aber das ist falsch. Ich muss produktiv sein, um kreative Ideen zu sammeln. Kein Künstler dieser Welt hat einfach eine Idee. Das passiert durch Arbeit, dadurch, dass ich mich mit etwas beschäftige. Ideen fallen nicht vom Himmel.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich muss mir Inspiration holen. Designer verwenden dafür Bilder. Sie klicken beispielsweise Fotos im Internet durch und schauen, ob sie so zu einer Idee inspiriert werden.

Jetzt sind wir nicht alle Designer …

Nein, aber es geht darum, die eigenen gedanklichen Bahnen zu verlassen und dem Gehirn neuen Input zu geben. Ich kann mir zum Beispiel das Gegenteil von dem vorstellen, was ich erreichen möchte. Oder einfach über neue Wege nachdenken. Wenn ich keine Eier zu Hause habe und Pfannkuchen machen möchte, kann ich mich ja nicht nur fragen: Wo kriege ich jetzt Eier her? Ich kann mich auch fragen: Wie kann ich die Eier ersetzen?

Ist das nicht kompliziert?

Nein. Am Anfang denkt man vielleicht, es wäre viel mehr Aufwand und da müsse man jetzt total viel ändern. Aber im Nachhinein macht es das Arbeitsleben viel leichter.

Frau Stenger, vielen Dank für das Gespräch.

Bibliografie

Christiane Stenger

Lassen Sie Ihr Gehirn nicht unbeaufsichtigt - Gebrauchsanweisung für Ihren Kopf

Campus-Verlag, 17,99 Euro 252 Seiten, ISBN 978-3-593-50012-6

(Quelle: Handelsblatt)