Unix und dezentrale Systeme bestimmen die Bürozukunft

20.12.1991

Vor zehn Jahren sind die ersten Systeme für Bürokommunikation auf den

deutschen Markt gekommen. In der Pionierphase errangen die klassischen

Hersteller von Minicomputern fast ein Marktmonopol Doch die Zeit der

proprietären Bürolösungen geht nun zu Ende. Über die neuen Trends der

neunziger Jahre aus den Bereichen PC- Vernetzung, Unix, Client-Server,

Objektorientierung, Grafikoberflächen und Systemintegration

berichtet Harald B. Karcher*.

Immer noch viel bei BK-Anwendungen

Beim Vergleich der Nutzung neuerer BK-Anwendungen scheinen Dokumentenverwaltung und elektronische Vorgangsbearbeitung immerhin demnächst ein paar Chancen zu haben, einmal realisiert zu werden. Zur Zeit sieht es noch nicht sehr gut damit aus.

Integrierte BK ade

"Die Bürokommunikation ist tot, es lebe die Bürokommunikation", ist der Marktbeobachter versucht, die DV-Marketing-Szene zu kommentieren. Denn die "Definition dessen, was unter BK zu verstehen ist - international spricht man von Office Automation -, ist so unpräzise und fließend, wie es sich Verkäufer nur wünschen können. Also ist BK eigentlich alles, was früher einmal mit Schreiben, Post und Papier zu tun hatte, nur daß es jetzt mit Schreiben, (Tele-)Kommunikation, Papier und Elektronik zu tun hat. Und das bedeutet auch, daß das Büro quasi überall stattfinden kann. Und - um endlich auf den Computer zu kommen - auf jeder Hardwareplatform.

BK ist heute so offen wie die Betriebssystem- und Netzwerkstandards, mittels derer sie sich abwickelt, und so flexibel und modular, wie die standardisierten Hard- und Softwarekomponenten es erlauben, so sie es denn sind. Mit anderen Worten: Die integrierte BK der proprietären Art nach dem Motto "Alles aus einer Hand" ist mausetot, und wer noch vor zwei, drei Jahren einem angeblichen Leidensdruck mit der Anschaffung eines klassischen Bürosystems (Wang und Co.) mit dem teuren Add-on irgendwelchen komplexen Integrationsleistungen entsprochen hat, der hat jetzt seinerseits einen echten Leidensdruck.

Aber auch die PC-Emanzipation (siehe nebenstehenden Bericht von Harald B. Karcher) mit all ihren kommunikationsfördernden Errungenschaften hat Schattenseiten. Wo in den klassischen Systemen Proprietätsbarrieren eine effiziente Kosten-Nutzen-Rechnungfraglich machen, ist es bei den auf PC-Netzen basierenden dezentralen Systemen das Nutzerverhalten. Ein emanzipierter PC-Anwender läßt sich eben sein Kommunikationsverhalten nicht so ohne weiteres diktieren. Am Beispiel der elektronischen Vorgangsbearbeitung (siehe nebenstehende Grafik), in der doch wohl die höchsten Rationalisierungs- und Komforteffekte zu erwarten wären, zeigte sich, daß sie kaum oder gar nicht vorgesehen oder genutzt wird (siehe Artikel auf Seite 29). Die Renner im heutigen Büro sind ganz einfach: Textverarbeitung und Tabellenkalkulation auf dem PC, und was sie zum Renner macht, ist der Fax. Über diesen Erfolgen dieser simplen Anwendungen wurde das Schlagwort von der integrierten BK, so wünschenswert sie ja eigentlich wäre, fast gegenstandslos. bi

Die anfängliche Beschränkung der Bürokommunikation auf herstellerspezifische Minicomputer und Betriebssysteme hatte einen gewaltigen Nachteil: Die darauf basierenden Bürosysteme waren zunächst in sich abgeschlossen, Übergänge zwischen verschiedenen Systemen ließen sich kaum realisieren.

Jeder BK-Hersteller kochte sein eigenes Süppchen, kein Bürokommunikations-System konnte mit einem anderen kommunizieren. Die daraus resultierende Inselbildung widersprach dem eigentlichen Sinn der integrierten Bürokommunikation, über die Grenzen eines engen Rechnernetzes hinaus kommunizieren zu können.

Damit krankte die Büroautomation an einer Startverzögerung, und der potentielle Nutzen aus dem Technikeinsatz konnte sich nicht frei entfalten. Bei Pilotanwendern und Herstellern kam die Phase der Ernüchterung, des Experimentierens und der stillen Weiterentwicklung.

In den Achtziger Jahren trat der PC seinen Siegeszug an. Von einer Heim-, Hobby-, Lern- oder Freak-Maschine hat er sich längst zur professionellen Arbeitsplatzstation entwickelt: Heute sind weltweit wohl über 50 Millionen PCs im Einsatz.

In vernetzten Umgebungen sorgt der PC für neue Dynamik in der Office-Szene: Denn auf PC-Netzen läßt sich neben der professionellen Textverarbeitung immer häufiger ein ganzes Bündel von klassischen Office-Funktionen wie Electronic Mail, Datenbank, Ablage, Kalender, Kalkulation, Grafik, ansatzweise auch Vorgangsbearbeitung, Mitzeichnungsverfahren oder Aktenverfolgung unter firmenweit einheitlichen Benutzeroberflächen realisieren.

Auch ohne teure Mini- und Mainframerechner

Einerseits werden PCs immer stärker in die klassischen Bürokommunikations-Systeme der Minicomputerwelt einbezogen (PC-Integration). Andererseits entstehen auf der Basis leistungsfähiger PC-Netze bereits kleine, aber eigenständige Office-Automation-Systeme, die auch ohne teure Mini- und Mainframe-Rechner alle klassischen Funktionen der Büroautomation realisieren (PC-Emanzipation).

Diese beiden Trends verbreitern die Basis der Bürokommunikation ganz erheblich. Die klassischen Office-Anbieter binden zunehmend PCs und Workstations in ihre Mini- oder Mainframe-Bürosysteme ein. Damit kommen diese typischen Office-Generalanbieter (beispielsweise DEC, HP oder Wang) den Anwendern entgegen, die bereits ein klassisches Bürosystem besitzen und den zunehmenden Bestand an PCs im eigenen Hause nicht unintegriert weiterwuchern lassen wollen.

Einige Bürofunktionen der Klassiker wie die Textverarbeitung werden dabei von Minis und Mainframes auf die eingebundenen PCs verlagert, andere verbleiben auf höheren Ebenen. Das Aufkommen preiswerter und leistungsfähiger PCs und Workstations fördert die Abwärtsverlagerung der Bürofunktionen.

Als ein konkretes Beispiel für die Integration von kleinen PCs in größere Bürosysteme sei All-in-1, Phase II, von Digital Equipment angeführt. In diesem Bürosystem wird die Client-Server-Architektur nach Aussage des Herstellers zur Maxime der weiteren Entwicklung erhoben. Die Integration von Personal Computern wurde dabei durch All-in-1, Desktop for MS-DOS, realisiert. Die Basis der Einbindung ist ein Mail-System mit erweitertem Funktionsumfang. Der Anwender kann an seinem PC damit sowohl typische PC-Applikationen als auch spezifische All-in-1-Anwendungen und -Dienste nutzen.

Am oberen Leistungsende der DOS-PCs entwickeln sich völlig neue eigenständige Bürosysteme auf der Basis von lokalen PC-Netzwerken (Novell, 3Com, Banyan, MS-LAN-Manager etc.) und mehrplatzfähigen, integrierten PC-Anwendungspaketen.

MS-DOS ist zwar nicht die ideale Plattform für kommunizierende Office-Systeme, aber die Weiterentwicklungen über MS-Windows in Richtung OS/2 - zumindest auf der Server-Seite - lassen hoffen. Die strategische Bedeutung von OS/2 sieht Microsoft selbst in einer Reihe von Betriebssystem-Erweiterungen, die als Grundlage für die leistungsfähige Vernetzung von PCs im kleinen lokalen wie im großen, unternehmensweiten Rahmen dienten. Diese Erweiterungen seien am Client-Server-Modell orientiert, das den Gegensatz zu der in der Unix-Welt verbreiteten Host-Terminal-Struktur bilde.

Im einzelnen handelt es sich bei den OS/2-Erweiterungen laut Microsoft um den LAN-Manager für die "optimale Verteilung der Ressourcen" in einem lokalen Netzwerk, den SQL-Server als zentralem Netzwerk-Datenbanksystem und den Comm-Server für die unternehmensweite Vernetzung mit Host-Anbindung.

Ein neuer Ansatz im Entstehen begriffen

Der halbwegs elegante Migrationspfad von das über Windows zu OS/2 könnte PC-basierten Office-Systemen also weiteren Aufwind geben, falls das neue OS/2 bald aus den Startlöchern kommen sollte. Hier entsteht ein neuer Ansatz der Büroautomation aus den Bereichen lokaler und dezentraler Systeme.

Behalten die Minihersteller und BK-Pioniere bei der Einbindung der PCs in ihre klassischen Konzepte (PC-Integration) wenigstens noch etwas Kontrolle über den launischen PC-Markt, so haben sie bei der neuen Bürokommunikation auf reinen PC-Lösungen zum Teil noch gar keine Trümpfe in der Hand. Verwöhnt von vormals fetten Pfründen und vergangenen Erfolgen im Mainframe und Mini-Geschäft fällt es einigen Anbietern noch schwer, sich dem harten Wettbewerb im PC-Bereich zu stellen. Allerdings reagierten seit 1989 schon einige große Office-Anbieter flexibel auf die PC-Emanzipation. Man denke an "Comfoware" von SNI, "Officevision" von IBM, "Newwave Office" von HP, "Ibisys" von Olivetti oder "Notes" von Lotus, um nur wenige Beispiele zu nennen.

Marktbedeutung hat die Benutzeroberfläche MS-Windows spätestens mit der Freigabe der Version 3.0 erlangt, die gleich nach der Einführung im ersten Halbjahr 1990 eine außerordentlich positive Aufnahme bei Händlern und Endanwendern fand. Durch die verbesserte Speicherverwaltung laufen die Applikationen unter Windows 3.0 einerseits merklich schneller - beziehungsweise nicht mehr ganz so langsam - wie in den Vorgängerversionen ab und andererseits läßt sich auf mehrere umfangreiche Programme gleichzeitig zugreifen.

Mit dem Dynamic Data Exchange (DDE) kann der Anwender seine Daten zwischen verschiedenen Anwendungen verknüpfen und mit dem Recorder immer wiederkehrende Aufgaben über verschiedene Windows-Anwendungen hinweg automatisieren.

Da die Optik von Windows 3.0 dem Presentation Manager von OS/2 stark angeglichen wurde, hat der Anwender keinen großen Lernaufwand beim späteren Umstieg auf ein OS/2-Office-System zu absolvieren, falls OS/2 für den Endanwender auf der Client-Seite in Europa doch noch relevant werden sollte.

Mit seinen zahlreichen weiteren Funktionen und den hohen Verkaufszahlen hat Windows 3.0 bereits einen wichtigen Defacto-Standard im Office-Umfeld gesetzt, an dem kaum noch ein klassischer Office-Automation-Anbieter vorbeikommt. So wurden bereits 1990, kurz nach der Vorstellung von Windows 3.0, schon über 250 Anwendungen verschiedener Hersteller unter dem neuen Windows angekündigt, darunter Produkte von Aldus, Gupta, Informix, Hewlett-Packard, Nixdorf und Siemens. Und im November 1991 haben sogar die IBM mit "Officevision/DOS for Windows" und Digital Equipment mit "Open Office" die große Windows-Welt in ihre Office-Automation-Strategie einbezogen, beziehungsweise dies zumindest angekündigt.

In diesem Sinne liefert Microsoft zahlreichen Herstellern eine immer breiter werdende Plattform, auf der innovative Anwendungen und Lösungen aufsetzen können. Doch wenn man sieht, daß Microsoft nicht nur Betriebssysteme, Kommunikationssoftware und grafische Oberflächen, sondern auch schon drei eigene zentrale Endanwendungen, nämlich "Word", "Excel" und "Project", unter Windows 3.0 ausliefert, so scheint sich Microsoft bald selbst zu einem großen Gesamtanbieter im Bereich Office-Automation zu entwickeln.

Hohe Wachstumsraten im PC-LAN-Bereich

Wenn Microsoft der eigenen Palette nämlich neben der neuen elektronischen Post noch eine flexibles Dokumentenablage-System und vor allen Dingen eine kompetente Projektmannschaft für Systemintegration bei großen Endanwendern zufügt, ist eine weitere Firmenentwicklung hin zum Softwaremonopolisten im PC-Office-Umfeld nicht ganz auszuschließen.

Insgesamt stellen integrierte Office-Lösungen auf PC-LAN-Basis natürlich noch einen kleinen Markt dar. In einer Studie vom Juli 1990 kommt allerdings der kalifornische Marktforscher Dataquest zu der Prognose, daß dieses Segment in den nächsten fünf Jahren noch Platz für neue Anbieter und hohe Wachstumsraten bietet.

Doch vorerst bleibt dem Anwender ein kleiner Wermutstropfen bei der neuen PC-Office-Automation mit objektorientierten Oberflächen: Mindestens ein 386er PC mit 4 bis 8 MB Hauptspeicher, VGA-Monitor und einer schnellen 80-MB-Platte ist Voraussetzung für einen Einstieg, selbst wenn es laut Herstellerangabe auch schon mit einem kleineren DV-Equipment geht. Die aufwendige neue Grafiksoftware verbraucht nämlich jede Menge Rechnerressourcen, und wenn sich der Anwender aufgrund langer Antwortzeiten langweilt, kann kein Spaß an der bequemen Bedienung mehr aufkommen - ein Spaß, der sich bei den klassischen, zeichenorientierten BK-Systemen allerdings überhaupt nie einstellte.

Offene und portierbare Systeme wie Unix entspringen der Forderung der Anwender, die sich aus dem Würgegriff der Herstellerabhängigkeit befreien wollen. Auf der rasch wachsenden Basis mehrplatzfähiger Unix-Rechner ist der Einsatz neuer Software für die Büroautomation (wie "Alis" von Applix/mbp, "Q-Office" und "Cliq" von Quadratron oder "Uniplex" von Uniplex) in einer durchaus professionellen Art und Weise möglich. Auch hier beginnt die Entwicklung meist eher am unteren Ende der Rechnerhierarchie, knapp oberhalb der mittleren PC-Ebene, zumal sich ja nicht nur die traditionellen RISC- und Motorola-Unix-Rechner, sondern zunehmend auch die neueren High-end-PCs der 386er und 486er Kategorie als Unix-Hardwarebasis eignen.

Daneben arbeiten einige klassische OA-Hersteller, die ihr System bisher nur auf dem eigen en proprietären Betriebssystem angeboten haben, schon seit Jahren an der Portierung ihrer herstellerspezifischen Office-Software auf Unix. Da dies aber offenbar schwieriger und zeitraubender ist als man ursprünglich dachte, haben sich schon einige dieser Hersteller ersatzweise oder zusätzlich für OEM-Produkte aus dem Lager der reinen Unix-Office-Softwarelieferanten entschieden.

So unterstützt zum Beispiel Digital Equipment auch den Einsatz der Fremdpakete Q-Office, Cliq, Uniplex und Alis auf der hauseigenen VAX-Rechnerplattform. Und ähnlich offene Klänge vernimmt man von der IBM. Zumindest das Münchner AIX-Marketing-Zentrum ist der

englischen Uniplex-Office-Automation-Software auf dem konzerneigenen RISC-System/6000 durchaus positiv gesonnen.

Fast alle klassischen Office-Automation-Anbieter haben in den letzten Jahren ihre proprietären Systeme zumindest teilweise geöffnet, Pfiffige Spezialanbieter und anwendernahe Softwarepartner haben den großen Generalanbietern zur Komplettierung ihrer Gesamtkonzepte verholfen, Newcomer aus dem PC-Bereich konnten die vormals astronomischen Preise drücken, Unix-Anhänger und die Verfechter internationaler Office-Standards verkünden die Öffnung der Systeme, und die langerwartete Verknüpfung von Computer- und ISDN-Systemen bringt noch mehr nützliche Funktionen in die Bürosysteme.

Durchgängige Funktionen vom Großrechner bis zum Laptop

Wirklich gefragt sind indes Systemitegratoren, die Klassisches und Künftiges zu nutzbringenden Gesamtsystemen verschweißen. Sie sollen die vorhandene Bandbreite existierender Rechner und Kommunikationsanlagen sowie bereits vorhandener Software und Anwendungen in Gesamtkonzepte unternehmensweiter Bürosysteme einbeziehen. Integratoren mit Zukunft müssen zudem die durchgängigen Bürofunktionen vom (Großrechner über Minis, Mikros und Workstations bis zum Laptop, vo Abteilungs-LAN bis zur ISDN-Anlage realisieren, am besten firmenweit unter ein und derselben Benutzeroberfläche.