DDR versuchte, mit Eigenentwicklungen den Anschluß zu halten

Unix bietet der DDR-DV die Chance zu einem Neuanfang

20.07.1990

Die DDR war von der EDV-Entwicklung in der westlichen Welt jahrzehntelang abgeschnitten. Dennoch bemühte man sich, so gut es ging Schritt zu halten. Der Autor des folgenden Berichtes war bis zum April 1990 leitend im Zentrum für Forschung und Technologie des EAW in Ost-Berlin tätig, wo er maßgeblich an der Entwicklung eines eigenen Unix-Systems mitwirkte.

Erste Arbeiten zur Implementierung Unix-kompatibler Betriebssysteme auf den in der DDR verfügbaren Großrechnern, Minicomputern und Mikrorechnern wurden bereits ab 1982 im Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse der Akademie der Wissenschaften (ZKI AdW Berlin), im Leitzentrum für Anwendungsforschung (LfA Berlin), im Kombinat Robotron (Dresden), im Zentrum für Forschung und Technologie des Kombinates EAW (ZfT EAW Berlin) sowie an mehreren Hochschulen und Universitäten (Chemnitz, Halle, Leipzig, Ilmenau) durchgeführt.

Ausgangspunkte für diese Arbeiten waren zunächst Teile der frühzeitig allgemein zugänglichen Unix-Version 7, später dann erste BSD-Unix-Bänder. Sie gelangten über verschiedene fachliche Kontakte von Mitarbeitern der genannten Einrichtungen über Umwege (Budapest, Leningrad, Prag) oder direkt aus dem Westen in die DDR.

Neben der mehr oder weniger vollständigen Untersuchung um Analyse der Betriebssystems-Kerne dieser Unix-Versionen entstanden dabei vor allem neue C-Compiler für die in der DDR verfügbaren Rechner und natürlich hardwarespezifische Assembler-Anpassungsmodule.

Diese frühen Unix-Arbeiten führten 1984 fast gleichzeitig an mehreren Stellen in der DDR zu Prototypen, die zwar zunächst noch eine Fülle von Softwarefehlern enthielten, es aber immerhin gestatten sollten, vom eigenen Unix ("reverse-engineered") zu sprechen.

Bei der weiteren Verbreitung der Grundkonzepte des Betriebssystems im Gebiet der DDR spielte dann in den Jahren 1985 bis 1989 ein Mikrorechnersystem mit dem Namen P8000 aus dem EAW/Berlin eine besonders wichtige Rolle. Dieses Auftischgerät (16-Bit-Mikroprozessor, Taktrate 4 Megahertz, 1 MB Hauptspeicher, 5?-Zoll-Hard-Disk mit 40 MB, 5?-Zoll-Floppy-Disk mit 720 KB, 8 x V.24/RS232) fand bis zur "Wende" in der DDR im Herbst 1989 reißenden Absatz.

Die Projektchronologie dieses einzigen dedizierten Unix-Systems, das in der DDR (ja im Ostblock überhaupt) je gebaut wurde, geht von ersten Prototypen im Jahre 1984 über eine Nullserie im Jahre 1985 bis zur Serienproduktion in den Jahren 1986 bis 1989. Im Mai 1990, zirka zwei Monate vor dem Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik, stellten die Verantwortlichen die Produktion des P8000 schließlich ein Insgesamt wurden 5000 Exemplare installiert, eine für ostdeutsche Verhältnisse sehr große Verbreitung.

Die von anderen Unix-Anbietern in der DDR (Robotron, LfA, Hochschulen ...) vertriebenen Unix kompatiblen Betriebssystem-Implementierungen fallen zahlenmäßig kaum ins Gewicht. Von westlichen Unix-Anbietern hat einzig SCO Xenix auf importierten AT-kompatiblen Personalcomputern eine gewisse Verbreitung erfahren. Andere Unix-Installationen sind punktuelle Einzelfälle - natürlich vor allem auch wegen strenger westlicher Lieferbeschränkungen im Unix-Bereich.

Bisherige Investitionen sichern und ausbauen

Was sind nun die Ergebnisse der Unix-Arbeiten in der DDR, auf denen in der Zukunft aufgebaut werden kann?

- Hardware: Es ist in der Vergangenheit trotz der sehr schwierigen Bedingungen gelungen, eine große Anzahl Unix-kompatibler Rechnersysteme - verteilt auf das gesamte Gebiet der DDR - zu installieren. Diese Systeme werden zwar in der Regel zur Zeit noch genutzt, Ersatzinstallationen mit zeitgemäßer Rechenleistung stehen aber sicher bald auf der Tagesordnung.

- Software: An mehreren Stellen in der Industrie, in Verwaltungseinrichtungen, im Handel sowie in Forschung und Lehre wurden hervorragende Applikationslösungen auf Unix-Basis entwickelt und eingeführt. Diese Arbeiten sind allerdings fast ausschließlich individuell programmierte Einzellösungen, der en Mehrfachnutzung kaum möglich sein wird.

- Fachleute: Es hat sich in der DDR eine größere Anzahl qualifizierter Spezialisten für Unix und die zugehörigen Standard-Tools entwickelt.

Wenn von diesen drei wichtigsten Ergebnissen der bisherigen Entwicklung ausgegangen wird, ist klar, daß es heute unter den neuen Bedingungen besonders darauf ankommen wird die vorhandene Unix-Infrastruktur in der DDR zu nutzen um die bisherigen Investitionen der Anwender in Unix zu sichern und auszubauen.

Für Hardwarehersteller, Systemhäuser und Anwender in der DDR werden künftig vier Aspekte von besonderer Bedeutung sein:

1. Die in der Mangelwirtschaft der Vergangenheit für den Anwender alles beherrschende Frage: "Wie komme ich zu einem Computer?" (egal, ob mit MS DOS, Unix oder sonst einem Betriebssystem) wird - wie alle anderen Hardware-Beschaffungsfragen in der Zukunft eine weit weniger wichtige Rolle spielen. Die Unix Rechner aller großen und kleinen Computerhersteller werden auf dem Territorium der DDR genauso verfügbar sein wie bisher in der BRD. Das erfordert ein grundlegendes Umdenken beim Anwender, der die Schwerpunkte seiner Hardware Einsatzplanung an Hand von K.o. Auswahlkriterien neu definieren muß.

2. Die EDV-Szene der DDR ist stark von westlichen Lieferbeschränkungen und größenwahnsinnigen östlichen Autarkiebestrebungen geprägt. Modernes EDV-Equipment konnte in der DDR kaum oder nur mit sehr großen Schwierigkeiten beschafft werden, und die "vaterländischen" Hardwarelösungen aus der UdSSR oder vom Groß kombinat Robotron waren meist schon zu Beginn der Serienproduktion hoffnungslos veraltet. Der Rückstand der DDR-Betriebe bei EDV-Ausrüstungen dürfte deshalb mindestens zehn Jahre ausmachen. Wegen des so entstandenen rechentechnischen Vakuums und des damit erforderlichen grundsätzlichen Neuanfangs hat insbesondere Unix derzeit außerordentlich große Entwicklungschancen .

Die vielen, im Westen in der Vergangenheit breit eingeführten herstellerspezifischen Betriebssysteme, die heute für einen BRD-Anwender auch Sachzwänge ausüben oder doch zumindest den Entscheidungsspielraum einschränken, spielen in der DDR im allgemeinen keine Rolle.

3. Eine ganz besondere Bedeutung kommt in der DDR in der unmittelbaren Zukunft dem Einsatz von Standardsoftware zu, auch im Unix-Bereich. Das gilt besonders dort, wo sich marktwirtschaftliche Denkmodelle und Verhaltensmuster in betrieblichen Organisationsstrukturen, EDV-Szenarien und Programmen widerspiegeln. Allein schon die sich total wandelnden gesetzlichen Bestimmungen zwingen heute viele Betriebe und Institutionen in der DDR, über nahezu alles neu nachzudenken

Die in der Vergangenheit weithin übliche Programmierung von Individuallösungen wird aus Zeit- und Kostengründen in den Hintergrund treten und so den Weg frei machen für Standard-Softwareprodukte.

4. Neben der "reinen" Software-Arbeit wird in der DDR ein sehr großer Bedarf an Beratung und Ausbildung bestehen. Das betrifft natürlich auch den Unix-Bereich. Aktuelle westliche Standardisierungsbestrebungen (X/OPEN, SVID etc.), moderne Unix-Benutzeroberflächen (X-Windows, OSF/Motif) und vieles andere mehr sind in der DDR kaum bekannt.

Insgesamt ergibt sich also ein optimistisches Bild für Unix in der DDR, vorausgesetzt die Anwender bewahren etwas Skepsis bei den Billigangeboten des neuen PC-Händlers an der nächsten Straßenecke. Die Unix-Hardware- und Software-Anbieter aber sollten versuchen, die Chancen des rechentechnischen Neuanfangs durch kostengünstige Produkte sowie durch breite Beratungs- und Schulungsangebote zu nutzen . +