Unix auf Liebesentzug

28.08.1992

Es ist noch nicht lange her, da galt Unix als Synonym für offene Systeme. Was ist geschehen, daß die Hersteller heute - außer es ergreift sie die Lust, in Microsofts PC-Gründen den zu wildern - kaum mehr von Unix reden möchten?

Erste Möglichkeit: Die Standardisierung, sprich: Öffnung, geht vielen Anbietern langsam zu weit. Schließlich wollen sie sich vom Mitbewerb abheben. Auf Herstellerseite - und nur dort - sind daher proprietäre Unix-Features wieder in Mode. So bietet Sunsoft die einheitlichste Unix-Variante vom Palmtop bis zur Cray, SCO das bewährte V.3.2. aus Prä-Standardisierungs-Zeiten, die USL das umfasendste, die OSF das zukunftsträchtigste, DEC das reinste, IBM - wie immer - das eingenste und Novell (Univel) das netzwerkfähigste Unix:

Zweite Möglichkeit: Die Anwender beginnen, die Herstellerwerbung beim Wort zu nehmen, und verlagen nicht nur nach Unix-Produkten sondern auch nach wirklich offenen Systemen. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen, doch vor allem die Hardwareorientierten Hersteller reagieren ausweichend auf soviel Vertrauen. Ihre Argumente: Unix ist nur der erste Schritt in Richtung Systeme, und überhaupt definiert sich Offenheit nicht durch Betriebssysteme, sondern durch Schnittstellen - Schnittstellen auch zu proprietären Systemen.

Da diese Patentlösung den Marketiers jedoch zu trivial klingt, treten die Unix-Anbieter, Arm in Arm mit IBM, DEC & Co., die Flucht nach vorne an. Die Schnittstellen zwischen Unix und den proprietären Systemen werden zur Middleware aufgebläht. Dieses Konzept hat neben der Vertröstung der Anwender in Sachen Offenheit auf den Sankt-Nimmerleins-Tag den Vorteil, daß sich zum einen das Unix-Geschäft auf Netzwerke und verteilte Anwendungen ausdehnen läßt und sich zum anderen offene Schnittstellen als hervorragendes Verkaufsargument für proprietäre Ladenhüter ins Feld führen lassen - siehe Open VMS.

Ist also alles nur Marketing? Ja und nein. Ja, weil es den Herstellern ohne erfolgreiches Marketing noch schlechter ginge. Nein, weil fast jeder Anwender mit heterogenen Landschaften und proprietären Altlasten leben muß. Hier kannte sich Middleware als Über-lebensmittel erweisen. gfh