Trotz potentieller Erfolge in Teilbereichen des DV-Markts, insbesondere im MS-DOS-Sektor:

Unix-Attacke prallt an der Konkurrenz ab

10.01.1986

PARIS/NEW YORK (kul) - Mit hohen Erwartungen hat die Unix-Gemeinde das neue Jahr eingeläutet. Nicht nur vom kommerziellen Erfolg des AT&T-Produkts in den USA ist die Rede, auch die "Alte Welt" soll verstärkt für das inzwischen 16 Jahre alte Konzept gewonnen werden. Viele Branchenkenner halten allerdings solche Proklamationen für etwas voreilig.

Genau wie in den Vereinigten Staaten kommt Unix auch in Europa vorwiegend im technisch-wissenschaftlichen Bereich zum Einsatz. Im kommerziellen Feld hat das Produkt einen vergleichsweise schweren Stand. Einer Studie des US-Marktforschungsinstituts International Data Corporation (IDC) zufolge kann Unix erst drei Prozent des europäischen Betriebssystem-Markts für sich verbuchen.

Das Produkt, so glauben die IDC-Experten, werde sich lediglich im Mini- und Supermikro-Bereich eine solide Installationsbasis schaffen können; denn kleinere Maschinen verfügten gar nicht über die technischen Voraussetzungen, die Möglichkeiten des speicherintensiven und komplexen Systems voll auszuschöpfen. Kommentiert

IDC-Vizepräsident Jean Yates: "Nach wie vor wird der Benutzer eines Single-User-Systems mit einer MS-DOS-Maschine besser bedient sein."

Eine ähnliche Meinung vertritt Georges Lepicard, Marketing-Director bei der französischen Groupe Bull, einem Mitgliedsunternehmen der letztes Jahr ins Leben gerufenen Unix-Vereinigung X/Open: Trotz aller potentiellen Erfolgschancen werde Unix auch dieses Jahr - vor allem im kommerziellen Bereich - die anderen etablierten Betriebssysteme nicht verdrängen können.

Genau wie in den USA setzten auch die meisten europäischen User bevorzugt die spezifischen Betriebssysteme sowie Applikationssoftware ihrer vertrauten Hersteller ein. An diesem Verhalten werde auch Unix nichts Grundlegendes ändern.

Immer noch könne beispielsweise das IBM-Produkt MS-DOS im Vergleich zu Unix mit der fünffachen Menge an verfügbaren Anwendungsprogrammen aufwarten. Eine gravierende Änderung dieser Situation erwartet auch das Wall Street Journal nicht. IBM und Kompatible hätten gegenwärtig eine Installationsbasis von etwa 4,9 Millionen aufzuweisen. Im Vergleich hierzu nehme sich das Aufgebot von rund 170 000 Unix-Maschinen etwas mager aus. Folglich wagten nur wenige Software-Häuser den Sprung in die neue Arena.

Befürworter von Unix verweisen gerne auf die hohe Portabilität des Produkts, die durch Verwendung der Programmiersprache "C" erzielt wird. Theoretisch bedeutet dies, daß Anwendungsprogramme lediglich einer geringfügigen Überarbeitung bedürfen, um auf Rechnern verschiedener Größe und unterschiedlicher Herkunft einsetzbar zu sein. AT&T behauptet sogar, Applikationen zwischen verschiedenen Unix-Maschinen portieren zu können sei nur noch eine Frage von Monaten, nicht mehr von Jahren.

Diese "Theorie" läßt sich jedoch schon durch die historische Entwicklung des Produkts zumindest teilweise widerlegen: Als Unix vor 16 Jahren entstand, war AT&T noch nicht im kommerziellen DV-Bereich engagiert. Um das neue Konzept zu forcieren, vergab der Kommunikationsgigant an mehr als 18 000 Hersteller, Software-Entwickler und Universitäten Lizenzen. All diese Institutionen modifizierten das System weiter, so daß es inzwischen etwa ein Dutzend verschiedener Varianten gibt, die sich sehr oft nicht "vertragen".

Trotzdem ist AT&T dem erklärten Ziel einer Betriebssystem-Standardisierung inzwischen etwas näher gekommen: Aus dem Kreis der Verfechter verschiedener Unix-Versionen haben sich bereits etliche bereiterklärt, auf die Linie von System V einzuschwenken.

Mit dem Ziel, eine möglichst breite Akzeptanzbasis für Unix zu schaffen, verfolgt der Kommunikationsgigant auch massive Interessen bei der Vermarktung seiner eigenen Unix-Rechner: "Es ist durchaus vorstellbar" , meint William O'Shea, Executive Director der Software Division von AT&T, "daß AT&T sich auch dann auf einem Spitzenplatz in der DV-Industrie behaupten kann, wenn Unix nicht als Standard eingeführt wird. Aber der Erfolgskurs wird sich viel leichter einhalten lassen, wenn wir uns in diesem Punkt durchsetzen können."

In Europa allerdings sehen Branchenkenner die Unix-Szene nicht gerade durch diese rosa Brille. Hauptkritikpunkte sind ein gravierender Mangel an qualifizierten Unix-Entwicklern sowie daraus resultierende Engpässe im technischen Kundensupport.