Uni Stuttgart: Industrienah und wissenschaftlich fundiert

09.03.2001
Von Sonja Hübner
Stuttgart gehört nicht nur zu den besten Informatikuniversitäten der Republik, wie das Westerwelle-Ranking beweist. Die Region als einer der attraktivsten Hightech-Standorte der EU bietet beste Möglichkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden. Mit mehr als 25 Prozent "Techs" nimmt sie, einer Untersuchung der EU zufolge, in Europa einen Spitzenplatz unter den Firmenstandorten ein. Informatiker der Universität Stuttgart haben daher meist schon vor Abschluss ihres Studiums einen Arbeitsvertrag oder zumindesten ein Dutzend Angebote in der Tasche.

Kaum jemand hält das Industriegebiet von Vaihingen, wohin der Fachbereich Informatik der Universität Stuttgart derzeit noch ausgelagert ist, für sonderlich attraktiv. Bedeutet der Standort doch den Verzicht auf abwechslungsreiches Mensa-Essen und die “Isolation” vom großen Unibetrieb. Doch das Exil hat auch ein Gutes: die familiäre Atmosphäre an der Fakultät.

Quelle: Stadt Stuttgart
Quelle: Stadt Stuttgart

“Hier läuft man immer Kollegen über den Weg und fühlt sich schnell dazugehörig”, meint Diplominformatikerin Daniela Nicklas, Promotionskandidatin und wissenschaftliche Assistentin im Forschungsprojekt Nexus am Institut für parallele und verteilte Höchstleistungsrechner (IPVR).

Doch nicht alle Veranstaltungen finden im “Exil” statt. “Die Nebenfächer und Teile der Elektrotechnik hören wir an der Uni”, beschreibt Florian Festi, Informatikstudent im siebten Semester, die “Fluchtmöglichkeit” aus der industriellen Umzingelung. Diese wird schon bald der Vergangenheit angehören. Da sich das Land Baden-Württemberg von seinem Stromerzeuger ENBW getrennt hat, ist jetzt endlich Geld in den Kassen von Finanzminister Gerhard Stratthaus. “Das bedeutet, dass wir in zwei Jahren einen Neubau auf dem Unigelände haben werden”, freut sich Informatikdekan Volker Claus, einer der 17 Professoren der Fakultät und – nebenbei – Autor des Dudens Informatik.

Der Neubau ist längst überfällig, platzt doch die Fakultät inzwischen aus allen Nähten. Bundesweit sind sich die Anfängerzahlen in den vergangenen fünf Jahren von 4000 auf knapp 16 000 Erstsemester auf fast das Vierfache gestiegen. Dieser Trend ist in Stuttgart deutlich zu spüren. “Derzeit sind wir zweifach überlaufen: Wenn auch nur die Hälfte unserer derzeitigen Anfänger in ein paar Jahren als Diplomanden vor uns steht, dann ist es gut, wenn man vorher pensioniert worden ist”, meint Claus mit Galgenhumor. Trotzdem ist er froh über das große Interesse an seiner Fakultät und darüber, dass “die jungen Leute die Bedeutung der Informatik in unserer Gesellschaft sehen”. Im Diplomstudiengang Informatik, der hier seit 1970 besteht, schrieben sich vergangenes Jahr 337 Anfänger ein. Insgesamt sind jetzt 1100 Studenten immatrikuliert.

Für den jüngeren Diplomstudiengang Softwaretechnik, der seit 1996 exisiert, haben sich im Jahr 2000 immerhin 85 Anfänger entschieden; hier studieren jetzt 267 Männer und Frauen. Dafür hat die Fakultät vom Land und der Universität im zurückliegenden Jahr zwei Professuren und eine Million Mark zusätzlich locker gemacht, allerdings begrenzt auf fünf Jahre. “Diese Mittel sind nur ein Viertel oder Fünftel von dem, was wir brauchen werden, wenn der augenblickliche Trend anhält”, prognostiziert Claus.

Eine Trendwende hält Student Festi für ziemlich unwahrscheinlich. Weiß er doch von seinen Kommilitonen, dass sie an der Stuttgarter Ausbildung die große Freiheit bei der Fächerwahl, die Erziehung zu selbständigem Arbeiten, die frühe Einbeziehung in universitäre und industrielle Forschungsprojekte sowie das breite Angebot an Praktika in den knapp 1000 Stuttgarter Hightech-Unternehmen sehr schätzen. Pluspunkte der Uni sind beispielsweise die mehr als 300 modernen Computerarbeitsplätze, das Mentorenprogramm für Anfänger, der Ehemaligenverein und die Existenzgründerseminare für ambitionierte Jungunternehmer. Auch die heftig diskutierte universitäre Qualitätssicherung ist bei Stuttgarter Informatikern “state of the art”.

Die Fakultät hat zwei externe Evaluationen erfolgreich bestanden. Daneben bewerten die Studierenden seit zehn Jahren am Ende jedes Semesters alle Lehrveranstaltungen und machen die Ergebnisse öffentlich bekannt. “Das hat schon ziemlichen Einfluss auf alle Lehrenden”, weiß der Dekan aus eigener Erfahrung mit studentischer Kritik. Beim Werben um gute Studierende haben Internationalität und interdisziplinäres Arbeiten einen hohen Stellenwert. “Informatik ist seit jeher ein internationales Fachgebiet. Wir sind immer auf Tagungen gegangen, haben weltweit Kontakte gepflegt und Arbeiten in Englisch veröffentlicht”, betont Claus.

Volker Claus
Volker Claus

Gemeinsam mit den Kollegen der Elektrotechnik und Informationstechnik bieten die Informatiker den begehrten internationalen Master-Studiengang “Information Technology” an. Hier gibt es deutlich mehr Bewerbungen als Plätze. Eine Eingangsprüfung zu Beginn des Studiums ist obligatorisch. Zwei Semester müssen die Studenten englischsprachige Vorlesungen, Übungen, Praktika und Seminare besuchen. Ein Semester bleibt ihnen für die Master-Arbeit. Bachelors aus anderen Ländern werden in einem “Vorsemester” auf einen einheitlichen Wissensstand gebracht, damit die Kandidaten bei der Eingangsprüfung gleiche Chancen haben. Zusätzlich bietet Stuttgart das Nebenfach Informatik für Magisterstudiengänge und für das Lehramt Informatik als drittes Fach an. In zwölf weiteren Studiengängen der Universität halten die Mitarbeiter der Fakultät ebenfalls Lehrveranstaltungen ab. Deshalb täuscht das reine Zahlenverhältnis von Professoren zu Studierenden. 25 Anfänger und insgesamt 80 Studenten kommen auf jede der 17 Professuren. “Uns bleibt zu wenig Zeit für die individuelle Betreuung der Studierenden”, klagt Claus.

Dieses Problem wird sich mit der möglichen Einführung des Bachelor-Studiengangs ´Computer Science´ ab Herbst 2001 eher verschärfen. Zwar ist das sechs- bis siebensemestrige Kurssystem mit Leistungspunkten (credit points) sehr reizvoll, erfordert aber auch intensivere Betreuung der Lernenden und daher zusätzliche Kapazitäten. Die Nachfrage nach Bachelor-Absolventen ist bundesweit noch recht zurückhaltend. Claus nennt einen weiteren Aspekt: “In den USA gibt es deutliche Tendenzen, auf Diplomstudiengänge umstellen. Auch dort glaubt man wohl inzwischen, dass ein fünfjähriges Studium Wissen mit größerer Krisensicherheit und längerer Halbwertszeit vermitteln kann.” Die handwerklichen Kenntnisse wie Java, XML oder C++ erwerben sich die Studenten in Kursen während der vorlesungsfreien Zeit, vor allem aber in den Projekten, Praktika und Diplomarbeiten des Hauptstudiums. Was die Themen betrifft, so geht der Trend momentan deutlich in Richtung verteilte Systeme, Netze, Multimedia, Telelearning, Visualisierung, Datenbanken, Anwendungssoftware, Software-Engineering und SW-Architekturen. Gefragt sind auch Bildverarbeitung, CAD, Hardwareentwurf, natürlichsprachliche Verarbeitung oder Systemsimulation.

Für Dekan Claus steht derzeit vor allem die Sicherung des universitären Nachwuchses im Vordergrund. Seit sieben Jahren liegt der Stundensatz für Hilfskräfte unverändert bei 17,50 Mark; netto bleiben den Studierenden dabei 15,68 Mark. Eine Änderung der Hilfskräftebesoldung lehnen die Landesregierungen ab. Bauchschmerzen bereitet den Wissenschaftlern auch das Abwerben der Diplomierten durch die Industrie. Mindestens 15, manchmal 40 Prozent höher liegen die Gehälter in der Wirtschaft im Vergleich zu denen eines wissenschaftlichen Mitarbeiters an der Universität. Vieles hängt daher von der Ausstrahlungskraft der Dozent(inn)en und der Attraktivität der Themen ab. “In drei Jahren machen glücklicherweise die ersten starken Jahrgänge Diplom. Dann wird sich das Problem von alleine lösen”, hofft Claus.