DV- Theorie im Ostblock auf hohem Stand - Mangel an moderner Hardware

Ungarn: Fünf- Jahrespläne errechnet der Computer

13.06.1986

Eine hohe Erwartungshaltung und großes Interesse gegenüber westlicher Erfahrung im DV- Sektor beobachtete Ulrich Busch bei einem Treffen mit ungarischen Informatik- und Organisationsexperten. Dies ist verständlich, wird doch in zunehmendem Maße ungarisches Personal auch im deutschsprachigen Raum eingesetzt. Eingeladen zu dem westöstlichen Transfer hatte den Leiter des Business- Consulting der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Price Waterhouse GmbH in Hamburg und langjährigen Informatik- Lehrbeauftragten der TU Berlin, die Technische Universität Budapest.

Der Stand der Wissenschaft in Ungarn entspricht im theoretischen Bereich dem Stand an Hochschulen westlicher Länder. Allerdings ist die Computertechnik, insbesondere im Großrechnerbereich, mit unseren Verhältnissen nicht vergleichbar. Der relativ niedrige Stand der Automation auf dem Sektor der Informationsverarbeitung bietet jedoch andererseits für die ungarische Wirtschaft die Möglichkeit, frei vom Ballast nichtintegrierter Einzellösungen (Softwareinseln) auf Basis der heutigen Erkenntnisse der Organisationslehre zu modernen Lösungen zu kommen. Die vorhandenen Resourcen können zu einem hohen Prozentsatz für die Entwicklung von integrierten MIS eingesetzt werden, da der gebundene Anteil für Verfahrenspflege alter Systeme relativ gering ist.

Industrie gibt zentralen Lösungen derzeit den Vorrang

Ein Großteil der Industrie wird EDV- technisch durch EDV- Dienstleistungszentren versorgt, die in allen größeren Städten vertreten sind. Allerdings ist zur Zeit zu beobachten daß die Industrie zentralisierte EDV- Lösungen vorzieht, zumal die öffentlichen Kommunikationsnetze verbessert werden müssen, wenn die Hardware- Verfügbarkeit mit einer dezentralen EDV- Lösung standhalten soll. Die Datenerfassung erfolgt weitestgehend über lokale oder zentrale Erfassungsgeräte auf Lochkartenbasis. Die Verarbeitungssysteme sind überwiegend batchorientiert, der Datenaustausch wird überwiegend per Kurier- oder Postversand abgewickelt.

Die TU Budapest arbeitet eng mit der ungarischen Industrie und Wirtschaft in Form gemeinsamer Automations- und Organisationsprojekte zusammen. Zu diesem Zweck verfügt die TU über entsprechende Budgets, die von der Industrie finanziert werden.

Ein großer Bedarf besteht an dem Austausch von Erfahrungen über den hochintegrierten MIS in westlichen Ländern. So wurde beispielsweise diskutiert, inwieweit die heute in Deutschland und anderen Ländern installierten komplexen MIS zu einem Hemmschuh für die Weiterentwicklung beziehungsweise der permanenten Anpassung der Unternehmensorganisation werden, weil die nötige Flexibilität der eingesetzten Software unter Umständen nicht ausreichen könnte, um kurzfristige Änderungen der Unternehmensorganisation nachzuvollziehen. Im Vordergrund stand also die Überlegung, inwieweit die Automatisierung auf dem Sektor der Informationsverarbeitung die dringend erforderliche Anpassung der Unternehmensorganisation und des Wirtschaftssystems negativ beeinflussen kann.

Obgleich in der Vergangenheit die menschliche Arbeitskraft in Ungarn, verglichen mit der Bundesrepublik Deutschland, relativ billig war und keinen Mangelfaktor darstellte, wird gegenwärtig die Automatisierung im Büro- und Verwaltungsbereich stark vorangetrieben. Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang die erforderliche Disziplin der Mitarbeiter in den Betrieben bei der Erfassung und Verwaltung von Datenbeständen, um die erforderliche Datenqualität zu erreichen. So stellt sich die Frage nach dem erforderlichen Druck im Führungssystem, nach den notwendigen Sanktionen, die gewünschte Akzeptanz und Qualität computergestützter Ablaufsysteme auch zu erlangen.

Lieferzusagen schwanken bis zu drei Monaten

Die ungarische Wirtschaft folgt den strengen Regeln planungswirtschaftlicher Mechanismen, obgleich in vielen Betrieben gleichzeitig ein freier Wettbewerb auf den westlichen Weltmärkten praktiziert wird. Auf der Basis von Fünf- Jahres- und Zwei- Jahresplanungen werden die jährlichen Unternehmenspläne in Quartalsziele aufgelöst. Innerhalb des "Domestic"- und des sogenannten "Rubel"- Marktes werden Quartalslieferungen vereinbart. Die Liefertermine bewegen sich also in DreiMonatszeiträumen, was bedeutet, daß Lieferzusageschwankungen von drei Monaten und mehr auftreten können.

Von Interesse bei diesem Austausch von Kenntnissen waren westliche Erfahrungen auf dem Gebiet integrierter Unternehmenspläne von der

- strategischen Planung (Zielsetzungsplanung mit längerfristigem Planungshorizont) über die

- taktische Planung (Mittelauswahlplanung mit jährlichem Planungshorizont- Budgetplanung) zur

- operativen Planung (Mitteleinsatzplanung mit jährlichem Planungshorizont - Budgetplanung).

So wurden Beobachtungen diskutiert, inwieweit zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland die Planungssysteme mit rollierendem Charakter vertikal integriert realisiert sind. Unter einer vertikalen Integration wird eine automatische Aktualisierung in vorwärts- und rückwärtsgerichteter Form verstanden, so daß sowohl die aktuellen Veränderungen der Planungsgrößen des Marktes als auch die Erfüllung der Absatzpläne durch die Ablieferung von Produkten simultan verarbeitet werden.

Da die ungarische Wirtschaft in großem Maße an Exporten in das westliche Ausland interessiert ist, sind die zu erstellenden Pläne durch entsprechende Prognose- Rechnungen für den Anteil der Exporte zu ergänzen. Für diesen Anteil der Planungsrechnungen waren die Erfahrungen im Hinblick auf die Planungsgenauigkeit der Planungsansätze in Betrieben der freien Marktwirtschaft von besonderem Interesse.

Hohe Erwartungshaltung in ganzheitliche Integration

Ein weiterer Diskussionspunkt der internationalen Teilnehmer des Budapester Treffens waren Fragen der horizontalen Integration von Planungssystemen. So wurden Erkenntnisse betrachtet, inwieweit die jeweiligen Pläne der unterschiedlichen Produktionsfaktoren innerhalb der Zielsetzungs-, Mittelauswahl- und -einsatzplanung systemtechnisch integriert abgewickelt werden, so daß über Simulationshilfen die Interdependenzen der Planungsansätze automatisch nachvollzogen werden können.

Gespräche mit den Wissenschaftlern zeigten, daß eine hohe Erwartungshaltung mit Blick auf die ganzheitliche Integration von Entscheidungsunterstützungssystemen besteht. So wurden in diesem Zusammenhang auch die ersten Erfahrungen auf dem Gebiet der "künstlich intelligenten MIS" angesprochen, die in Ungarn theoretisch von einem relativ hohen Erkenntnisstand begleitet werden.

Von Interesse waren insbesondere westliche Erfahrungen im Rahmen von Methoden der Fertigungssteuerung auf Basis des "just- in- time" beziehungsweise der Anwendung von "Kanban" im Materialwirtschaftsbereich. Diese Prinzipien erlauben einen relativ kontinuierlichen Fertigungsfluß mit dem Effekt niedriger Rohmaterial- und Halbfabrikatebestände. Unausgewogene Auslastungen der Fertigungskapazitäten werden dabei bewußt in Kauf genommen. Mittel- bis langfristig soll also eine Harmonisierung (Anpassung) der Fertigungskapazitäten durch Ersatzinvestitionen erreicht werden. So wurde über Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland diskutiert, welche Produktivitätssteigerungen beziehungsweise Reduzierungen von Materialbeständen (Rohmaterial und Halbfabrikatebestände) man bei gleichzeitiger Verkürzung der Gesamtdurchlaufzeit von Produktionsaufträgen erreichen kann, wenn Fertigungszellen und Halbfabrikate- Lagerbestandskontrollen gebildet werden. Dies bedeutet, daß das Produktions- Auftragsfreigabe- Verfahren im Rahmen der Kontrolle von Halbfabrikate- Lagerbeständen erfolgt.

Die Reduzierung von Materialbeständen stellt in ungarischen Betrieben, insbesondere für Importlieferungen aus dem westlichen Ausland, wegen Devisenmangels ein besonderes Problem dar. So sucht man gerade auf diesem Sektor nach Lösungen zur Reduzierung von Materialbeständen, während gleichzeitig der Materiallieferungsservicegrad, um Produktionsstillstände durch Materialmangel zu verhindern, aufrechterhalten bleiben soll. Für die ungarischen Experten war ebenso von Interesse, welcher Grad der Integration im Rahmen von CIM- Konzepten (Computer Integrated Manufacturing) in der Bundesrepublik Deutschland erreicht wurde, und zwar unter Einbeziehung der diskutierten PPSund FMS- Philosophien (PPS= Produktions, Planungs- und Steuerungssysteme beziehungsweise FMS= Flexibel Manufacturing Systems).

Bei Investitionsplänen steht CAD hoch im Kurs

Der Einsatz von CAD steht mit an erster Stelle bei den Investitionsplänen konstruktionsträchtiger ungarischer Industriebetriebe, obgleich erhebliche Beschränkungen bei der Beschaffung von hochwertigen CADRechnern bestehen.

Ein weiterer Punkt des Erfahrungsaustausches in Budapest waren Fragen des Ausbildungsstandes bei Mitarbeitern im Entwicklungsbereich von Anwendungssystemen.

Im Bereich der Systementwicklung etwa ist in ungarischen Betrieben ein hoher Motivationsgrad festzustellen. Die Ausbildung der ORG/DV- Mitarbeiter befindet sich auf einem hohen Stand, der einer Reihe von Mitarbeitern erlaubt, auch erfolgreich im westlichen Ausland in Entwicklungsprojekten eingesetzt zu werden.

Know- how- Transfer mit dem Ausland wird gepflegt

Auch der Export von qualifiziertem EDV- Personal in das westliche Europa gehört seit Jahren zur Praxis von ungarischen Beratungsfirmen. Die hohe Qualität der Ausbildung mit westlicher Ausrichtung an den ungarischen Hochschulen einschließlich der vorhandenen guten Sprachkenntnisse sowie die vergleichbar niedrigen Honorarpreise sind hierfür mitverantwortlich. Die Praxis zeigt, daß sich die ungarischen Mitarbeiter schnell das systemspezifische Know- how im Ausland aneignen, um zum Beispiel in einer Mainframeumgebung die geforderte Projektarbeit leisten zu können.

Transfer über mehr als Ländergrenze

"Wir sind besonders interessiert an Fragen der Management- Informationssysteme und der Informatik", schrieb Professor Zoltan Borose, Leiter des Lehrstuhls für Betriebswirtschaft sowie Vizepräsident der Technischen Universität Budapest, in seiner Einladung zu einem Erfahrungaustausch mit einem Vertreter westlichen Technik- Know- hows.

Gast war Ulrich Busch, Mitarbeiter der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Price Waterhouse GmbH in Hamburg und zugleich langjähriger Lehrbeauftragten an der Technischen Universität Berlin im Fachbereich 20 Informatik. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft - sie ist in über 90 Ländern auch als Unternehmensberatungsgesellschaft tätig und beschäftigt in diesem Segment 4000 der insgesamt 30 000 Mitarbeiter - pflegt seit Jahren Kooperationskontakte über den deutschen EDV- und Business- Consulting- Unternehmensbereich mit dem Land aus dem Ostblock.

Die ungarischen Wissenschaftler aus Fachgebieten wie Operations Research, Informatik und Innovationen oder Logistik und automatisierte Fertigungszellen zeigten sich besonders wißbegierig über den Entwicklungsstand auf dem Gebiet der Unternehmensorganisation, wobei hier der Schwerpunkt auf dem Einsatz von integrierten computergestützten Managementinformationssystemen (MIS) lag. Dabei zeigte sich: Mangelt es auch im Ostblock an moderner Hardware, ist in Ungarn der theoretische Stand der Wissenschaft dem westlicher Hochschulen durchaus vergleichbar.