Einer der schlimmsten Shake-outs der letzten zehn Jahre:

Umsatzminus stoppt Job-Wunder im Sillcon-Tal

09.08.1985

SANTA CLARA - Im Mekka der amerikanischen Spitzentechnik herrscht Unruhe: Zum ersten Mal seit elf Jahren könnten in Silicon Valley mehr Arbeitsplätze verlorengehen, als geschaffen werden. Hält der Trend zur "Reorganisation" an, dürfte 1985 mit einem Nettoverlust von Arbeitsplätzen zu rechnen sein.

Eine Erhebung des Amtes für Beschäftigungsförderung in Kalifornien nennt in diesem Zusammenhang die Zahl von über 4000 Beschäftigten, die in den ersten fünf Monaten dieses Jahres ihre Stelle verloren hätten. Marktbeobachter führen jedoch an: "Diese Zahl kann sich die Behörde abschminken. Es sind wesentlich mehr, rechnen etwa die kleinen selbständigen Zulieferanten mit." Sie gehen im "Prototyp künftiger Computerparadiese" von einem gut 60 Prozent höheren Wert aus. Personalbewegungen in dieser Region zu erfassen sei jedoch schwierig, da kein ähnlich exaktes Berichtswesen über Arbeitslosigkeit wie in Europa bestehe.

Silicon Valley ist ein schmaler, 40 Kilometer langer Streifen Land zwischen Palo Alto und San Jose, eine knappe Autostunde südlich von San Francisco. Dieses Industriegebiet stellt die bisher größte Konzentration von Unternehmen der neuen Technologien in den USA dar. In etwa 1900 Betrieben mit rund 230 000 Beschäftigten werden die Accessoires der High-Tech-Gesellschaft hergestellt - Chips und Software, Computer und Roboter, Satelliten, elektronische Meßgeräte und Langstreckenwaffen. Der technische wie auch ökonomische Aufstieg des Tals der Pflaumen- und Orangenfarmen begann vor gut 30 Jahren, als die Vorformen des "elektronischen Schlachtfeldes" erprobt und mit den Interkontinentalraketen von Lockheed - mit 23 000 Beschäftigten das größte Unternehmen im Tal - eine neue Generation elektronischer Großwaffen entwickelt wurde. Eine der Technologieschmieden der USA die Stanford University, hat zudem ihren Campus nahe bei Palo Alto.

Zuletzt hatte Santa Clara County im Jahre 1975 einen Nettoverlust von Arbeitsplätzen zu verzeichnen, als 7000 Stellen abgebaut wurden. In den darauffolgenden Jahren sollte es in Silicon Valley jedoch zu einem Beschäftigungswunder kommen. "Mit 40 Milliarden Dollar Jahresumsatz hat sich das Silicon Valley zum neuntgrößten Industriezentrum der USA entwickelt. Jedes Jahr werden hier 40 000 neue Arbeitsplätze geschaffen", begeistern sich amerikanische Autoren am Expansionsfieber im Tal. Die Zahl der neuen Arbeitsstellen erreichte Werte bis 27 900 im vergangenen Jahr.

Dann allerdings stoppte der Beschäftigungsboom: Allein im Juni 1985 wurden 2270 Silicon-Arbeiter entlassen. Dies betraf hauptsächlich den PC-Bereich und die Halbleiterhersteller. Als Grund nennen Analysten, der Markt sei nach zwei Jahren rapiden Wachstums gesättigt. Andere Stimmen sagen, die Mikrocomputer-Industrie habe sich in bezug auf ihre Stückzahlen gewaltig überschätzt.

Im Juni verloren in der gesamten US-Computerindustrie rund 8000 Beschäftigte ihren Job. Die Liste der betroffenen Firmen im Eldorado des Computerzeitalters ist beachtlich. Sie reicht across the board". Prozentual größere Kürzungen weisen jedoch die kleinsten Firmen auf - selbständige Zulieferer sowie kleine Hersteller im Schnitt zehn Prozent.

So taucht etwa der Name National Semiconductor (NSC), Santa Clara, im Schlaglicht auf. Die Belegschaft, laut NSC, wird in den nächsten Monaten um rund 1300 Mitarbeiter reduziert - davon 600 in der kalifornischen Zentrale -; der Plan, eine Wafer-Fabrikation in der Nähe Portland, Oregon, zu bauen, wurde fallengelassen. Im vierten Quartal weist das Unternehmen in den Bereichen Halbleiter und Systeme ein Ergebnis von 2,7 Millionen Dollar Verlust auf. NSC-Präsident C. E. Sporck: "Wir hatten gehofft, Entlassungen vermeiden zu können, bis die Halbleiterindustrie einen allgemeinen Aufschwung zeigt. Leider verzeichnet der Halbleitermarkt seit einem Jahr keine wesentliche Verbesserung." Bei der Intel Corp., Santa Clara, waren 950 Jobs betroffen. 700 Entlassungen wurden zum Juli ausgesprochen, der Rest zum Ende des Jahres 1985. Diese Zahl macht weltweit vier Prozent der Beschäftigten des Halbleiterproduzenten aus. In erster Linie greifen "Reorganisationen", auch bei anderen betroffenen Unternehmen, im Sektor Produktion. So soll die älteste und kleinste "fab" - eine Fabrikationslinie - eingestellt werden. Der Chairman und CEO von Intel, Dr. Gordon Moore, sagte: "Das ist einer der schlimmsten Shake-outs in dieser Industrie innerhalb der letzten zehn Jahre."

Kleine Unternehmen am stärksten betroffen

Bei einer weiteren Zahl von Unternehmen, melden die San Jose Mercury News, erfolgen auch "Korrekturmaßnahmen". Gould - Sonderabschreibungen von 160 Millionen Dollar 1984 - und AMI "eliminieren" in Santa Clara 300 Stellen. Der Zulieferant von Modem- und Computer-Telekommunikationsprodukten Racal-Vadic reduziert um 103 Stellen, immerhin 13 Prozent seiner "Work-Force". Data General - viertes Quartal 1984/85: Betriebsverlust 16 Millionen Dollar - löscht 1300 Stellen am 17. Juni 1985, Hewlett-Packard schließt eine Woche im Juli die meisten Fertigungsstätten. Auch Apple kappt im Frühjahr 19 Prozent der Belegschaft - 1200 Arbeitsstellen weniger - und schließt drei seiner sechs "plants". Sperry kündigt am 11. Juni 285 Mitarbeitern. Am gleichen Tag entläßt oder setzt Burroughs 750 Arbeitnehmer um, Bereits am 21. April schloß das Unternehmen hinter 225 Leuten das Tor. Am 27. Mai gibt Wang - viertes Quartal 1984/85: Verlust von 109 Millionen Dollar - 100 Angestellten am 5. Juni nochmals 1500 die Papiere - 5 Prozent des Personals weltweit - und legt eine Zwangspause von zwei Wochen im Juli ein. Convergent Technology pausiert für eine Woche im Juni, Data General für die doppelte Spanne im Mai und Juni. Computervision entläßt am 9. April 250 Beschäftigte.

Insbesondere kleine Unternehmen schnallen den Gürtel enger. Scientific Micro System - ein Beispiel - verringert sein Personal - 177 Mitarbeiter - um 15 Prozent.

4,6 Prozent der Beschäftigten in den 1900 Betrieben der High-Tech-Plantage mußten im ersten Halbjahr 1985 ihren Arbeitsplatz verlassen. Nach Berechnungen des Forschungsinstituts International Data Corp. (IDC), Massachusetts, dürfte die Mitarbeiterzahl der US-Computerhersteller in diesem Jahr um weitere 15 000 bis 20 000 abgebaut werden. Die Hälfte der Kürzungen werde auf die Unternehmen im Silicon Valley entfallen. Dann ständen über neun Prozent der Beschäftigten in der Computerindustrie allein in Kalifornien auf der Straße.

"Tief in der Scheiße", findet ein Tal-Kenner, stecke der goldene kalifornische Westen. Die beschäftigungspolitischen Rundschläge in dieser "reinrassigen High-Tech-Gesellschaft" fallen in ein seit jeher angespanntes Arbeitsklima voller sozialer Konflikte.

Es gebe in den USA keine Industrieregion, in der Löhne und Gehälter so weit auseinanderklafften wie in diesem Weltzentrum der Mikroelektronik. Die unteren Ränge der Produktionsarbeiter fänden den gesetzlichen Stundenlohn von 3,35 Dollar auf dem Konto, Ingenieure und Chipdesigner verdienten dagegen zwischen 30 000 und 70 000 Dollar per anno, heißt es in einer sozialwissenschaftlichen Studie von Ende 1983. Und weiter: "Der Mythos von Silicon Valley ist ein Traum. Der Anteil der Menschen, für die der Traum gegenwärtig Wirklichkeit wird, ist winzig." Die These der Autoren lautet, daß das Olympia der Innovation die Spitze der Entwicklung zur postindustriellen Gesellschaft" sei. Am Anfang einer neuen Gesellschaft, resümieren die Sozialwisserschaftler, überwogen eben die dunklen Seiten, aber die Dynamik der einmal eingeschlagenen Entwicklung werde schließlich alles zum besseren wenden.

Beschäftigungspolitische Rundschläge

Für Europa stehen ebenfalls Auswirkungen an. So entläßt mit Wirkung zum 30. September etwa die Apple Computer GmbH in München 25 der insgesamt 87 Mitarbeiter. Folgen zeigen sich weiterhin in Fernost. Die Fertigungsstätten von Computerfirmen in Malaysia werfen Arbeiter "in Zwölfergruppen" aus ihren Jobs, berichtet das Asia Wall Street Journal und nennt die Zahl von 1000 Entlassungen. Singapur meldet Massenentlassungen bei US-Tochterfirmen. Auch in Japan spricht man von Kürzungen im Halbleiterbereich.

Über die Dauer der Rezession haben Fachleute unterschiedliche Meinungen. Während Optimisten den Aufschwung bereits für den kommenden Monat erwarten, sehen andere das Ende der Flaute erst in eineinhalb Jahren.

NCS-Präsident Sporck indes ???? für die nächste Zukunft eine kritische Lagebeurteilung der Techno-Landschaft nicht nur für Kalifornien: "Der Markt zeigt keinerlei Anzeichen einer wesentlichen Besserung des Halbleiterbedarfs für dieses Kalenderjahr."