Die Erben von Wiktor Gluschkow (Teil 1)

Ukraine sucht den Anschluß an die westliche IT-Industrie

14.03.1997

Die Ukraine nimmt praktisch die Fläche Frankreichs ein und hat über 50 Millionen Einwohner. Auf weniger als drei Prozent der Fläche der ehemaligen UdSSR wurde rund ein Drittel der wirtschaftlichen Leistung des Sowjetstaates erbracht. Zudem befindet sich rund ein Drittel der wissenschaftlichen und, wenn man so will, "High-Tech-Kapazitäten" der früheren Sowjetunion in der Ukraine. Nach übereinstimmenden Einschätzungen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche sowie von Experten vor Ort ist jedoch die Talfahrt der Wirtschaft in dieser ehemaligen Vorzeigeregion der Sowjetunion noch nicht beendet. Insbesondere auch, weil für die hiesigen Dienstleister, darunter viele IT-Firmen, mit dem Stillstand beziehungsweise der Liquidation eines erheblichen Teils der Großindustrie der Binnenmarkt stark geschrumpft ist.

Hinzu kommt, daß die wirtschaftlichen Reformen offenbar in der Ukraine nicht mit der gleichen Intensität wie in Rußland umgesetzt worden. Zahlreiche Probleme bereitet in diesem Zusammenhang auch die fortschreitende Desintegration der GUS-Länder. Besonders die schwelenden politischen Probleme zwischen Kiew und Moskau führen zu Hindernissen bei Firmenneugründungen im IT-Bereich. So sind nicht selten die Moskauer Vertretungen westlicher Lieferanten auch für die Belieferung der Ukraine zuständig. Mit einem in vielen Fällen fatalen Ergebnis, da sich der russische Zoll mitunter einen Spaß daraus macht, Lieferungen an ukrainische Geschäftspartner über Moskau unter verschiedensten Vorwänden - etwa der Prüfung von Disketten auf Pornografie - wochenlang aufzuhalten.

Die wechselseitige Abschottung der Märkte hat für ukrainische IT-Unternehmen aber auch positive Folgen - sie verringert die Konkurrenz und könnte deren Chancen in denjenigen früheren Sowjetrepubliken erhöhen, die sich von Rußland abgrenzen wollen. Wegen der Marktzutrittsbarrieren in Rußland orientiert sich die Ukraine vor allem aber westwärts - insbesondere in Richtung Deutschland. Gleichzeitig hat man jedoch im Westen mit einem Imageproblem zu kämpfen.

Gilt man doch vorwiegend als Rohstofflieferant beziehungsweise als bevorzugter Standort für rohstoff- und energieintensive, umweltschädliche Produktionen. Die Umstrukturierung der Wirtschaft hat daher auch, wie überall im Osteuropa, zur drastischen Reduzierung der Nachfrage nach F&E-Auftragsarbeiten, insbesondere im IT-Bereich, geführt. Von dieser "Aktion Rotstift" waren insbesondere die wissenschaftlichen Einrichtungen in der Ukraine betroffen. Gerade dieses F&E-Potential ist jedoch auf Aufträge und Projekte mit westlichen Partnern zwingend angewiesen.

Gesetzgebung bietet keine ökonomischen Anreize

Überdies behindert eine Vielzahl staatlicher Bestimmungen den Geldfluß im Lande. So sind unter anderem die Banken angehalten, Garantien dafür zu übernehmen, daß nach Zahlungen ins Ausland innerhalb von drei Monaten die entsprechenden Warenlieferungen erfolgen. Gleichzeitig sind Unternehmen bis auf den heutigen Tag gezwungen, alle Geschäfte über ein einziges Konto abzuwickeln. Wie überhaupt der Staat am Stillstand eines beträchtlichen Teils der verarbeitenden Industrie einen großen Anteil hat. Von jeder eingenommenen Griwna müssen gegenwärtig rund 80 Kopeken an Steuern und Abgaben gezahlt werden. Vor allem den Großbetrieben fehlen damit sämtliche ökonomischen Anreize zu Produktion und Automatisierung.

Vielfach entsteht der Eindruck, daß von der obersten Staatsführung aus der Not geboren oft Entscheidungen gefällt werden, deren Folgen unzureichend bedacht sind - so zum Beispiel die Tatsache, daß mit einem Federstrich oft ganze F&E-Förderprogramme gestrichen werden. Ausländische Investoren, die sich jetzt in der Ukraine engagieren, können daher IT-Spezialisten von bester Qualität im Überfluß rekrutieren.

Insbesondere, weil im Parlament noch die alte Sowjetelite das Sagen hat, dauert es oft lange, bis - wenn überhaupt - wirtschaftsfördernde Gesetze angenommen werden. IT-Unternehmer wie Walerij Pekar (Euroindex) oder Professor Witalij Bardatschenko (Timer) kritisieren denn auch den Staat für die fehlende Unterstützung innovativer Projekte und Firmen sowie das Unverständnis in puncto Exportchancen, die eine ukrainische "High-Tech-Industrie" bieten würde. Andererseits gibt es aber auch Anlaß zu begrenztem Optimismus - etwa die Annahme einer vergleichsweise demokratischen Verfassung, die Einführung einer eigenen Währung (Griwna) und den Schutz ausländischer Investitionen.

Das Potential an IT-Unternehmen in Kiew wird maßgeblich durch das Akademie-Institut für Kybernetik geprägt, das lange unter Leitung des auch im Westen bekannten Mathematikers und Kybernetikers Wiktor Gluschkow stand. Dieses Institut trägt heute seinen Namen und konnte in den 60er und 70er Jahren in Teilbereichen durchaus mit der Entwicklung in anderen Industrienationen mithalten. So wurde 1967 auf einer Ausstellung in London die unter Leitung von Gluschkow entwickelte Rechenmaschine MIR-1 gezeigt und vom Stand weg von IBM erworben - der bis dato wohl einzige Kauf eines sowjetischen Rechners durch ein US-Unternehmen.

Viele, insbesondere jüngere Wissenschaftler aus dem Gluschkow-Institut versuchen derzeit ihr Glück mit eigenen IT-Firmen - nicht selten mit beachtlichem Erfolg, etwa im Bankwesen oder anderen Branchen, und einige haben auch den Sprung über den großen Teich gewagt. Wegen der, wie schon erwähnt, praktisch auf Null reduzierten staatlichen Förderung wissenschaftlicher Einrichtungen haben vor allem auch zahlreiche Projektteams auf der Basis praxisrelevanter Arbeiten Unternehmen gegründet und befinden sich damit de facto in einer Doppelanstellung. Viele dieser "Zwitterfirmen" verbinden dabei hohes technisches Niveau mit entsprechend erfolgreicher Arbeit - nicht selten übrigens für westliche Auftraggeber. Und genau diese Unternehmen sind es auch, die in erster Linie für Kooperationen mit ausländischen Partnern in Frage kommen.

Traditionsreiche Forschungsinstitute wie das Institut für Softwaresysteme (ISS) waren trotz aller widrigen Umstände bisher in der Lage, ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit zu erhalten. Das ISS bearbeitet im wesentlichen Auftragsprojekte mit einem hohen F&E-Anteil für staatliche Verwaltungen, Großunternehmen und ausländische Auftraggeber. So hat etwa die US-Fluggesellschaft Delta Airlines dort ein ukrainisches Entwicklungszentrum eingerichtet.

Größtes Defizit der Wissenschaftler ist und bleibt aber die Vermarktung ihrer, wenn man so will, kurz vor der kommerziellen Reife stehenden Entwicklungen. Mit anderen Worten: Für den "letzten Schliff" müssen in aller Regel westliche Partner sorgen. Als Beispiel für eine solche Lösung könnte man das von ehemaligen Mitarbeitern des Gluschkow-Instituts entwickelte "Window into World" nennen, ein Paket aus Audio- und Softwarekomponenten, das Behinderten die Arbeit mit dem Computer ermöglicht.

Doch wie können nun die in der Ukraine dringend erforderlichen Kooperationen und Joint-ventures angebahnt werden? Die Nationalagentur für Informatik beim Präsidenten der Ukraine (NAI) nimmt bis dato für sich die Führungsrolle in der Formulierung der staatlichen IT-Politik und -Programme in Anspruch. Sie koordiniert die internationalen Kontakte (zum Beispiel Messe-Auftritte auf der CeBIT), verteilt die im geringen Maße vorhandenen Fördermittel für die IT-Forschung und vergibt alle größeren staatlichen Projekte, die nicht selten erst auf internationalen Druck zustande kommen. Damit ist die NAI nicht nur Ansprechpartner für bereits in der Ukraine engagierte Firmen wie SNI und SAP, sondern auch erste Adresse für alle, die mit ukrainischen Unternehmen ins Geschäft kommen wollen.

IT-Messen gewinnen zunehmend an Bedeutung

Aufgrund seiner Brückenfunktion zwischen der ukrainischen IT-Industrie und ausländischen kommerziellen und wissenschaftlichen Organisationen ist aber auch der sogenannte Gluschkow-Fonds eine wichtige Adresse in der Ukraine. Sein Präsident, Anatolij Stognij, selbst ein Gluschkow-Schüler, will als Geschäftsführer des ersten privaten F&E-Institutes in der Ukraine innovativen IT-Firmen auf die Sprünge helfen. Dabei erhält er auch Unterstützung von der Eschborner Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die einen Teil des von Stognij organisierten CeBIT-Gemeinschaftsstandes "Informatik der Ukraine" finanziert.

Wer in der Ukraine nach möglichen Kooperationspartnern Ausschau halten will, kann aber auch die jährlich in Kiew stattfindenden IT-Messen besuchen. Als Kandidat für eine "nationale Leitmesse" kommt dabei vor allem die Enter-EX in Frage, die von der Firma Euroindex veranstaltet wird. Dieses Unternehmen hat aufgrund seiner Dienstleistungspalette (Marktforschungsprojekte, Firmenkataloge, Marketing-Services und Zeitschriften) wohl auch den besten Überblick über den ukrainischen IT-Markt.

Angeklickt

Alle Blicke westwärts gerichtet hat die von vielen Zeitgenossen unterschätzte ukrainische IT-Industrie. Die auch aus anderen Zusammenhängen bekannten Startschwierigkeiten in die postkommunistische Ära sorgen für die händeringende Suche nach westlichen Kooperationspartnern. Teil 1 des Streifzuges durch den Südwesten der ehemaligen Sowjetunion beschäftigt sich mit den strukturpolitischen Hemmnissen einer Öffnung des dortigen IT-Marktes. Der demnächst erscheinende Teil 2 beschreibt die für ausländische Investoren interessantesten Firmen.

*Mathias Weber ist Geschäftsführer des Unternehmensverbandes Informationssysteme e.V. in Berlin.