Expertensysteme können verstärkt als "Partner" für den Profi fungieren:

Überraschungseffekt erweitert Wissensspektrum

17.01.1986

Für den Fachmann ist es oft entscheidend, selbst in Randbereichen seines Spezialgebiets genau Bescheid zu wissen. Schützenhilfe bietet hier der Computer: Expertensysteme konfrontieren den Benutzer auch mit Teilaspekten eines Problems, an die der Mensch vielleicht nicht gedacht hätte. Walter Schöning * zeigt in seinem Beitrag auf, wie die KI-Software mit dem User umgehen sollte.

Expertensysteme entlasten Experten. Sie machen das Wissen von Fachleuten jederzeit und überall verfügbar. Die neue Technik ersetzt Experten. Das sind die gängigen Schlagworte in der Diskussion. Expertensysteme als Partner der Experten: Darüber ist bisher hingegen sehr wenig nachgedacht worden. Aber auch Fachleute können Nutzen aus Expertensystemen ziehen - und in bestimmten Fällen sind Expertensysteme überhaupt erst für Experten sinnvoll nutzbar.

Was leisten Expertensysteme? Oder besser gesagt: Welche Aufgaben haben die wenigen Produkte, die sich bisher wirklich im Einsatz befinden. Und wo liegen die Einsatzgebiete der vielen Systeme, die derzeit entwickelt werden. Schwerpunkte sind sicherlich die Bereiche Diagnose und Beratung. Sei es die Diagnose im medizinischen Bereich, die Fehlerdiagnose eines Autos oder die Identifizierung von Störungen in Überland-Telefonleitungen; sei es die Beratung bei Investitionsentscheidungen oder bei der Bedienung einer hochkomplizierten Maschine.

Abgeleitete Faustregel wird Systembestandteil

Die Hauptaufgabe des Expertensystems ist es dabei in jedem Fall, in eine Vielzahl unübersichtlicher Fakten und Regeln eine gewisse Ordnung zu bringen und einen sehr komplexen Lösungsmechanismus leichter anwendbar zu machen. Als Nebeneffekt stellen sich häufig Faustregeln als Abkürzung sehr differenzierter, aber doch präziser Schlußfolgerungen heraus, die dann auch in dieser Form Bestandteil des Systems werden können. Wird ein solches System noch - wie weithin üblich - mit einer guten Benutzerschnittstelle versehen, so bietet das Expertensystem auch dem Laien die Möglichkeit, sich in vertrackten Fragen Rat zu holen oder zutreffende Diagnosen zu stellen. Der Benutzer wird durch das System so geführt, daß er automatisch die notwendigen Informationen erhält.

So sehr diese Vorgehensweise in vielen Fällen zum Erfolg führt, stößt sie doch an zwei wesentliche Grenzen. Die erste ist, daß das zu lösende Diagnose- oder Beratungsproblem eine relativ eindeutige Lösung zulassen muß. Dabei soll unter eindeutig auch eine Lösung verstanden werden, die verschiedenen Möglichkeiten unterschiedliche Gewichtungsfaktoren zuordnet: So etwa lohnt es sich in Sichtweite eines Taxistandes selbst zum Stand zu gehen, wenn man ein Taxi braucht. Weniger empfehlenswert ist zu versuchen, von dort ein Taxi heranzuwinken und noch weniger Sinn macht es, auf eine gerade vorüberfahrende Taxe zu warten. Eine derartig eindeutige Problemlösung ist jedoch nicht immer möglich. Oft sind zwei Experten des gleichen Gebietes zu einem Fall sehr gegensätzlicher Ansicht, beide können die ihre sehr gut belegen, und wenn überhaupt, kann erst eine längere Diskussion zwischen ihnen die Situation weiter klären.

Die zweite Einschränkung liegt darin, daß die vollständige Analyse eines Falles oft sehr viele Daten erfordert, die nun der Reihe nach vom Expertensystem erfragt werden müssen. Das kostet Zeit. Die Auswertung und Kombination aller Einzeldaten ist ebenfalls zeitintensiv. Dies ist nicht weiter schlimm, wenn ein Grundstock von Daten ohnehin verfügbar ist und nur im Störungsfall die Änderung sehr weniger Einflußgrößen überprüft werden muß, und dies auch noch automatisch geschehen kann. Beispiel hierfür ist die Überwachung technischer Großanlagen durch Expertensysteme. Ganz anders ist die Situation jedoch beispielsweise bei der Neuaufnahme eines Falles in der Praxis eines Arztes oder in einer Klinik. Die Erfahrung hat zum Beispiel gezeigt, daß die Analyse eines Falles mit "Internist I", einem Expertensystem für Innere Medizin, durchschnittlich 45 Minuten dauert - und dies, trotz der Verfügbarkeit eines Spezialrechners in Form einer Lisp-Maschine. Welcher Arzt kann eine derart lange Konsultationszeit aufwenden?

Steht kein Expertensystem zur Verfügung, so ist die Konsequenz, auf viele Details zu verzichten, Faustregeln anzuwenden, viele mögliche Schlußfolgerungen nicht zu Ende zu denken - und somit in vielen Fällen wichtiges zu übersehen und letztendlich zum falschen oder nur bedingt richtigen Ergebnis zu gelangen. Genau dies aber soll ein Expertensystem vermeiden. Also braucht es entweder alle Details, um selber zu einem konsequenten Ergebnis zu gelangen. Oder aber es muß von vornherein darauf ausgerichtet werden, die Schlußforderungen eines kompetenten Benutzers zu kommentieren, zu kritisieren.

Dies aber bedeutet eine völlig neue Definition des Stellenwertes eines Expertensystems: Nicht nur das Wissen von Experten an weniger erfahrene Leute weiterzugeben, sondern auch andere Fachleute bei ihrer Arbeit zu unterstützen und ihnen die Möglichkeit zur Diskussion über schwierige Probleme zu bieten.

Derartige Anforderungen an ein Expertensystem sind nun leider noch wesentlich schwerer zu realisieren als die bisher bekannten Systeme. Sie setzen im Prinzip voraus, daß das System eine sehr offene Struktur besitzt, auf Anfragen der unterschiedlichsten Art reagieren kann. Außerdem kann es den Benutzer gelegentlich auch überraschen, weil es Wissen über verschiedene Randgebiete bereithält, die nicht direkt zu seinem eigentlichen Bereich gehören. Ein Expertensystem über Flugreisen etwa müßte auch darüber Bescheid wissen, daß zwischen Düsseldorf und Frankfurt eine schnelle Zugverbindung speziell für Fluggäste existiert. Außerdem sollte eine solche Software in der Lage sein, mehrere Aufgaben parallel zu bearbeiten, da der erfahrene Benutzer in der Regel weniger Zeit für eine neue Idee braucht, als das System zur Beantwortung.

Die Aufgabe des Expertensystems besteht also weniger darin, ein bei seiner Konzipierung klar formuliertes Ziel zu erreichen, etwa unter gegebenen Randbedingungen eine Kücheneinrichtung zu konfigurieren. Sinn ist vielmehr, den Benutzer auf seinem Weg zum Erreichen dieses Ziels zu begleiten und in seinem Entscheidungsprozeß zu unterstützen. Wobei der Benutzer durchaus auch im Laufe dieses Prozesses seine Meinung über bestimmte von ihm selbst getroffene Vorgaben ändern kann. Wollte das System dann jeweils an den modifizierten Punkten völlig neu ansetzen, wäre das Laufzeitverhalten nicht mehr akzeptabel.

Es müßte also eine Strategie implementiert sein, anders zum Ziel zu kommen, vorhandene Schlußfolgerungen aufgrund geänderter Prämissen möglichst nur leicht zu modifizieren, statt völlig zu verwerfen - also eine Technik, die beispielsweise bei Problemen optimaler Steuerung in der Numerischen Mathematik mit Erfolg angewandt werden kann. Ob sich derartiges auch bei Expertensystemen, womöglich sogar unabhängig vom jeweiligen Anwendungsbereich, theoretisch begründen und praktisch realisieren läßt, ist völlig offen.

Partnerschaftliches System wirft Designprobleme auf

Insgesamt ergibt sich also eine Vielzahl von Designproblemen für ein partnerschaftliches Expertensystem, deren Lösung keineswegs trivial ist. Hinzu kommt noch, daß schon die Gestaltung einer im herkömmlichen Sinne guten Benutzerschnittstelle Schwierigkeiten bereitet. Nun wird aber noch viel mehr gefordert, nämlich Wissen um Kommunikationsmechanismen und -strategien und deren Nachbildung durch ein Expertensystem.

Auf der anderen Seite sind wir hier wieder da angelangt, wo die Idee der Expertensysteme entstanden ist, nämlich bei "Künstlicher Intelligenz". Etwas, das über der Kommerzialisierung der bisher beherrschten Technologie leicht vergessen werden könnte - wenn nicht dieser Technologie ohnehin Grenzen gesetzt wären.

* Walter Schöning ist Geschäftsführer der Expertise Gesellschaft für Artificial Intelligence Software und Expertensysteme mbH, Berlin.