Uebernahme fuer 3,3 Milliarden Dollar geplant IBM will sich mit Lotus den Notes-Markt kaufen

09.06.1995

MUENCHEN (CW) - Mit einer unfreundlichen Uebernahme will sich die IBM Corp. den Groupware-Spezialisten Lotus Development einverleiben. Ein Angebot wurde am Dienstag dieser Woche von der eigens gegruendeten Big-Blue-Tochterfirma White Akquisition Corp. bei der amerikanischen Boersenaufsicht eingereicht. Demnach bieten die Armonker 60 Dollar pro Lotus-Aktie. Damit beliefe sich der Wert des ersten "unfriendly takeover" von IBM auf 3,3 Milliarden Dollar.

Zu dem Angebot ist es nach IBM-Leseart gekommen, weil sich das Lotus-Management nicht entschliessen konnte, eine "Geschaeftsverbindung" mit Big Blue einzugehen, ueber die bereits seit fuenf Monaten zwischen IBM Senior Vice-President John Thompson und Lotus-Chef Jim Manzi verhandelt wurde. Gerstners Brief an Manzi laesst an Deutlichkeit nicht zu wuenschen uebrig: "Da Sie nicht willens waren, eine solche Transaktion voranzutreiben, werden wir heute morgen unsere Absicht ankuendigen, alle ausstehenden Lotus- Anteile zu einem Preis von 60 Dollar je Aktie oder 3,3 Milliarden Dollar zu kaufen. (...) Wir glauben, dass das der schnellste und effektivste Weg ist, unsere Firmen zusammenzubringen."

IBMs Begehrlichkeit richtet sich nicht so sehr auf die Lotus- Applikationen, sondern auf das Groupware-Produkt Notes. Gerstner teilte den IBM-Mitarbeitern die Absichten des Konzerns mit: "Unser Ziel ist es, zusammen mit Lotus den Aufbau einer wirklich offenen, skalierbaren Computer-Umgebung zu beschleunigen, damit Menschen in Unternehmen sowie ueber Konzern- und Nationalgrenzen hinweg miteinander arbeiten und kommunizieren koennen."

Gedanken ueber inkompatible Hard- und Software sollen dann der Vergangenheit angehoeren. Eine plattformunabhaengige Groupware ermoegliche es, die Staerken monolithischer Mainframes mit den Errungenschaften der PC-Revolution zu vereinen. Damit trete die IT-Industrie nach Grossrechnern und PCs in eine dritte Phase ein. Sie wird laut Gerstner durch eine Netzwerktechnologie gekennzeichnet sein, die alle in einem Unternehmen vorhandenen Rechner - gleichgueltig ob Mainframes oder PCs - miteinander verbindet.

Dabei handele es sich nicht um ein hierarchisches Netz, sondern um eine "Welt, in der alle Anwender auf horizontalen Ebenen miteinander reden koennen." An dieser Art des "collaborative"- oder

"Team"-Computing bestehe bei IBM-Kunden enormer Bedarf.

"Lotus hat im Desktop-Sektor eine sehr starke Position - sehr, sehr starke Produkte, Erfahrungen und einen guten Ruf", sagte Gerstner. "Unsere gemeinsamen Faehigkeiten ergaenzen sich in atemberaubender Weise." IBMs Staerken duerften dabei in erster Linie im Finanz- und Maketingbereich liegen.

Aufgrund der deutlichen kulturellen Unterschiede zwischen den Unternehmen, koennten die wichtigsten Koepfe Lotus den Ruecken kehren, wenn der Deal zustande kommt. Wohl um groesseren Abwanderungen zuvorzukommen, sicherten die Armonker den Softwerkern aus Cambridge zu, dass das Unternehmen "intakt" gehalten und weiterhin vom heutigen Standort aus geleitet wuerde. Ausserdem erhalte Lotus die Verantwortung fuer komplementaere IBM- Software-Produkte.

Allerdings steht noch nicht fest, ob die Uebernahme zu IBM- Bedingungen ueber die Buehne geht. Zum einen ist der Aktienkurs der Lotus Corp. nach Bekanntwerden des Angebots von 28,93 auf 61,43 Dollar gestiegen. Das koennte den Kauf der Anteilsscheine fuer die IBM verteuern. Ausserdem erschwert eine von Lotus initiierte Abwehrstrategie - im amerikanischen "Poison Pill" genannt - den Armonkern moeglicherweise den Handstreich. Gerstner rechnet jedoch mit keinen grossen Schwierigkeiten.

Auch ein "White-Knight"-Szenario - ein Lotus wohlgesonnener Investor, der das Angebot der IBM ueberbietet - ist unwahrscheinlich. Angesichts der mit 10,5 Milliarden Dollar gefuellten Kriegskasse, wuerde sich jedes Investmenthaus schwer tun, einen Uebernahmekampf gegen Big Blue zu gewinnen. Zwar kursierten bei Lotus am Montag Geruechte, wonach AT&T das Angebot auf 70 Dollar pro Lotus-Aktie in die Hoehe schrauben wolle, aber da war offenbar der Wunsch Vater des Gedankens. Das "Wall Street Journal" berichtete, AT&T sei nicht an der 1-2-3-Company interessiert; zumal die Vertraege zwischen den Telefongiganten und Lotus bezueglich Notes bestehen bleiben sollen.

Lotus zeigte sich von dem Uebernahmeversuch ueberrascht, schloss allerdings eine Einigung mit IBM nicht aus.