Eine Wissenschafts-Stadt mit Weltausstellung:

Tsukuba öffnet dem Fortschritt die Tore

07.06.1985

Die Expo 85 machte es möglich: Tsukuba, die Wissenschafts-Stadt vor den Toren Tokios, rückte plötzlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Neben dem Veranstalterland Japan zeigen Aussteller aus 47 Staaten sowie 37 Internationale Organisationen das Neueste aus Wissenschaft und Technik. Angelika Lukat, Dozentin für Informations- und Kommunikationstechnologie, sah sich in Tsukuba um.

Über die "International Exposition, Tsukuba, Japan, 1985" berichten die Medien in aller Welt Sensationelles. Auf dieser "Olympiade des Erfindergeistes" - wie die Expo beispielsweise charakterisiert wird - werden mit Milliardenaufwand menschenähnliche Roboter zum laufen gebracht. Aus Eisquadern schält sich tiefgekühlte Motorenkunst heraus, Computer unterhalten Kinder und zeichnen sie währenddessen.

An vielen Anwendungen kombinierter Computer-, Büro- und Nachrichtentechnik wird deutlich, daß bereits viele digitalisierte interne Netzwerke eingerichtet sind, daß eine Anzahl von öffentlichen und 55 private Datenübertragungs-Netze sowie 18 kommerzielle Datenbankdienste genutzt werden. Zum Beispiel ein "Quick Index Board" für ökonomische Informationen, Online-Informationsdienste für Benutzer von Mikrocomputern, "Teletext", das unserem Videotext aus den Fernsehanstalten entspricht, sowie elektronische Übermittlung von Hardcopies von Texten, Grafiken und Bildern, von Fernsehanstalten und Verlagen auf Faksimilegeräte von Kunden.

In Bereich der Forschungsprojekte versuchen deutsche und japanische Wissenschaftler gemeinsam, Einflußfaktoren für technologische Neuerungen herauszufinden.

Für diese Kooperation kamen bereits Anfang der achtziger Jahre japanische Wissenschaftler für mehrere Jahre nach Deutschland. Während sich hier nach Abschluß der Forschungsprojekte die lnstitutionen anderen Themen zuwandten, erweiterten die japanischen Kollegen in ihrer Heimat die Forschungsergebnisse und deren organisierte Anwendung. Außerdem wurde über zehn Jahre lang ein mindestens jährlicher Erfahrungsaustausch mit den deutschen Kollegen über neue Experimente und Anwendungen gepflegt. Viele Anregungen kamen von Professoren der Universität und der Institute in Tokio, in den letzten Jahren zunehmend aus Tsukuba.

Von Tokio aus ist die Wissenschaftsstadt in 60 Kilometer Entfernung nordwestlich in der Ibaraki-Präfektur zu suchen. Sie umfaßt sechs Ortschaften und erstreckt sich über ein Gebiet von rund 29 Hektar.

Tsukuba ist nicht über Jahrzehnte nach Belieben und Bedarf einzelner Institutionen gewachsen. Die Stadt wurde vielmehr von der japanischen Regierung als Übersiedlung von ausgewählten staatlichen Forschungsinstituten und Verwaltungen aus Tokio geplant und in Etappen zwischen 1961 und 1981 ausgebaut.

Ausschlaggebend war zum einen, daß die Forschungs- und Bildungseinrichtungen in der Hauptstadt keine räumlichen Erweiterungsmöglichkeiten mehr hatten. Zum anderen wollte die Regierung im großen Maßstab ein reformiertes Universitätsmodell einführen, das im Gegensatz zu den alten staatlichen und privaten Hochschulen stand.

Eine nationale Wissenschaftsmetropole

Japans Politiker hatten nach einem Besuch der sowjetischen Wissenschaftsstadt Akademgorodok und der Universität von Novosibirsk die Idee der konzentrierten Wissenschafts-Institutionen aufgegriffen. Ohne deren zentralisierte Leitung in ihrem Konzept vorzusehen, übertrugen sie das Modell auf ihre Anforderungen.

Für den Neubau der "Tsukuba Science City" wurde 1970 ein Gesetz beschlossen. Die Wissenschaftsstadt sollte Forschungs- und Bildungs-lnstitutionen zusammenbringen, damit umfassendere Vorhaben ermöglicht und leichter koordiniert werden können. Es sollten bessere Voraussetzungen für die Umsetzung neuer staatlicher und gesellschaftlicher Anforderungen an Forschung und akademische Bildung geschaffen werden.

Zwischen 1966 und 1980 wurden für 43 japanische Forschungs- und Bildungs-lnstitutionen neue Gebäude und Forschungsanlagen gebaut und in Betrieb genommen.

Heute sind dort zwei Universitäten, 31 staatliche Forschungszentren, sieben andere staatliche Einrichtungen, sechs staatliche Unternehmen und sieben privatwirtschaftliche Institute angesiedelt. 26 Firmen haben einen Teil ihrer Forschüngs- und Entwicklungs-Einrichtungen in der Nähe. Etwa ein Drittel aller staatlichen Forschungseinrichtungen Japans ist in Tsukuba konzentriert, mit etwa 40 Prozent des japanischen Forschungspersonals und einem Anteil von 40 Prozent des Forschungs- und Entwicklungs-Etats der Regierung.

Von den über 142 000 Einwohnern sind über 30 000 Personen für Tätigkeiten an den wissenschaftlichen Einrichtungen beziehungsweise als deren Angehörige zugezogen. Mit 37 wissenschaftlichen Institutionen die von Tokio in diese Region umzogen, kam bereits ein beträchtlicher Anteil der insgesamt über 11 400 Beschäftigten - davon 6500 Wissenschaftler - nach Tsukuba.

Die Hochschulen gehören zusammen zu einem Organisationssystem mit Präsident, Universitätssenat, einem gemeinsamen Sekretariat und zahlreichen Beratungsausschüssen und Komitees.

Die Bildungseinrichtungen sind modern ausgestattet. Zusätzlich wurden gemeinsame Zentren eingerichtet, beispielsweise das Wissenschaftliche Informationsverarbeitungs-Zentrum mit Großrechnern und einem großen Angebot an Online-retrieval-Dienstleistungen. Hinzu kommen 29 Literatur-Datenbanken, die rund um die Uhr von 450 Terminals aus und über 49 Wählleitungen mit Anleitung und Beratung für Studenten, mit Software für Verwaltungsarbeiten und Managementaufgaben, Literatur Recherchen, Forschungs und Entwicklungs-Funktionen genutzt werden können.

Außerdem bietet ein Medienzentrum- für die Lehrkräfte - alle Arten von Lehr- und Lernmedien zusammen mit einem Beratungs- und Dienstleistungs-Service an. Auch die Entwicklung von Software für den Unterricht gehört dazu.

Gemanagte Forschung in Instituten

Um in der Universität Tsukuba neue interdisziplinäre und weitreichende Forschung zu ermöglichen, bilden die Forschungsinstitute und Großprojekte ein eigenes Organisationssystem mit Management, Fakultäts-Räten, Fakultäts-Mitgliedern (sogenannte ordentliche, außerordentliche und Assistenz-Mitglieder), Professoren und Assistenten, besonderen technischen Einrichtungen, Projekten, Fachseminaren und Konferenzen. Aus diesen Organisationseinheiten wird ein Teil der Aktivitäten den Aus- und Fortbildungseinrichtungen zur Verfügung gestellt.

Kooperation zwischen verschiedenen Instituten oder mit anderen Einrichtungen in Tsukuba ist zwar gewünscht, aber nach Meinung einiger Professoren noch nicht in dem anvisierten Ausmaß verwirklicht. Nach Äußerung eines amerikanischen Besuchers wird in Tsukuba eine ideale interdisziplinäre Kooperation durch die Zuständigkeit zu vieler verschiedener Gremien und einflußnehmender Regierungsstellen behindert. Aus japanischer Sicht wird die Ursache in der jedem Forscher zugebilligten Freiheit individueller Forschung gesehen.

Entsprechend ihrer fachlichen Spezialisierung gehören die einzelnen Wissenschaftler zu je einem der 26 Institute, die Fachgruppen beziehungsweise Fakultäten darstellen. Dieses sind beispielsweise Informationswissenschaften und Elektronik, angewandte Physik, Chemie, angewandte Biochemie, Geowissenschaften, Materialwissenschaften, Mechanik, Land- und Forstwirtschaft, Biologie, Sozialwissenschaften, sozioökonomische Planung, Erziehungswissenschaften, Psychologie, Literatur, Sprachen, Kulturen, Anthropologie, Geschichte oder Philosophie.

Bekannt wurden beispielsweise die Arbeiten von Hisao Hayakawa an Computer-Hardware der fünften Generation sowie ein Josephson-8-Bit-Rechner auf einem quadratischen Silikonchip, der lediglich fünf Millimeter Kantenlänge hat. Das Elektronische Laboratorium beschäftigt sich mit Computern, deren Software die Funktionen der Hardware und anderer Programme kontrollieren und korrigieren kann (Künstliche Intelligenz). Auch Rechner, die in akustisch-sprachlicher Form mit Benutzern im Dialog kommunizieren, können, automatische Übersetzungen zwischen mehreren Sprachen leisten und nach eingegebenen Datenschutzregeln arbeiten, stellen einen Forschungsgegenstand dar.

Einzelkämpfer sind nur selten gefragt

Mit Zuschüssen finanzieren das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie japanische Gesellschaften zur Förderung der Wissenschaften Reisen der Wissenschaftler. Aber auch einfache Lehrer, die eine halbjährliche Fortbildung erfolgreich abgeschlossen haben, bekommen die Chance, ausländische Forschungs- und Bildungseinrichtungen zu besuchen. Diese Förderung spezialisierter "Einzelkämpfer" ist in Japan außergewöhnlich. Viel häufiger, als in Europa oder Nordamerika üblich, fördern und bilden die Japaner in allen Berufen

Gruppen, mit denen sich die Mitglieder identifizieren und Erfolg sowie

Mißerfolg gemeinsam verkraften.

Die Wissenschaftler werden je nach Bedarf der Colleges aus den Instituten angefordert und werden als Lehrkräfte beauftragt, ihre Spezialkenntnisse in den Bildungseinrichtungen zu unterrichten.

Für die rund 90 000 Studenten ist die Ausbildung mit hohem Einsatz verbunden. Aufnahmeprüfungen gibt es an allen Hochschulen. Bereits dafür müssen Gebühren bezahlt werden. Die staatliche Universität Tsukuba liegt mit ihren Gebühren niedriger als die privaten japanischen

Universitäten. Die Einschreibungs Unterrichts- und Prüfungsgebühren

betragen umgerechnet etwa 4800 Mark pro Jahr vor der Graduierung

und etwas mehr danach.