Gastkommentar

Trotz Katerstimmung jetzt schon von Europa profitieren

21.01.1994

Ein vereinigtes Europa mit synchronisierter Gesetzgebung beraubt die einzelnen Mitgliedsstaaten ihrer Individualitaet." Diese Ansicht bildet die Grundlage mancher Reserviertheit, gar mancher Befuerchtung gegenueber den Maastrichter Vertraegen. Die Angst vor dem "Euro-Pudding", dem europaeischen Einheitsbrei, geht um.

Die Warnung vor einem Verlust nationaler Eigenheiten ist insofern verstaendlich, als sich gerade in diesen Besonderheiten Kultur und Tradition der Laender ausdruecken. Diese sind allemal schuetzenswert, und wer um sie fuerchtet und sich fuer ihren Erhalt einsetzt, macht sich verdient.

Fraglich ist allerdings, ob die Angst tatsaechlich begruendet ist, ob hinter den Befuerchtungen nicht auch ein gewisses Mass an aus Traegheit geborener Weltverschlossenheit steht. Die neuen wirtschaftlichen Bedingungen, die sich mit dem Zusammenwachsen der nationalen Maerkte zum europaeischen Binnenmarkt ergeben, verlangen von seinen Teilnehmern eine deutlich erhoehte Aktivitaet und die Faehigkeit, sich an veraenderte Bedingungen anzupassen. Gerade in dieser Anforderung aber liegt die Chance, von Europa zu profitieren.

Die Voraussetzung hierfuer ist freilich die Bereitschaft, von altgewohnten Vorstellungen Abschied zu nehmen, europaeisch zu denken und zu handeln. Meiner Einschaetzung nach werden sich gerade die deutschen Softwarehaeuser in ihrer seit jeher vornehmlich lokalen Orientierung damit schwertun. Der zusammengewachsene Binnenmarkt ist der weltweit groesste Informatikmarkt. Das heisst auch: Mit der Groesse wachsen sowohl Angebot als auch Nachfrage, der Wettbewerbsdruck wird staerker. Um hier bestehen zu koennen, bedarf es der Beantwortung dreier Hauptfragen:

-Wie erlange respektive sichere ich mir den Zugang zum sich veraendernden Markt?

-Wie halte ich meine Kosten im Griff?

-Welche Potentiale kann ich erschliessen?

DV ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Optimierung von Geschaeftsprozessen. Der DV-Anbieter muss, um seine Aufgabe bestmoeglich zu erledigen, bildlich gesprochen in der Lage sein, in den Gehirnwindungen seiner Kunden observierend spazierenzugehen. Nur so kann er die Anforderungen des Anwenders verstehen und eine bedarfsgerechte Loesung entwickeln. Nach der Installation muss er in der Lage sein, seine Loesung an sich veraendernde Bedingungen anzupassen und dem Anwender kontinuierlichen und bedarfsgerechten Service zu bieten.

Waehrend diese Grundanforderungen an erfolgreiche DV-Dienstleistung national noch im Alleingang zu erfuellen sind (weshalb die Bereitschaft, Partnerschaften einzugehen, in Deutschland nicht sehr ausgepraegt ist), sind auf internationaler Ebene strategische Allianzen unverzichtbar. Nur die unternehmensuebergreifende Zusammenarbeit vor Ort ermoeglicht die Bereitstellung des vollen Leistungsspektrums ohne groessere Erhoehung der Kosten. Als Softwarelieferant und Serviceunternehmen fuer die Versorgungsindustrie mit starker Verankerung in der Versorgungsbranche stellte sich uns schon vor laengerer Zeit die Frage, wie in einem stark eingegrenzten Markt dennoch der Zugang zu neuen Absatzpotentialen erreicht werden kann. Die Antwort hierauf lautete: Entgrenzung, also Engagements ueber den nationalen Tellerrand hinaus.

Nach dem sprachlich nahegelegenen Oesterreich boten sich die Niederlande als fremdsprachlicher Testmarkt an. Als dort ein Partner gefunden worden war, begann fuer uns schon 1989 ein kleiner Binnenmarkt. Seither haben wir einiges an Lehrgeld gezahlt, noch mehr aber gewonnen.

Die Anpassung des Produktportfolios an die Anforderungen auslaendischer Anwender bringt ein grosses Lernpotential mit sich und macht Mitarbeiter und schliesslich auch das Gesamtunternehmen flexibler und leistungsfaehiger. Der Kostendruck zwingt dazu, eine Balance zwischen standardisiertem Vorgehen und individueller Anpassung zu erzielen, die zugleich praktikabel und wirtschaftlich ist. Im Bemuehen um kostenguenstige, servicefreundliche und bedarfsgerechte Loesungen fuer verschiedene Anforderungen wird schnell deutlich, dass die Losung nicht Integration um jeden Preis, sondern Standardisierung des Angebotskerns (Software und Services) heissen muss.

Diese auf auslaendischem Terrain gewonnenen Erfahrungen kommen einem dann auch im Inlandsgeschaeft zugute. Wenn in Deutschland, wie es derzeit diskutiert wird, die Grenze fuer vorsteuerpflichtige Einnahmen gesenkt wird, sorgt das nicht nur fuer staatliche Mehreinnahmen in dreistelliger Millionenhoehe, sondern sicher auch fuer einige Unruhe in den DV-Abteilungen. In den Niederlanden ist die hierzulande angestrebte Regelung bereits Praxis.

Ein aehnlicher Fall waren die neuen Postleitzahlen. In den Niederlanden entschied man sich schon frueher fuer ein derartiges System. Bei unseren Kunden in Rotterdam und Arnheim zum Beispiel waren 1,2 Millionen Adressen umzustellen. Da wir alle damit verbundenen Probleme schon damals loesen mussten, konnten wir unsere Aufgabe in Deutschland routiniert angehen. Dass die Leitdaten der Postdatei nicht ganz den Standard der Daten von den niederlaendischen Kollegen erreichen, ist ein anderes Thema.

In Oesterreich und den Niederlanden stellten wir fest, dass Versorgungsunternehmen mit ihrer Software nicht nur Gas, Wasser und Strom abrechnen wollen, sondern auch Posten wie Fernseh- und Radiogebuehren, ebenso weitere Services und Mieten, in Linz sogar Gebuehren, die durch den Hafenbetrieb anfallen. Wir haben die neuen Herausforderungen angenommen, mit dem Erfolg, dass wir unser Leistungsangebot ueber den nationalen Bedarf hinaus erweitern und damit neue Erfahrungen auch fuer den Heimatmarkt gewinnen konnten.

Ohne den Mut, sich neuen Aufgaben zu stellen, und die Bereitschaft, sie zusammen mit strategischen Partnern zu bewaeltigen, kommt man nicht weiter als viele andere und ist schlecht vorbereitet auf die Verwirklichung des Binnenmarktes.

Vor allem jetzt, wo die Europa-Euphorie abgeklungen und einer Ernuechterung gewichen ist, wo die wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht gerade rosig sind und das Backen eher kleinerer Broetchen angesagt ist, gilt es, europaeisch zu denken, das heisst, europaeische Chancen zu nutzen. Sich in Katerstimmung allein auf die Maerkte vor der Haustuer zu konzentrieren - seien es die angestammten, seien es die ostdeutschen -, kaeme dem Verzicht auf zukuenftige Wettbewerbspositionen gleich.

Deshalb laesst sich auf den Eingangssatz antworten: Wer sich gegen die Veraenderungen straeubt, die ein vereinigtes Europa mit sich bringt, vergibt die Chance, an neuen Anforderungen zu wachsen. Damit beraubt man sich grosser Moeglichkeiten, die nicht zuletzt aus nationaler und internationaler Kooperation entstehen. Wenn die deutsche Software-Industrie sich mehrheitlich weiter wie bisher nur mit sich selbst beschaeftigt, wird sie gegenueber kooperationsfreudigeren Mitbewerbern - ich denke da zum Beispiel an die Franzosen - bald ins Hintertreffen geraten.