Trennung zwischen Entwurf und Implementierung ueberwunden Outsourcing als Chance zum Business Process Engineering Von Volker Gruhn*

17.09.1993

Die Veba Immobilien AG, Bochum, hat im Zuge einer Outsourcing- Massnahme ihre interne Informationsverarbeitung in die Lion Gesellschaft fuer Systementwicklung integriert. Damit war der Auftrag verbunden, eine neue Bau- und Wohnungswirtschaftssoftware zu entwickeln, die alle wichtigen Geschaeftsprozesse unterstuetzen sollte.

Eine Anforderung an den Outsourcer war, dass die neue Software nicht nur auf Grossrechnern, sondern auch auf einer Unix-Plattform laufen koennen sollte. Der Auftragnehmer hatte sowohl Kenntnisse der Bau- und Wohnungswirtschaft sowie der Software-Entwicklung auf Grossrechnern als auch Know-how ueber Konzepte des Geschaeftsprozess- Managements und des Software-Engineerings in Unix-Umgebungen vorzuweisen. Aus dieser Situation heraus entstand die Idee, das Downsizing der Rechnerplattform mit dem Redesign der betrieblichen Ablaeufe zu verbinden. Outsourcing wurde als Chance zum Business Process Engineering (BPE) aufgefasst. Das fuehrte zu einem zweistufigen Vorgehen bei der Entwicklung der neuen Bau- und Wohnungswirtschaftssoftware. Im ersten Schritt ging es um die Bereitstellung von unterstuetzenden Werkzeugen. Integrierte BPE- Tools, die sowohl Modellierung als auch Durchfuehrungsunterstuetzung fuer tatsaechliche Prozesse bieten, waren am Markt nicht verfuegbar. Oft jedoch konnten isolierte Werkzeuge gefunden werden, die ausgezeichnet fuer Einzelschritte des BPE geeignet waren. Einige Werkzeuge mussten also neu entwickelt werden. Sie sollten die verstaendliche und intuitive Modellierung von Geschaeftsprozessen unterstuetzen, so dass die erstellten Modelle als Kommunikationsgegenstand zwischen den Anwendungsentwicklern und den Kunden dienen konnten.Weiterhin sollten die den Entwicklern anzubietenden Werkzeuge die Durchfuehrung realer Prozesse auf der Basis der zuvor erstellten Modelle ermoeglichen. Das heisst, die in den Modellen festgelegten Reihenfolgen von Aktivitaeten und die Verantwortungen und Rechte einzelner Anwender waehrend der Prozesssteuerung mussten beruecksichtigt werden. Also verhalten sich tatsaechliche Prozesse wie im Modell festgelegt.

In einer solchen Umgebung dienen die Prozessmodelle zum einen als Kommunikationsgegenstand im Sinne eines traditionellen Fachkonzepts und zum anderen als Grundlage zur Steuerung der tatsaechlichen Prozesse. Die Trennung zwischen Entwurf und Implementierung, die in allen an Wasserfallmodellen orientierten Entwicklungsumgebun- gen zu finden ist, kann damit ueberwunden werden.

Im zweiten Schritt nutzen die Anwendungsentwickler diese Werkzeuge, um die Prozesse der Bau- und Wohnungswirtschaft zu modellieren und dann beim Anwender zu installieren. Diese beiden Schritte (Bereitstellung und Nutzung von Werkzeugen) sind eng miteinander verzahnt. Die Modellierungswerkzeuge wurden von den Anwendungsentwicklern eingesetzt, waehrend gleichzeitig die Prozesssteuerungs-Tools vervollstaendigt wurden. Die Lion- Entwicklungs- umgebung (LEU) laeuft unter dem Unix-Betriebssystem Sunos, hat eine Motif-Oberflaeche und basiert auf der Oracle- Datenbank (vgl. Abbildung 1).

Die Tools erlauben die Modellierung der den Prozessen zugrundeliegenden Daten mit Hilfe eines grafischen Entity-Rela- tionship-Editors. Ablaeufe werden mit Hilfe von Funsoft-Netzen modelliert. Das sind abstrakte Petrinetze, die fuer die Modellierung arbeitsteiliger Prozesse geeignet sind. Im Gegensatz zu den meisten Datenflusssprachen haben sie eine formale Semantik, so dass sie als Grundlage der Prozesssteuerung benutzt werden koennen. Zur Modellierung von Beziehungen zwischen beteiligten Stellen und zur Definition von Berechtigungen und Verantwortlichkeiten werden ein grafischer Organigramm-Editor und ein Berechtigungs-Editor angeboten. Weiterhin beinhaltet die Entwicklungsumgebung eine Generierungskomponente, die Standardbearbeitungsdialoge aus den in Datenmodellen erfassten Informationen generiert, und einen Dialog-Editor, der den Entwurf individueller Bearbeitungsdialoge unterstuetzt. Die Integration der mit diesen Werkzeugen erfassten Information macht es moeglich, alle Aspekte von Geschaeftsprozessen zu beruecksichtigen und zueinander in Beziehung zu setzen (vgl. Abbildung 2).

Waehrend der Prozesssteuerung, die alle in der Modellierung erfassten Informationen beruecksichtigt, werden Aufgaben an die Arbeitsplaetze der Anwender geschickt. Diese Arbeitsplaetze koennen entweder X- Terminals oder PCs, die unter einer X-Terminalemulation laufen, sein. Die Prozesssteuerungskomponente laeuft auf einer Sun-Maschine. Grosse Datenmengen koennen auf einen eigenen Daten-Server ausgelagert werden. Diese kann auch ein Grossrechner sein.

Die derart zusammengefassten Werkzeuge werden zur Definition neuer, schlankerer Geschaeftsprozesse verwendet. "Die grafische Modellierung von Daten, Ablaeufen und Organigrammen sowie ihre Integration hat die Kommunikation mit dem Kunden erleichtert und die Bereitschaft, Aenderungen vorzunehmen, erhoeht. Auf diese Weise koennen wir die zu unterstuetzenden Prozesse jederzeit modifizieren", erlaeutert Reinhard Mengel, Leiter der Anwendungsentwicklungsabteilung bei Lion. Er raeumt indes ein, dass die Verwendung der selbst erstellten Werkzeuge zu Beginn kritisch hinterfragt wurde und es einer gewissen Ueberzeugungsarbeit bedurfte, die Grundideen der teilweise radikalen Umgestaltung von Geschaeftsprozessen zu vermitteln..