Expertensysteme geben Unterstützung bei der Lösung von Umweltproblemen, denn:

Traditionelle DV versagt in vielen Fällen

13.06.1986

Viele Probleme im Bereich Umweltschutz konnten mit Hilfe der konventionellen Datenverarbeitung bisher nicht oder nur unzureichend gelöst werden. Die regel- und objektbezogene Programmierung von Expertensystemen bietet hier nunmehr einen vielversprechenden Lösungsansatz. Margret Hälker * stellt das Demo-Projekt der Siemens AG vor.

Die Bedeutung des Umweltschutzes ist in den letzten Jahren immer mehr gestiegen. Daraus resultieren vielfältige Anfragen an die wenigen Fachexperten für Umweltschutz, die über langjährige Erfahrungen verfügen. Diese Anfragen kommen aus einem Personenkreis, der von seiner Ausbildung und seiner beruflichen Aufgabenstellung her primär aus einer anderen Fachrichtung kommt, sich aber bei den täglichen Fragestellungen mehr und mehr mit der Umweltproblematik auseinanderzusetzen hat. Dieser Personenkreis ist in dem hier dargestellten Projekt der typische Anwender des Expertensystems.

Ein Expertensystem soll die wenigen Experten auf den einzelnen Gebieten bei ihrer Arbeit entlasten. Eine Reihe von Fragen, bei denen bisher der Umnweltschutzspezialist zu Rate gezogen wurde, sollen nun vom Expertensystem beantwortet werden. Die KI- Software hat also einen möglichst hohen Anteil der immer wiederkehrenden Fragen abzudecken. In den Fällen, in denen die Grenzen des Systems überschritten werden, wird der Umweltschutzexperte selbstverständlich nach wie vor befragt. Die Verbindung zwischen Anwendern und den Experten darf also nicht verlorengehen. Ziel muß es sein, dem Anwender ein effektives Instrument bei der Lösung seiner Probleme an die Hand zu geben und den Experten zu entlasten.

Problemkreis ist selbst für Fachleute oft zu komplex

Der zweite Gesichtspunkt war die Komplexität der zu behandelnden Probleme. Die Beeinflussung von Luft, Boden und Wasser durch eine industrielle Anlage oder die verschiedenen Grenzwerte bei einer fast unübersehbaren Anzahl von Stoffen sind selbst von einem mit der Thematik vertrauten Fachmann nicht immer sofort zu überschauen. Die Zeit, die aufgewendet werden muß, um diese Zusammenhänge zu ermitteln, kann beträchtlich sein. Hier kann ein mit dem entsprechenden Wissen ausgestattetes System dem Experten eine große Zeitersparnis bringen.

Ein Beispiel aus dieser Problemkategorie ist die Umweltverträglichkeitsprüfung.

Das Projekt "Umweltschutz" soll vor allem den neu einzuarbeitenden Anlagenplaner unterstützen, der bisher mit den Umweltfragen wenig Erfahrungen gemacht hat. Angesprochen ist auch der vor Ort für eine Anlage Verantwortliche, der normalerweise ein Umweltschutzbeauftragter ist. Hierbei handelt es sich um Techniker oder Ingenieure, die über keine umfangreiche Ausbildung im Umweltrecht verfügen. Daraus folgt, daß sie nicht alle für ihr Problem relevanten Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und Grenzwerte kennen.

In einer solchen Situation wenden sie sich an eine Beratungsstelle oder an ein Institut, das diese Hilfestellungen anbietet. In diesen Organisationen arbeiten Experten, die dem Anwender sagen, welche Faktoren in dem konkreten Fall zum Tragen kommen. Handelt es sich um einen juristisch sehr komplizierten Fall, dann ziehen diese Stellen einen Juristen für Umweltrecht hinzu. Um Mißverständnisse auszuschließen, soll deutlich darauf hingewiesen werden, daß das System keinerlei Gesetzesinterpretationen vornehmen soll. Die eigentliche Aufgabe des Juristen bleibt davon unberührt.

Abbildung 1 zeigt die Zusammenhänge zwischen den beteiligten Gruppen. Der Wissensingenieur implementiert die Fakten, Regeln und Tabellen, die von einem Experten geliefert werden. Im vorliegenden Fall ist dies eine Person, die sowohl über ein sehr umfangreiches Wissen im Bereich Umweltrecht und über weitreichende Erfahrungen bezüglich der Auslegung von technischen Anlagen verfügt. Da das System für Techniker und Ingenieure entwikkelt werden soll, muß deren Terminologie und Vorgehensweise bei der Strukturierung der Wissensbasis berücksichtigt werden.

Ziel des vorliegenden Demomodells war es, die grundsätzliche Machbarkeit dieses Projektes zu zeigen. Es wurde unter Zuhilfenahme eines Werkzeuges innerhalb von acht Wochen im Auftrage und in Zusammenarbeit mit der Kraftwerk Union AG, Erlangen, entwickelt. Als Benutzer standen neu einzuarbeitende Anlagenplaner und die Umweltschutzbeauftragten der einzelnen Betriebe im Vordergrund. Der Experte hatte sich über einen längeren Zeitraum in die Thematik, welche Umweltrechtinformationen der Benutzer braucht, eingearbeitet. Dieses Wissen wurde in das Expertensystem aufgenommen.

Folgendes Ziel wird angestrebt: Das Gesamtsystem besteht aus zwei Komponenten. Eine Datenbank enthält alle Gesetze, Verordnungen und Regelungen. Dieses DB- System wird mit einem Steuerungsteil, dem Expertensystem, gekoppelt. Der Steuerungsteil ermittelt die Wünsche des Benutzers und bestimmt, welche Informationen aus der Datenbank herausgesucht werden müssen. Die Arbeitsweise des Steuerungsteils wird nun näher erläutert (Abbildung 2).

Die Anwender haben unterschiedliche Aufgabenstellungen. Im Modell sind folgende Möglichkeiten vorgesehen: Abfragen allgemeiner Informationen, Genehmigungsverfahren und Grenzwerte. Nach dem Konsultationsstart wird der Anwender gefragt: " Zu welchen Themen möchten Sie Angaben?" Wählt der User allgemeine Informationen aus, dann lautet die nächste Frage, für welche Gesichtspunkte aus den Hauptgesetzen sich der Benutzer interessiert. Wieder besteht die Möglichkeit, die Antwort aus einem Menü herauszusuchen. Es besteht die Wahl zwischen Begriffsdefinitionen, Pflichten, Sanktionen. Jetzt werden zuerst die Informationen aus den übergeordneten Umweltgesetzen, das heißt dem Wasserhaushaltsgesetz, dem Abwasserabgabengesetz, dem Bundesimmissionsschutzgesetz und dem Abfallbeseitigungsgesetz ermittelt.

Benutzer kann Lösungspfad selbst bestimmen

Hat sich der Anlagenplaner bei der Auswahl der Gesichtspunkte zum Beispiel auch für genehmigungspflichtige Tatbestände entschieden, dann gilt in dem Wasserhaushaltsgesetz ein- Paragraph, der einen Querverweis zu einer Rechtsverordnung über wassergefährdende Stoffe in Rohrleitungen enthält. An dieser Stelle wird der Benutzer gefragt, ob in den vorhandenen Rohrleitungen wassergefährdende Stoffe vorhanden sind. Folgende Antworten stehen zur Auswahl:

- Er möchte vom System Hilfestellungen, um sich erklären zu lassen, ob die beschriebene Situation vorliegt.

- Zur Zeit besteht kein Interesse an solchen Informationen, unabhängig ob solche Stoffe in den Rohrleitungsanlagen vorliegen oder nicht.

- Es liegen solche Stoffe in den Rohrleitungen vor.

- Solche Stoffe liegen in den Rohrleitungsanlagen nicht vor.

In Abhängigkeit von der Antwort beschreitet das System jeweils einen anderen Pfad. Wichtig ist, daß der Benutzer jederzeit den zu beschreitenden Pfad und den Detaillierungsgrad selbst bestimmen kann. Versteht der Anwender eine Frage nicht, soll das System Hilfestellungen und Erklärungen zu der Frage liefern. Darüber hinaus sollen Grafiken das Verständnis erhöhen.

Wählt der Benutzer eine andere Aufgabenstellung, zum Beispiel Grenzwerte, so wird ein völlig neuer Zweig aufgebaut. In diesem Fall erfolgt beispielsweise zusätzlich die Einbindung einer Datenbank mit Informationen über die entsprechenden Stoffe.

Bei jeder der vorgesehenen Aufgabenstellungen sollen dem User am Ende der Konsultation alle zu seinem speziellen Problem gehörenden und von ihm gewünschten Informationen geliefert werden. Die Gefahr, wichtige Informationen zu vernächlässigen, ist somit quasi ausgeschaltet.

In dem vorliegenden Demo-Modell ist selbstverständlich noch nicht das vollständige Umweltrecht enthalten. Es wird noch ein hoher Aufwand erforderlich sein, um alle Informationen einzubauen, die Datenbank zu erstellen oder zu ergänzen.

Das Umweltschutzsystem wird voraussichtlich an vielen verschiedenen Orten, aber nur an wenigen Stunden pro Tag benutzt. Aus diesem Grunde ist es wünschenswert, daß die Software auf schon vorhandener Hardware ablauffähig ist, da die Zusatzinvestitionen für spezielle Rechner oft nicht getätigt werden können. Mit spezieller Hardware sind hier die Workstations gemeint, die im Hinblick auf den optimalen Einsatz der Programmiersprache Lisp in den Bereichen Künstliche Intelligenz und Expertensysteme entwickelt worden sind.

Sollen die auf den Workstations gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Werkzeugs entwickelten Expertensysteme auf konventioneller Hardware laufen, dann ist mit größeren Portierungsschwierigkeiten zu rechnen.

Fest steht, daß es von elementarer Wichtigkeit ist, die Systeme hinsichtlich ihrer Benutzerschnittstelle auf die Usergruppen zuzuschneiden. Die Handhabbarkeit muß schnell zu erlernen sein. Die Möglichkeit der Fehlbedienung beim Anwender hat nahezu "gleich Null" zu sein.

Welche Möglichkeiten bestehen, die oben genannte Aufgabenstellung mit konventioneller EDV ZU lösen? Folgende drei Punkte sind anzuführen: Ausgehend von Antworten auf allgemeine Fragen verzweigt sich der von dem Programm zu durchlaufende Baum mehr und mehr. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, daß die Verästelung nach einigen Antworten so stark ist, daß bei der konventionellen DV die Effizienz und der Überblick verloren gehen.

Weiter ist zu berücksichtigen, daß während der Programmentwicklung immer wieder neue Lösungspfade hinzukommmen und die bestehenden verändert werden müssen. Mit der Expertensystemtechnik ist es verhältnismäßig einfach, diese Modifikationen durchzuführen. Die Werkzeuge unterstützten den Knowledge- Engineer nicht nur bei der Suche nach syntaktischen Fehlern sondern durch die Erklärungskomponente auch bei der Suche nach logischen Fehlern.

Bei dem anstehenden Problem haben sprachliche Formulierungen einen sehr hohen Stellenwert. So möchte der Benutzer zum Beispiel Informationen über die Störfallverordnung. Die auf Lisp und Prolog aufbauenden Werkzeuge sind sehr geeignet, auf solchen sprachlichen Elementen zu operieren. Mit Programmiersprachen wie Fortran und Algol wären solche Informationen wesentlich schwieriger zu verarbeiten. Die Stärken dieser Sprachen liegen bei den numerischen Rechnungen.

Es hat sich gezeigt, daß im Umweltschutz Fragestellungen auftreten, die mit der Expertensystemtechnik besser oder nur mit ihrer Hilfe angegangen werden können. Ohne Zweifel lassen sich jedoch andere Softwaremethoden sehr effektiv für bestimmte Teilbereiche einsetzen. Hier ist beispielsweise die Datenbank zu nennen. Die Expertensystemtechnik soll nicht andere Verfahren verdrängen, sondern zusätzlich eingesetzt werden für Probleme, die bisher kaum angegangen wurden.

* Margret Hälker ist Mitarbeiterin in der Expertensystemgruppe der Siemens AG, München.